Lindenblüte-Rhabarber
Eine viel zu lange Weile hing mein Blick an seinem Lächeln. Es war schwer sich davon zu lösen und es war ansteckend. So standen wir also eine Zeit lang da: stumm und lächelnd, und ich vergaß für einen Moment den Lärm und die Menschenmassen um uns herum.
Er nahm meine Hand und wir schlenderten über den überfüllten Platz, durch die engen Gassen, vorbei an den kleinen, alten Häusern.
Immer wieder hielten wir inne und bewunderten die liebevoll mit Blumen geschmückten Balkone und die bunten Innenhöfe. Kinder spielten auf den Straßen. Sie wirkten dabei so unbesorgt und furchtlos, dass ich mich an meine eigene Kindheit zurück erinnerte. Alles wirkte so vertraut aber auch so unwirklich, in diesem fremden Dorf. Es schien wie in einem Film oder Roman, in dem wir die Hauptrollen spielten.
Plötzlich zog mir ein Gemisch von verschiedensten Düften in die Nase. Am Ende der Straße, an der Ecke, fanden wir einen winzigen Öl- und Seifenladen. Wir traten ein. Das Geschäft war leer. Ich griff in das Körbchen, das auf der Theke stand und hielt ihm ein Stück von der violetten Seife unter die Nase. Er verzog das Gesicht und wendete sich von mir ab. Ich las das Etikett: Lindenblüte-Rhabarber. Was hatte er an Lindenblüte und Rhabarber auszusetzen? Ich kam nicht dazu, ihn zu fragen. Er wartete draußen auf mich.
Auf dem Boden kniend hielt er einer streunenden Katze, die auf einer Treppenstufe saß, seine Hand hin. Das Tier ließ sich von ihm streicheln. Ich konnte erkennen, dass er das Gefühl, durch das weiche Katzenfell zu streichen, genoss. Dann kniete ich mich auch hin, worauf das Kätzchen erschrak und weg rannte, bis es schließlich auf die schon etwas zerfallene Stadtmauer sprang und verschwand. Sein vorwurfsvoller Blick machte mich ein wenig verlegen...
Nach einem langen Spaziergang durch den Park entdeckte ich eine Eisdiele. Ich schaute ihn an und zeigte auf das Café. Er nickte. Ich machte mich also auf den Weg und bestellte für mich eine Kugel Erdbeere und für ihn eine Kugel Stracciatella. Im Laden redeten die Leute laut und aufgebracht durcheinander. Ich hätte gern gewusst weshalb sie stritten, doch mein Spanisch war nicht gut genug.
Als ich ihm sein Eis brachte, stand er an einem Aussichtspunkt. Der Ausblick war wunderschön. Man konnte über die ziegelroten Dächer, bis hinten zu den Bergen schauen. Er hatte die Augen geschlossen und ein leichter Windzug fuhr ihm durch die Haare. Ich konnte ihm die innere Ruhe ansehen.
Er lächelte zufrieden, als er sein Eis entgegen nahm. Es schmeckte ihm.
Ich wusste, dass ich die richtige Sorte ausgewählt hatte. Ich wusste auch von seiner Schwäche für Liebesfilme, allerdings konnte er dies bisher noch nie wirklich zugegeben. Ich wusste so gut wie alles über ihn, obwohl wir uns zu diesem Zeitpunkt erst seit zwei Monaten kannten.
Aber eine Sache, die mich komischerweise schon die ganze Zeit beschäftigte, war mir noch unklar: „Wieso nicht Lindenblüte-Rhabarber?“, fragte ich. „Ich dachte, ich liege richtig, aber du hast das Gesicht verzogen..“
Begriff er, was ich meinte? Konnte er mir folgen?
Meine Hände taten mir weh. Es war so ungewohnt und ich kam mir wie immer ein wenig lächerlich vor.
Er schaute mich amüsiert an und legte sein typisches Grinsen auf.
Mit einer Mischung aus hektischen Handbewegungen und seiner sich verändernden Mimik versuchte er zu erklären. Ich schaute ihn verwirrt an, worauf er seine hastigen Bewegungen diesmal etwas langsamer wiederholte. Mehrmals.
Am Ende lachten wir beide.
Ich weiß bis heute nicht, ob wir uns damals richtig verstanden hatten.
Ich beherrschte die Gebärdensprache noch nicht so gut.