Linie 16
Bis zur Endstation im City Center war es nicht mehr weit. Es war Samstagvormittag und der Bus war voll mit Menschen auf dem Weg zu ihren Einkäufen. Die Linie 16 operierte zwischen Partick Bahnhof und der Innenstadt von Glasgow.
Partick. Arbeiterviertel, Studentenviertel, Villenviertel. Partick war alles drei aber zunächst und vor allem gehörte Partick den Arbeitern. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts Heimat der Werftarbeiter. Auf der Nordseite des Clyde, Govan gegenüber. Es war eine harte Gegend. Der Ton war rauer als in anderen Stadtteilen. Der Himmel immer ein wenig grauer und die Straßen schmutziger. Hier trieb der Wind leere Chipstüten und Getränkedosen über die Gehsteige. Hier tropfte der Regen in die aufgestellten Kragen der zu dünnen Jacken und spülte den Dreck die Rinnsteine entlang. Geflucht und geatmet wurde in derselben Häufigkeit.
Marjorie und Graham Bell wollten an diesem Samstag neue Bettwäsche kaufen. In guter Qualität bekam man sie in Partick nur schwer. Marjorie mochte die gelegentlichen Ausflüge in die Innenstadt. Sie mochte die bunte Werbewelt, die Musik an den Straßenecken, die vielen jungen Menschen. Und sie mochte Rüschen an den Kopfkissen. Als Marjorie nach Partick gekommen war, hatte sie kaum ein Wort Englisch gesprochen. Marjorie war auf Lewis aufgewachsen, in einer eng gestrickten Dorfgemeinschaft, in der die Menschen vor der harten Einsamkeit der Hebriden Schutz suchten. Marjorie hatte die kargen Jahre nach dem Krieg noch in Erinnerung. Die Schmerzen, die vom Hunger kommen. Die Kälte im Haus, weil kein Geld zu heizen da war. Graham war ihre Chance zur Flucht gewesen. Sie hatte sie schnell ergriffen und sie hatte sie nie bereut. Graham hatte ihre Sprache verstanden. In Partick wurde oft Gälisch gesprochen. Das machte es ihr leicht, sich einzugewöhnen in das Stadtleben, den Lärm, den Schmutz. In das beengte Wohnen. Aber sie hatten immer zu essen, selten musste sie frieren. Bald kamen die Kinder. Marjorie gebar fünf. Ihre jüngste Tochter starb eine Woche nach der Geburt. Es waren alles gute Kinder geworden und alle hatte Schottland früh verlassen. Die beiden ältesten Söhne hatten Arbeit in London. Sarah lebte mit ihrer Familie und ihrem Mann in Limerick. Jane hatte einen Norweger geheiratet, der nach seinem Arbeitseinsatz auf den Bohrinseln an der Ostküste wieder in seine Heimat zurückgekehrt war. Jane war mit ihm gegangen.
Marjorie stand umständlich von der Bank der Bushaltestelle auf. Sie griff ihre kleine blaue Handtasche fester und ließ sich von Graham im Bus die Stufen hinaufhelfen. Sie hatte diese bohrende Angst, dass der Bus wieder losfahren würde obwohl sie noch nicht saß. Das ließ ihre Bewegungen hektisch werden. Ihre Augen schauten sich unruhig um, ihr Herz klopfte. Sie hatte Angst zu fallen, weil der Bus losfuhr. Auf jemanden zu fallen. Sich den Kopf aufzuschlagen. Graham führte sie ruhig im oberen Teil des Busses ganz nach vorne, damit sie bei der Fahrt auch alles sehen konnte. Marjorie setzte sich erleichtert. Über den Außenspiegel konnte sie hinunter zum Busfahrer sehen. Es war der kleine magere Mann, der immer so freundlich grüßte. Er trug seine langen Haare im Zopf nach hinten genommen. Hätte sie ihn beim einsteigen gesehen, dann wäre sie nicht nervös geworden. Er war der Busfahrer, der immer wartete, bis alle Passagiere saßen, bevor er losfuhr. Sie war sich sicher, dass er auch aus Partick war.
Patrick McAuley war froh, dass er diese Woche mit der 16 in der normalen Schicht unterwegs war. Letzte Woche hatten sie ihn in die Tour mit der Nr. 9 nach Drumchapel gesteckt. Eine Strecke, die niemand mochte. Vor ein paar Monaten hatten sich hinten in der 9 zwei Frauen geprügelt. Er hatte über die Zentrale die Polizei rufen müssen. Die waren in kürzester Zeit da gewesen, hatten den Bus geräumt und die beiden hysterischen Weiber verhaftet. Patrick hatte keine Ahnung worum es in dem Streit gegangen war. Er erinnerte sich aber noch genau an den Mann, leicht untersetzt, Mitte 40, der danach zu ihm nach vorne gekommen war und sich bei ihm bedankt hatte. Das hatte Patrick leicht verwirrt, er hatte doch gar nichts gemacht. Später wurde klar, der Mann war der Ehemann einer der Frauen und ganz offensichtlich erleichtert über die Tatsache, dass seine Frau erst mal weg war. So war das eben in Drumchapel. Einem der vier großen Stadtteile, die nach dem Krieg vom massiven sozialen Wohnungsbau zu dem gemacht wurden, was sie heute waren. Problembezirke.
Drogen und Gewalt - viel mehr gab es über Drumchapel nicht zu sagen – man war froh, wenn man wieder draußen war. Patrick hatte später gehört, dass die Frau drei Tage lang gesessen hatte, bevor die Polizei sie wieder nach Hause gelassen hatte. Dann war sie wohl nicht das erste Mal auffällig geworden. Nach der Woche auf der 9 war es ganz angenehm, mal wieder zu Hause unterwegs zu sein und die 16 zu fahren. Er warf einen Blick in den inneren Spiegel. Alles ruhig. Ein paar große Füße in schwarzen Schuhen an dunklen Hosenbeinen kamen vorsichtig aber bestimmt die Treppe herunter.
„Verdammte Scheiße!“ dachte sich Matin Boyce. Er hatte einfach nur so dagesessen und die Wange an die kühle Scheibe gehalten. Draußen regnete es und er hatte überhaupt keine Lust zur Arbeit zu gehen. Alle Welt machte Einkäufe oder ging ins Pub. Nur er hatte Dienst. Beschissenes Leben das bei der Polizei. Er war schon spät dran und sollte besser nicht noch einmal zu spät zum Dienst im Revier erscheinen. Dann würde er richtig Ärger kriegen, so viel war sicher. Und jetzt die Bescherung da vor ihm. Er saß direkt hinter einem alten Ehepaar. Der Mann saß am Fenster, die Frau links neben ihm. Er konnte ihr von hinten seitlich auf das Gesicht sehen und eines war ihm sofort klar. Diese Frau atmete nicht mehr. Diese Frau blinzelte nicht mehr. Die Frau vor ihm war tot und er war ohnehin schon spät dran. Er sah sich um, keiner hatte es bemerkt. Er würde sich also dumm stellen können. Selbst der Alte neben ihr starrte unverwandt nach vorne auf die Straße. Mit einem tiefen Seufzer stand Boyce auf und ging nach unten zum Busfahrer. Das schnellste war ihn über die Zentrale die Kollegen kommen zu lassen und den Rest bis zum Revier zu Fuß zu gehen. Mit der leichten Sportjacke über dem Uniformhemd würde er vielleicht als Zivilist durchgehen und könnte sich schnell verkrümeln. Er durfte nur nicht sagen, dass die Frau bereits tot war. Das durfte er auf gar keinen Fall sagen, denn dann müsste er bleiben. Boyce ging nach unten und sprach den Busfahrer an.
„Entschuldigen sie…..!“ sagte Boyce nicht besonders laut.
Patrick McAuley tat so als hätte er es nicht gehört. Er hatte natürlich gleich gesehen, was der Typ für ein Hemd unter der Jacke trug. Bullen würde er nur zuhören, wenn man ihm keine andere Wahl ließ
„Hallo, Busfahrer. Hören sie, da oben geht es einer Frau nicht gut.“ kommandierte Boyce nun deutlich lauter.
„Was?“ fragte Patrick ohne sich umzudrehen, die Augen weiterhin auf dem zähen Verkehr.
„Da oben hat eine Frau Probleme, ich glaube die braucht einen Krankenwagen. Sie sollten anhalten. Es geht ihr wirklich nicht gut.“ wiederholte Boyce.
Patrick fuhr links ran, drückte auf den Warnblinker und stieg aus seiner Fahrerkabine aus. Mit schnellen leichten Schritten ging er nach oben. Es sah schon von weitem, dass die Frau tot war als er den Gang nach vorne ging. Es war einfach zu offensichtlich. Ihr Mann bewegte sich auch nicht aber der Unterschied zwischen Tod und Leben war einfach nicht zu übersehen. Der Mann saß einfach nur starr.
„Das muss doch selbst dem blöden Bullen aufgefallen sein“ knurrte er in sich hinein. „Verdammter Egoist. Hat sich einfach verpisst“
Boyce ging gerade durch die Eingangstür der Polizeistation als er hinter sich den Krankenwagen Richtung Bus fahren hörte. „Na bitte.“ sagte er sich selbstzufrieden und vergaß den Vorfall so schnell wie man brauchte, eine Tasse Kaffee zu trinken.
Von der letzten Bank beobachteten zwei Mittvierzigerinnen den Busfahrer ganz genau. Sie begannen sie Situation zu begreifen und würden um nichts in der Welt ihren Beobachtungsplatz aufgeben. Ein Teenager in der Reihe vor ihnen schlief. Sonst war niemand mehr im oberen Teil des Busses. Die Meisten waren an der letzten Haltestelle ausgestiegen.
„Ich bin gleich wieder da.“ sagte Patrick McAuley zu wem auch immer und ging schnell aber ohne Hektik nach unten um die Zentrale zu rufen. Dann erklärte er den Fahrgästen im unteren Teil des Busses was los war. Natürlich ohne zu erwähnen, dass die Frau tot war. In manchen Gesichtern konnte er Mitgefühl erkennen, in vielen aber auch Ärger.
„Und wie soll ich nun rechtzeitig in die Innenstadt kommen?“ meckerte eine aufgemotzte Brünette mit tief ausgeschnittenem Pullover.
Der Egoismus der Leute ging Patrick tierisch auf die Nerven. Er war froh, dass die Sanitäter und die Polizei schnell eintrafen, den Bus außer Betrieb setzten und die Fahrgäste hinauskomplimentierten während oben die tote Frau auf die Bahre geschnallt und von den Sanitätern die schmalen Treppen herunter gewuchtet wurde.
Graham Bell saß da und dachte an die Bettwäsche, die er nun nicht mehr kaufen würde. An die Maße. Die Farbe. Ein dunkles rot sollte es sein hatte Marjorie gesagt. Burgunder. Mit einem schönen Blumenmuster. Mit Rüschen. Darauf hatte sie Wert gelegt. Die Kissen sollten unbedingt Rüschen haben. Wie sollte er künftig Bettwäschen ohne sie finden? Wie jemals wieder in ihr altes Bett zurück kehren? Die Wäsche mit der das Bett jetzt bezogen war waschen und damit ihrem Geruch für immer auslöschen? Er würde einfach sitzen bleiben. Wenn er sich nicht rührte, dann würde der Bus vielleicht nie an der Endstation ankommen.