Linie 218
Linie 218
Es regnet seit Tagen. Das Blau des Himmels wird von einheitsgrauen Wolken verdeckt. Die Stimmung in der Stadt wechselt von gedrückt zu feindselig. Er kann das beurteilen, schließlich verbringt er die meiste Zeit des Tages mit den Menschen hier. Immer auf dem gleichen Weg. Rudewitzer Damm bis Endstation Fahrnholm. Linie 218. Sechsundneunzig Minuten. Achtundvierzig Minuten hin und achtundvierzig Minuten zurück, fünf Mal am Tag. Er bringt die Menschen morgens zur Arbeit in die Industrieanlagen in Fahrnholm und nachmittags die Ersten wieder zurück.
Die Linie 218 ist bei seinen Kollegen nicht beliebt. Die Strecke Rudewitzer Damm – Fahrnholm zieht sich durch die tristen Ausläufer der Stadt. In den betongrauen Mietskasernen leben Menschen, die sich die Mieten im Zentrum nicht leisten können. Die Schichten um Schichten in den Industrieanlagen abreißen und trotzdem nicht viel zum Leben haben.
Die Fahrer sollten eigentlich in bestimmen Abständen die Linien wechseln um eine Routine zu vermeiden. Er fährt die 218 jetzt seit drei Jahren.
An der Endhaltestelle Fahrnholm liegt ein kleiner Blumenladen, er wird ihr heute Blumen kaufen. Gelbe Chrysanthemen. Gelb wie das Kleid, dass sie bei ihrer ersten Begegnung im Sommer trug als sie am Rudewitzer Damm einstieg. Sie war ihm gleich aufgefallen, weil sie nicht so ganz hierher zu passen schien. Von da an fuhr sie montags bis freitags vom Damm die halbe Strecke, bis sie direkt an der Haltestelle Rieckener Straße in der Nummer Zwölf verschwand und kurz darauf am Fenster im ersten Stock links erschien. Gelbe Chrysanthemen würden ihr bestimmt gefallen.
Natürlich hatte sie sich gefreut. Das konnte er sehen, als ihn der Strauß Blumen am nächsten Tag von der Fensterbank anstrahlte. Ein Zeichen nur für ihn.
Seit ein paar Wochen fährt sie nicht mehr mit der 218. Sie arbeitet auch nicht mehr in dem kleinen Hutladen hinter dem Damm, sondern in dem neuen Supermarkt in der Nähe ihrer Wohnung. Die schönen Kleider hat sie gegen eine uniformartige Bluse, auf der das Logo des Marktes aufgestickt ist, tauschen müssen. Wenn man genauer hinsieht, kann man erkennen, dass sich der zufriedene Ausdruck in ihrem Gesicht etwas verfinstert hat. Natürlich hat er diese Veränderung bemerkt und daher überlegt er seit Tagen wie er sie wieder aufmuntern kann. Er möchte ihr ein Geschenk machen und hatte zuerst an Schmuck gedacht, diese Idee dann aber wieder verworfen. Noch nie hatte er vorher einer Frau Unterwäsche gekauft, doch diese Art von Geschenk erscheint ihm nur logisch. Sie soll etwas von ihm bekommen, worin sie sich wieder schön fühlen würde. Etwas nervös betritt er das Kaufhaus in der Perlstraße. Nachdem er der hilfsbereiten Verkäuferin ihren Körper genau beschrieben hat, ist es aber gar nicht mehr sonderlich schwer. Er nimmt sich viel Zeit die ganze Auswahl zu betrachten. Nach fast einer Stunde lässt er die schwarze Spitzenunterwäsche gegen Aufpreis in eine mit Papier ausgeschlagene Schachtel packen und stellte sich dabei ihr Gesicht vor wie sie mit Vorfreude an der roten Schleife ziehen würde.
Das Grau des Himmels verzieht sich langsam und die immer öfter durchscheinende Sonne scheint die Menschen wieder zu beruhigen. Er weiß, dass sich die Cafés im Zentrum wieder zu füllen beginnen. Morgen ist sein freier Tag und sie arbeitet die Woche die Frühschicht. Er könnte sie von der Arbeit abholen und gemeinsam könnten sie mit der 218 zurück zum Rudewitzer Damm fahren und von dort aus mit der 32 ins Stadtzentrum. Sie könnten den Abend in einem dieser Cafés verbringen. Das mit dem Abholen ist vielleicht keine gute Idee. Wahrscheinlich will sie nach der Arbeit erst nach Hause um sich umzuziehen und frisch zu machen. Besser wäre es, sich direkt im Café zu verabreden.
Er hat das Café Helene am Gatower Platz ausgesucht, weil er die vergoldeten Stühle und die schweren Vorhänge, die die Stimmen dämpfen, dem wenig einladenden Stil der neuen Cafés, die immer beliebter zu werden scheinen, vorzieht.
Als ihn die Bedienung schon zum zweiten Mal fragt, was er trinken wolle, bestellt er sich ein Glas Mineralwasser. Wenn sie die 218 an der Haltestelle vor ihrer Wohnung um 17.02 Uhr genommen hat, war sie um 17.26 Uhr am Rudewitzer Damm angekommen und konnte bequem in die 32 umsteigen, die den Busbahnhof im Zentrum nach zwanzig Minuten erreicht. Zum Café Helene wären es dann nur noch ein paar Minuten zu Fuß. Die Anzeige seiner Armbanduhr springt gerade auf 18.24 Uhr.
War es möglich, dass sie die Karte im Briefkasten nicht gefunden hat? Um 18.37 Uhr ist er sich sicher, dass sie nicht mehr kommen würde. Vielleicht hat sie sich nach der Arbeit noch kurz hinlegen wollen. Er sieht ihr Bett mit dem gewundenen Metallgestell und die Bettwäsche mit den kleinen Blumen vor sich. Das Schlafzimmer liegt der Wohnungstür gegenüber. Genau sieben Schritte davon entfernt. Links daneben liegt die kleine Küche. Die wenigen Utensilien verteilen sich in drei baugleiche Schränke. Am Küchentisch stehen sich zwei Stühle gegenüber. Das lockere Stuhlbein des einen hat er schon bei seinem ersten Besuch festgezogen. Das fensterlose Bad mit den unmodernen Fliesen liegt auf der anderen Seite des Flurs. Ob ihr etwas zugestoßen ist? Er beeilt sich die 32 zum Rudewitzer Platz zu erwischen und nickt beim Umsteigen dem Kollegen in der 218 kurz zu. Als er an ihrer Wohnung aussteigt, sieht er sofort, dass kein Licht brennt. Vielleicht hat sie nach der Arbeit noch etwas mit einer Kollegin unternommen. Bisher ist das jedoch noch nie vorgekommen. In vierundzwanzig Minuten würde die Linie 218 am Fahrnholm drehen und nach der gleichen Zeit wieder hier halten. Danach würde die Nachtschicht übernehmen und die Strecke nur noch im zweistündigen Takt befahren. Er beschließt noch etwas zu warten, sie würde sicherlich bald nach Hause kommen. Nach vierundvierzig Minuten sieht er ein Auto vor dem Haus halten. Ein Mann steigt aus und geht um das Auto herum um die Beifahrertür zu öffnen. Das gelbe Kleid unter dem Mantel erkennt er sofort. Er kann nicht genau verstehen, was ihr der Mann zuruft, als er sich wieder in das Auto setzt. Er kann aber ihr Lachen hören. Die 218 erscheint pünktlich nach achtundvierzig Minuten in seinem Blickfeld. Außer ihm steht niemand an der Haltestelle und so tritt er einen Schritt zur Seite, um dem Fahrer zu signalisieren, dass er nicht einsteigen will.
Das Schloss der Haustür ist schon seit Wochen kaputt. Er hört ihre Wohnungstür zufallen, als er sich in den Hausgang schiebt. Sie hatte Musik aufgelegt, die gedämpft aus ihrer Wohnung zu hören war. -Every breathe you take- Er hatte ihr schon vor einer Weile sagen wollen, dass es keine gute Idee ist den Zweitschlüssel auf den Türrahmen zu legen. – and every move you make -. Scheinbar hat sie es selbst eingesehen, denn der Schlüssel lag nicht mehr an seinem Platz. – every bond you break - Er konnte nicht verstehen, warum sie ihn so behandelte, obwohl er sich die letzten Wochen so viel Mühe gegeben hatte - every step you take, I’ll be watching you…
Seit er die Linie 218 übernommen hat regnet es die meiste Zeit. Er hatte genau wie alle seiner Kollegen gehofft, dass ihm diese triste Strecke nicht zugeteilt werden würde. Wegen dem schlechtem Wetter bleiben heute die meisten Menschen in ihren Wohnungen und so kommt er vier Minuten vor der planmäßigen Zeit an der Endhaltestelle Farnholm an. Vier Minuten reichen für eine Zigarette, als er aus dem Bus steigt ist es genau zwölf Uhr und die Radionachrichten beginnen.
Am Nachmittag des 24. März wurde die Leiche der 27-jährigen Nicole H. in ihrer Wohnung gefunden. Arbeitskollegen alarmierten die Polizei, nachdem die Kassiererin nicht zur Arbeit erschienen war. Gegen den 34-jährigen Busfahrer Richard L. wurde Anklage wegen Mordes erhoben. Ihm wird außerdem vorgeworfen sein Opfer monatelang verfolgt und belästigt zu haben, bevor er in der Nacht des 23. März in ihre Wohnung eindrang und die junge Frau mit mehreren Messerstichen tötete.