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Lina
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Schließlich waren sie ganz verschwunden, und zu sehen war nur noch der Umriss der riesigen, halbmondförmigen Ausfahrt der schwachbeleuchteten Bahnhofshalle.
Der Mann ließ die halbgerauchte Zigarette zu Boden fallen und trat die Glut mit der Schuhspitze aus. Er schlug den Mantelkragen seines Trenchcoats hoch. Es lag nicht nur am eisigen Wind, der über den Bahnsteig pfiff, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er war traurig und fühlte sich doch eigenartig befreit.
Während er die Treppen am Ausgang des Bahnhofes hinunterging, suchte seine Hand jenen Fetzen Papier in der Manteltasche, den er im Hotel vom Nachtportier erhalten hatte.
Taufrisch waren seine Erinnerungen an jene erste Begegnung...
...eine quicklebendige junge Frau mit langem blondem Zopf, der ihr auf den Rücken hinunterfiel, strich mit wachen Augen durch die Bücherregale seiner Bibliothek. Sie trug einen kurzen roten Faltenrock, so kariert wie er sie schon mal in einem Bericht über Schottland gesehen hatte. Ihre geraden langen Beine mit den schwarzen Strümpfen zogen seinen Blick magisch an. Sie endeten in kniehohen schwarzen Lederstiefeln. Dazu trug sie eine warme schwarze Lederjacke, die das Bild abrundete.
Es war absolut ungewöhnlich, dass er ihr immer wieder hinterher spähte. Ja, dass sie ihm überhaupt auffiel, überraschte ihn.
Er versuchte, sich mit wichtigeren Dingen zu befassen, sortierte die Neulieferungen und hakte sie auf dem Lieferschein sorgfältig ab. Aber es nützte nichts. Kaum blinkte nur ein Fitzelchen ihres roten Schottenrocks um die Ecke, hob er den Blick und hoffte, sie würde gleich vollends sichtbar.
Seine Augen klebten förmlich an dem dicken blonden Zopf, der fülliges, wallendes Haar versprach, wenn man ihn öffnen würde.
Wieder schüttelte er den Kopf. Was war denn nur heute los mit ihm?
“Entschuldigen Sie”, hörte er, über die Papiere gebeugt, eine angenehme Frauenstimme fragen.
Er hob den Blick und sah in das wohl schönste blaue Augenpaar, das ihm je begegnet war.
“Ja, bitte?” fragte er heiser zurück. Sein Herz schlug fühlbar schneller, und er spürte Verlegenheit in sich aufsteigen gemischt mit etwas schlechtem Gewissen, weil er ihr die ganze Zeit nachgeschaut hatte. Ob sie etwas bemerkt hatte?
Die Frau mit dem Schottenrock sah ihn offen mit ihren blauen Augen an. Kleine Sterne schienen in dem Blau zu funkeln. Ohne Scheu und sehr direkt, jedoch ohne animierend zu wirken, blickte sie ihn fragend an. Dieser Blick fuhr ihm über die Augen hinein in seinen Körper und traf ihn mitten ins. Herz. Es breitete sich eine unbekannte Wärme in ihm aus und sein Herz flog dieser Unbekannten entgegen.
“Bitte, könnten Sie mir sagen, wo ich Khalil Gibrans Bücher bei Ihnen finde?” fragte sie und schien ungeduldig.
“Ja, ich... kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.”
Er schritt voran und sein Kopf arbeitete fieberhaft, denn ihm war gerade in diesem Moment entfallen, wo die Werke Gibrans sich befanden. Während er suchend durch die Regalgänge schritt, fiel es ihm wieder ein und so steuerte er zielsicher darauf zu.
“Sehen Sie, hier!”
“Danke.”
Die junge Frau sah ihn erstaunt an und lächelte amüsiert. Eine Reihe strahlend weißer und ebenmäßiger Zähne wurde sichtbar, als ihre ungeschminkten Lippen sich beim Lächeln öffneten.
Sie sieht aus, wie eine Göttin, fuhr es ihm durch den Kopf.
“Interessieren Sie sich für Dichtkunst ganz allgemein oder ausschließlich für arabische Dichter?” wollte er wissen, bestrebt, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
“Ich liebe alle Gedichte, die tief ins Herz gehen und Weisheit beinhalten. Gerade die arabischen Dichter verstehen es besonders gut, mit ihren Worten unsere Seelen zu streicheln und unsere Herzen zur Liebe zu erwecken. Die Einsichten, die sie vermitteln, sind weise und klug”, antwortete sie.
Ihre Stimme klang wie Gesang in seinen Ohren.
“Genau, das denke ich auch. Und Khalil Gibran ist mein Lieblingsdichter. Kein anderer hat wie er verstanden, unsere Sehnsüchte einzufangen und dabei der Realität in seinen Ansichten treu zu bleiben.”
Ihre Augen leuchteten begeistert, und sie nickte eifrig.
“Ja, genau so sehe ich das auch.”
Es entstand eine endlos scheinende Gesprächspause. Er unterdrückte den Wunsch, von einem Bein auf das andere zu treten, weil ihn eine unerklärliche Unruhe gepackt hatte. Weder fiel ihm etwas Gescheites ein, das er hätte sagen können, noch wollte er sang- und klanglos die Unterhaltung beenden.
Die junge blonde Frau schmunzelte und blickte ihn von unten her mit einem unwiderstehlichen Augenaufschlag an.
Na, was nun? Schien der Blick zu fragen. Was ist los?
“Ich... ich habe gleich Mittagspause”, stammelte er. “Würden Sie mit mir zum Essen gehen? Wir könnten einander Leseerfahrungen in Sachen Gedichtkunst austauschen.”
Was rede ich da für einen Blödsinn, fragte er sich im gleichen Moment, da er die Worte gesprochen hatte.
“Ja, gerne.”
Hatte er richtig gehört? Sie sagte tatsächlich ja? Er konnte es kaum fassen!
“Wirklich?” fragte er ungläubig und seine Gesichtshaut prickelte vor Hitze, weil er verlegen rot geworden war.
“Natürlich”, antwortete sie, als sei es die normalste Sache der Welt.
“Ja, dann... warten Sie einen Moment. Gleich ist es eins, ich schließe schnell zu.”
Er beeilte sich, die letzten beiden Kunden freundlich zu bedienen und hinaus zu komplimentieren. Dann ergriff er seinen Mantel und Schal vom Kleiderhaken und verließ mit ihr den Laden.
“Ich heiße übrigens Lina”, stellte sie sich vor und streckte ihm die Hand hin.
“Entschuldigen Sie, ich... mein Name ist Paul.”
Er ergriff die schöne schmale Frauenhand. Ihr Druck war fest und ehrlich. Es war ihm peinlich, dass er ganz vergessen hatte, sich vorzustellen.
“Hallo, Paul”
“Hallo, Lina.”
Paul gab Linas Hand wieder frei, als hätte er sich verbrannt.
Die Begegnung geschah mitten im Oktober. Es war schon eisig kalt, die Bäume trugen buntes Laub, am wolkenlos blauen Himmel strahlte die Sonne warm auf die Erde und alles was sich auf ihr bewegte.
Paul fühlte sich wie im Frühling. Unruhig, das Herz klopfte zum Zerspringen, die Beine kribbelten, als wollten sie bis an das Ende der Welt rennen und kalt war ihm nicht.
Sie betraten das kleine italienische Restaurant, in dem Paul öfters eine Mittagspause verbrachte. Das Personal kannte ihn gut. Paul dachte nicht einen Augenblick daran, dass er zum erstenmal in Begleitung - obendrein in Begleitung einer verdammt schönen Frau - zum Essen erschien. Ihm entgingen die hintergründig lächelnden Blicke der Kellner und das anerkennende Zwinkern des Inhabers, er hatte nur Augen für Lina.
Während des Essens verstrickten sich die beiden in eine angeregte Unterhaltung über die Dichtkunst in den verschiedenen Epochen der vergangenen drei Jahrhunderte. Schließlich landeten sie wieder bei den arabischen Dichtern und Philosophen.
Mitten in der Unterhaltung riss beiden plötzlich der Faden.
Paul schaute Lina in die Augen und sie lächelte. Ihre Hand streifte wie zufällig die seine und er zuckte erschrocken zurück.
“Ja, ich glaube... ich meine, wir sollten gehen”, schlug er rasch vor und winkte den Kellner heran.
“Wir haben gleich schon drei”, stellte Lina erschrocken fest.
Als sie sich vor der Türe verabschiedet hatte, blickte Paul ihr noch lange hinterher, obwohl sie gleich in der nächsten Seitenstraße verschwunden war. Erst als ein Passant, der es eilig hatte, seine Bahn zu erreichen, ihn beinahe umrannte, kam er wieder zu sich.
Was für eine eigenartige Begegnung, dachte er und ging lächelnd zurück zu seinem Buchladen.
Am Tag darauf wartete Paul gespannt darauf, ob Lina erneut auftauchen würde. Ja, er hoffte es insgeheim! Alle paar Minuten spähte er zur Tür, lauschte auf die kleinen Glöckchen, die den Eintritt eines Besuchers leise signalisierten.
Die gestrige Begegnung hatte ihn derart aufgewühlt, dass er die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Linas blaue Augen, ihre lebhafte, freundlich-warmherzige Art hatten ihn gefangen genommen.
Es sollten viele Stunden vergehen, bis sich seine Hoffnung wirklich erfüllte. Erst kurz vor Ladenschluss stand Lina plötzlich wie aus dem Nichts vor seiner Theke.
Paul war völlig erschrocken, denn mittlerweile hatte er nicht mehr an ihr Erscheinen geglaubt. Aber da stand sie! Schlank, hochgewachsen, das Haar in einem dicken Seitenzopf geflochten, in einer engen Jeans und einem dicken Shetlandpullover, eine Sportkappe kess auf dem Kopf tragend, und sie sah ihn mit einem hinreißenden Lächeln freundlich an.
“Hallo”, grüßte sie heiser und schlug die Augen nieder.
“Hallo, Lina.”
“Ich wollte eigentlich gar nicht mehr kommen”, meinte sie entschuldigend. “Ich hatte so viel zu erledigen, aber... “
”Mögen Sie einen Kaffee?” fragte er.
Sein Herz machte mit ihm, was es wollte. Er fühlte eine Lebendigkeit in sich, eine Leichtigkeit, die sofort bei ihrem Anblick einfach mit ihm passierte, ohne dass er sich dagegen zu wehren vermochte.
Pauls Frau würde heute warten müssen. Die Kinder würden ohne seinen Gutenachtkuss in ihre Betten gehen, denn Paul würde später nach Hause kommen. Das war ihm sofort klar. - Und sein Gewissen schwieg.
Er verschwand hinter dem Vorhang, der die Theke mit der Kasse von einer kleinen Teeküche trennte und kehrte mit zwei dampfenden Bechern Kaffee zurück.
“Ich nehme gern einen Kaffee, danke!” antwortete sie und stellte ihre Einkaufstaschen auf den Boden.
“Augenblick, bitte”, sagte er und griff zum Telefonhörer.
Lina beobachtete ihn. An diesem großen, ruhigen Mann faszinierte sie jede Bewegung. Alles an ihm war so harmonisch und gelassen. Sie mochte seine aufrechte Statur, die Stärke, die er ausstrahlte. Eigentlich erschien er so gar nicht wie ein Buchhändler. Vielleicht lag es an seinem sanften Innenleben, seinem Sinn für den Sinn dessen was er tat? In allem, was er sagte, lag tiefe Überzeugung. Und er liebte arabische Dichter.
Für Lina war allein das schon Schicksal, dass sie einem Mann begegnete, der ihre tiefe Liebe zur Dichtkunst teilte. Wo fand man das heute schon? Mit den Studenten ihres Alters konnte sie nichts anfangen. Alles unreife Joungster, die noch keinerlei Ahnung hatten, was sie vom Leben erwarteten oder das Leben von ihnen fordern würde. Sie lebten in den Tag hinein, mehr oder weniger auf ihr Studium konzentriert, doch ohne jede Ernsthaftigkeit.
Paul dagegen war für Lina ein “fertiger Mensch”. Nicht in Vollendung, weil die gab es ja nicht, sie war nur ein Ziel, aber ein Mensch, der wusste, was er wollte und erreicht hatte, was er sich wünschte.
“...ja, bis später, mein Schatz”, hörte Lina ihn sagen, als ihre Gedanken wieder in die Buchhandlung zurückkehrten.
Paul war verheiratet. Lina war das gar nicht aufgefallen.
“Sie sind verheiratet?” fragte sie und riss ihre großen blauen Augen weit auf.
“Ja”, antwortete Paul und räusperte sich verlegen.
Sie blickten sich eine Zeitlang schweigend an. Jeder schien im Blick des anderen lesen zu wollen.
Lina schaute nachdenklich in die langen Reihen der unzähligen Bücher und schlürfte den heißen Kaffee.
Paul suchte nach Worten. Er sortierte die Papiere, die auf der Kasse lagen.
“Ich bin allein”, sagte sie. “Sind Sie glücklich?”
Paul war unschlüssig, was er sagen sollte. Er war glücklich mit seiner Frau und den beiden Kindern. Seine Welt bestand aus einem schönen Heim mit der Familie und seiner Bibliothek, die er in fünfzehn Jahren aus eigener Kraft Stück für Stück aufgebaut hatte. Hier trafen sich die Studenten der Universität, um sich mit Literatur zu versorgen und bei einer Tasse Tee oder Kaffee mit Kommilitonen zu plaudern. Die in der Nähe liegenden Schulen orderten die Schulbücher bei ihm, die Geschäfte liefen gut.
Und eigentlich war alles in Ordnung. Das Leben meinte es gut mit ihm, und Paul hatte geglaubt, das ginge in dieser Regelmäßigkeit immer weiter.
Er sah Lina an und erkannte, dass sein Leben sich gerade vollkommen veränderte.
...Paul lehnte noch immer gedankenverloren an der Litfasssäule. Er spürte kaum, dass der Nieselregen seinen Mantel schon völlig durchweicht hatte. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und blickte starr auf die Leuchtreklame am Gebäude gegenüber...
...An dem Abend waren sie nicht zum Essen gegangen. Sie fanden sich in einer Hotelbar wieder, tranken köstlichen Bordeaux und philosophierten bis tief in die Nacht. Es schien wie selbstverständlich, dass er ein Doppelzimmer buchte und mit Lina im Lift nach oben fuhr.
Welch süße Nacht!
Lina war das anschmiegsamste, zärtlichste Wesen, das er je erlebt hatte. Ihre Haut hatte die Farbe von Milch mit dunklem Honig und war von einer Zartheit wie sie nur Babys sonst haben. Sie duftete herrlich und unbeschreiblich - einfach nach Lina. Kein Parfum der Welt konnte mit ihrem einzigartigen Geruch konkurrieren!
Sie deckte ihn zu mit ihrem langen, üppigen Haar und nie gekannten Zärtlichkeiten.
Es war eine Nacht grenzenloser Harmonie und Hingabe.
Erst am frühen Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Gardine am Fenster blinzelten, konnte Paul wieder klar denken! Er war fremdgegangen! Nichts war wie zuvor!
Lina streckte ihm ihre warmen, weichen Arme entgegen und drückte ihren schönen Körper an den seinen, und er vergaß für den Augenblick seine nagenden Gewissensbisse.
Das Frühstück wurde im Zimmer serviert. Sie alberten herum und genossen es. Die Welt mit all ihren Verpflichtungen war da draußen vor dem Fenster, vor den Mauern des Hotels. Hier drinnen jedoch waren nur sie beide.
Lina ging nach dem Frühstück zur Uni, Paul zahlte das Zimmer und ging zur Bibliothek. Obwohl er kaum geschlafen hatte, fühlte er sich nicht müde. Ganz im Gegenteil empfand er eine längst vergessene Leichtigkeit. Tief atmete er die frische Oktoberluft ein. Waren die Blätter heute morgen nicht viel bunter als gestern? Das Blau des Himmels erschien ihm strahlender denn je!
Schwungvoll öffnete er die Türe zur Bücherei, trat ein und schloss hinter sich wieder ab. Er warf den Mantel auf das alte Plüschsofa und wollte sich einen Kaffee kochen, als jemand an die Eingangstüre klopfte.
Er sah durch den Vorhang hinüber und erspähte Ulrike, seine Frau.
Unwillkürlich fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar und brachte es in Unordnung, bevor er zur Türe schritt und öffnete.
“Guten Morgen, mein Liebling”, sagte Ulrike, küsste Paul flüchtig auf die Wange und bugsierte ihren Korb an der Theke vorbei.
“Hallo, Schatz.”
“Du siehst grauenvoll aus”, kritisierte sie stirnrunzelnd und mit einem Blick auf das Sofa: “Wie kannst du nur auf diesem Ding schlafen? Und dann nur mit dem Mantel zugedeckt, ts ts ts!”
Ulrike ging zum Sofa, nahm den Mantel an sich und brachte ihn zum Kleiderständer.
“Ich habe die Kinder in die Schule gefahren und uns beiden Kaffee mitgebracht. Magst du ein Croissant?”
Paul staunte, dass Ulrike offensichtlich kein bisschen misstrauisch zu sein schien. Er beobachtete, wie sie Kaffee aus der Thermoskanne in zwei Becher füllte und die Tüte mit dem Gebäck öffnete.
“Und? Welche Lektüre hat dich diesmal so gefesselt, dass... “
”... ich bin drüber eingeschlafen”, fiel er ihr ins Wort.
“Eben, mein Schatz. Ist ja nicht das erste Mal”, sagte sie lächelnd und zwinkerte ihm zu.
“Schlimmer noch”, hörte er sich sagen, “ich habe mit einer Studentin diskutiert, philosophiert und die Zeit vergessen. Als sie weg war, mußte ich das eine oder andere noch nachschlagen und darüber bin ich eingeschlafen.”
Paul suchte in Ulrikes Augen nach einer Spur von Argwohn.
“Arabische Dichter?” fragte sie und biss herzhaft in ihr Croissant.
“Arabische Dichter”, bestätigte Paul.
“Lass es dir nur nicht zur Gewohnheit werden. Die Kinder haben dich vermisst”, meinte Ulrike leichthin.
“Nein, bestimmt nicht.”
“So, mein Liebling, ich muss los. Sonst kommen die Kinder nach Hause und das Essen ist noch nicht fertig”, sagte sie und griff nach dem Korb. “Bring mal dein Haar in Ordnung und nimm eine Ladung kaltes Wasser, damit du frischer wirkst. Und bitte, komm heute Abend nicht so spät. Wir haben Gäste. Ciao, mein Schatz!”
Paul schloss die Türe hinter Ulrike und atmete erleichtert auf.
...Paul lehnte in Erinnerungen versunken an der Litfasssäule rauchte eine Zigarette nach der anderen und ignorierte die Kühle, die ihm durch den Mantel in den Körper kroch. Er schaute andauernd in die gleiche Richtung ohne wirklich etwas zu sehen.
Die Geschichte ging eine ganze Weile lang so weiter...
Aus Spielfilmen kannte er Szenen, da eine Geliebte vom Geliebten verlangte, dass er sich von seiner Frau und Familie trennen sollte. Doch Lina stellte keine Ansprüche.
...”Ich kann dir nichts versprechen, Lina”, sagte er eines Abends beim Essen. “Ich meine, ich werde meine Familie nicht verlassen.”
Lina sah ihn mit ihren großen blauen Augen fragend an. Sie steckte sich genüsslich eine Kirsche von ihrem Eisbecher in den Mund.
“Ich will nicht, dass du mir irgendetwas versprichst, Paul. Dass du zu deiner Familie stehst, ist für mich in Ordnung, ich respektiere das.”
Paul war überrascht und war es wieder nicht. Lina dachte so ganz anders als alle Menschen, die er kannte oder zu kennen glaubte.
“Aber... du hast etwas Besseres verdient, als die Geliebte eines Mannes zu sein, mit dem zu keine Zukunft hast, Lina”, gab er zu bedenken.
Paul fühlte sich schlecht, weil er Lina nichts zu bieten hatte und weil er Ulrike vor einer Wahrheit schützte, indem er sie über sein wirkliches Tun im Ungewissen ließ. Dass er sie belog, schlichtweg betrog, wollte er so nicht formulieren.
“Verdienen? Was heißt das schon, Paul?” fragte Lina ernsthaft. “Und woher willst du wissen, was ich ‘verdiene’?”
Paul zuckte die Achseln.
“Wir haben jederzeit die Wahl.”
“Aber ich will dich nicht verletzen, Lina”, entgegnete Paul. “Ich würde darunter leiden, wenn du leiden musst. Ich fühle mich dafür verantwortlich.”
Lina schüttelte den Kopf, dass der Zopf auf ihrer Schulter wie eine Schlange zappelte.
“Glaube mir, die Verantwortung für mich, die trage ich ganz allein. Ich bin schließlich erwachsen, und ich habe mich mit dir eingelassen im vollen Bewusstsein, wie die Dinge liegen.”
“Ich kann aber nicht anders”, beharrte er und piekte fest in eine Kirsche. “Ich fühle mich eben verantwortlich.”
...Paul ging über den Bahnhofsvorplatz zum Hotel hinüber. Er betrat die Eingangshalle und nickte dem Portier kurz zum Gruß zu, bevor er zwei Stufen auf einmal nehmend in den zweiten Stock ging. Im Zimmer 283 stand er eine ganze Weile still und sah sich um.
Er hörte Linas Lachen...
...“Du hast was?” fragte Lina ungläubig.
“Ich habe dich zum Abendessen zu mir nach Hause eingeladen”, wiederholte Paul erneut.
Er wusste auch nicht, was in ihn gefahren war. Ulrike erschien ihm argwöhnisch, weil er erneut eine Nacht in der Bibliothek verbracht hatte. Da hatte er von Lina erzählt, dass sie sich über die Dichtkunst ein wenig angefreundet hätten und weil Lina ganz allein in der Stadt sei, hatte er sich gedacht, es wäre eine gute Idee, wenn sich die beiden Frauen kennen lernten.
“Es soll mir recht sein”, meinte Lina leichthin. “Da sie deine Frau ist, wird sie wirklich sehr nett sein. Warum nicht?”
Paul war erleichtert, ja überglücklich!
Und der Abend bei ihm zu Hause verlief äußerst harmonisch. Die Frauen verstanden sich auf Anhieb gut, waren schnell beim DU und Paul fühlte sich einfach toll!
Er brachte Lina zu später Stunde nach Hause.
“Und? Wie geht es dir?” wollte sie wissen.
“Gut, sehr gut”, antwortete Paul und griff nach ihrer Hand.
“Klar, du warst ja Hahn im Korb”, neckte Lina ihn.
“Ja, das schon, aber die Lüge schmerzt mich dennoch sehr”, sagte er leise.
Lina seufzte. Es war schon eine komische Sache, in die sie da hineingeraten war. Sie liebte Paul, wie sie noch nie einen Mann geliebt hatte, und nun hatte sie auch Ulrike ins Herz geschlossen.
Ulrike - Pauls Frau und Gefährtin, Mutter seiner beiden reizenden Kinder! Lina beneidete sie. Paul war ihr Mann, sie hatte das Recht, ihn jederzeit bei sich zu haben, jede Nacht... Sie war die Mutter seines Fleisch und Blutes, und sie war eine fürsorgliche, liebevolle Mutter.
Und Lina liebte Paul. Und es machte ihr merkwürdigerweise nur wenig aus, dass sie nicht mit ihm verheiratet war und es auch nicht sein würde. Sie fühlte sich trotzdem wie seine Frau in jeder Sekunde, die sie miteinander teilten!
Paul küsste sie zum Abschied. Davon hätte Lina gern noch mehr gehabt, aber darum wollte sie nicht bitten.
“Sie ist eine reizende Person”, sagte Ulrike, nachdem Paul zurückgekehrt war. “So natürlich und herzlich, einfach nett und obendrein außerordentlich hübsch.”
“Mhm”, machte Paul und half Ulrike, das Geschirr in den Schrank zu räumen.
“Ich habe ihr gesagt, sie kann beim nächsten Besuch ihren Freund mitbringen”, erzählte sie. “Aber sie hat gar keinen. Eigentlich schade! Die Männer müssen blind sein.”
“Das habe ich ihr auch gesagt”, stimmte Paul ihr zu.
Er gähnte herzhaft.- Das Thema wurde ihm zu brisant.
“Lass uns schlafen gehen, Schatz”, sagte er matt, “morgen früh erwarte ich schon sehr früh eine Schulbuchlieferung.”
Paul und Ulrike und Lina. Kaum eine Woche verging, in der sie nicht einen Abend zu dritt verbrachten. Und dazwischen gab es immer die Stunden, in denen Paul und Lina ihre Welt ganz allein für sich hatten. Eine Welt voller zärtlicher Hingabe, einer dem anderen gehörend. Eine Welt aber auch mit Gesprächen über ihre Träume, Hoffnungen und Wünsche an das Leben.
Und eines Tages äußerte Paul einen Wunsch für Lina.
“Ich möchte, dass du glücklich bist”, sagte er leise und blickte dem Qualm seiner Zigarette nach, der ganz langsam Richtung Zimmerdecke schwebte und sich irgendwo da oben aufzulösen schien.
“Ich bin glücklich”, sagte Lina mit Nachdruck und kuschelte sich an ihn.
“Ich meine, glücklich auch ohne mich.”
“Ohne dich?”
Linas Herz schlug einen Tick schneller. War das das Ende ihrer Beziehung?
“Ja, ohne mich, Lina. Ich kann und werde nicht immer für dich da sein.”
“Das brauchst du auch nicht”, sagte Lina zart. “Ich weiß die wenige Zeit, die wir miteinander verbringen, zu schätzen, weil sie so selten ist. Mehr beanspruche ich nicht, damit bin ich glücklich.”
Paul ging die Sache schon seit Tagen immer wieder durch den Kopf. Er ertrug es nicht länger, Ulrike in einer Sicherheit zu wiegen, die keine war. Ebenso konnte er auch Lina nicht festhalten, so gerne er es getan hätte.
Er hatte versucht, sich vorzustellen, wie das Leben mit Lina aussehen könnte. Ohne seine Kinder, ohne diese Verantwortung, nur für seine Gefühle leben zu können. Der Gedanke war verlockend. Lina bot ihm alles, was ein Mann sich wünschen konnte. Und sie war sehr jung und intelligent, enorm entwicklungsfähig. Bestimmt hätte er sich ein schönes Leben mit ihr aufbauen können.
Aber in solchen Momenten tauchte Ulrike mit den Kindern vor seinem geistigen Auge auf. Ulrike, die Frau, die mit ihm schon eine Menge Krisen bewältigt hatte, während er die Bibliothek aufbaute. Eine Frau, die ihn bedingungslos liebte, seine Kinder geboren hatte und sie mit einer Liebe erzog, die ihresgleichen suchte. Ulrike war ihm Partnerin, Gefährtin und Geliebte ebenso wie die beste Freundin.
Was war nur in ihn gefahren, als er Lina begegnete? Wenn er mit ihr zusammen war, kannte er sich manchmal selbst nicht. Und während er mit ihr zärtlich war, mit ihr schlief, fühlte er nicht mal ein schlechtes Gewissen.
“Nimm es doch einfach hin, so wie es geschieht”, flüsterte Lina, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Paul schrak richtig zusammen. Er sah sie an, und sein Blick wurde weich und liebevoll.
“Ich weiß, dass du dir viel Gedanken um uns machst”, stellte Lina fest. “Ich weiß auch, dass du mit mir keine Zukunft willst. Aber ich kann dich beruhigen, ich weiß nämlich auch nicht, ob ich eine mit dir haben möchte.”
Paul küsste ihre Stirn und empfand ein klein wenig Erleichterung. Lina machte es ihm so einfach. Sie war ein echtes Geschenk.
Lina indessen entzog sich seiner Umarmung und verschwand mit einem Lächeln im Badezimmer.
Sie schloss die Türe sorgfältig hinter sich und blickte sich im Spiegel an. Mit der Rechten strich sie über ihr Gesicht, und ihre Finger wurden feucht von den Tränen, die aus ihren Augen kullerten. Die großen blauen Augen schauten bekümmert.
Sie liebte Paul von ganzem Herzen und mit jeder Faser Ihres Seins, und sie wollte ihn haben. Doch sie vermochte nicht, etwas von ihm zu fordern, das ihm Schmerz bereiten würde.
So fühlte sich Lina wie ein Tiger im Käfig. Der Gefahr, von Wilderern erlegt zu werden wegen des schönen Fells, entronnen, aber von der ureigensten Natur abgeschnitten.
Eingesperrt im Dschungel ihrer Gefühle für einen Mann, den sie nicht an ihrer Seite haben konnte...
...Traurig verließ Paul das Zimmer 283 mit einem Seidenschal in der Hand. Lina musste ihn vergessen haben. Er schritt die Treppen hinunter zur Rezeption und verlangte die Rechnung. Nachdem er gezahlt hatte, wandte er sich der Bar zu und ging hinein.
Den regennassen Mantel hängte er an den Kleiderhaken neben der Heizung. Nachdem er den Zettel aus der Tasche gezogen hatte und nahm in einer Ecke Platz.
“Sie wünschen?” fragte der Kellner.
“Einen Kaffee, bitte.”
Während er auf das heiße Getränk wartete, wanderten seine Gedanken erneut zurück zu Lina...
...Ulrike und Lina verstanden einander immer besser. Einerseits konnte sich Paul darüber freuen, andererseits fiel es ihm immer schwerer, mit Lina intim zu sein.
“Es wird besser sein, Lina, an einer guten Freundschaft zu arbeiten”, sagte er zu ihr. “Ich komme mir vor wie ein Verräter, wenn ich euch beide zusammen sehe.”
Linas Herz krampfte sich zusammen, doch sie ließ es sich nicht anmerken.
“Geht mir ähnlich”, log sie.
“Dann lass uns aufhören mit den Heimlichkeiten”, schlug Paul vor und war erleichtert, dass Lina es gelassen nahm und seiner Meinung war.
“Ja, versuchen wir’s.”
Zwei Tage später traf Paul Lina wieder in dem Hotelzimmer. Sie war bereits dort und wartete auf ihn. Kaum war die Türe hinter ihm geschlossen, umarmte er sie leidenschaftlich und überschüttete sie mit Küssen.
“Ich kann dich nicht vergessen”, flüsterte er immer wieder und wollte sie nicht mehr loslassen. “Ich kann einfach nicht.”
Lina war überglücklich. Sie schmolz dahin unter der Glut seiner Leidenschaft, die wie ein Wüstensturm über sie hinwegpeitschte und erlebte Paul in einem Aufruhr, wie noch nie.
Ihre Liebe hatte gesiegt, glaubte Lina. Sie hielt seinen Kopf an ihren Busen gebettet, als er weinte. Sie fragte nicht nach dem Warum, sondern strich nur tröstend über sein dunkles Haar und empfand eine tiefe, befriedigende Ruhe im Innern.
Paul bedauerte, dass seine Gefühle ihn derart überrannt hatten, dass er ihnen Raum gegeben hatte, sich gehen ließ. Doch es war nicht mehr zu ändern. Es tat ihm leid für Lina, die er seiner Ansicht nach ausgenutzt hatte und die sich ihm immer wieder in ihrer Liebe zu ihm hingab, obwohl er doch gefangen war.
Aber dies zeigte er Lina nicht. Er verabschiedete sich sanft und gewohnt zärtlich und beschloss, dem bald ein Ende zu machen. Wenn er nur wüsste, wie!
Paul dachte für einen kurzen Moment daran, Ulrike die ganze Sache zu gestehen. Doch wie viel Ehrlichkeit verkraftete eine Beziehung? Er würde Ulrike unsagbar verletzen. Nein, das war unmöglich! Also verwarf er diese Idee sofort wieder.
Vielleicht sollte er Lina einfach nicht mehr wiedersehen? Aber Ulrike würde Fragen stellen, und er würde lügen müssen.
Er drehte sich im Kreis, die Situation war ausweglos.
So fuhr er die wenigen Straßen weiter und betrat in Gedanken versunken seine Wohnung. Betont sorgfältig hängte er seinen Mantel auf den Kleiderbügel, stellte seine Schuhe in den Schrank und schaute in die Küche. Sein Abendessen stand noch auf dem Tisch.
Paul blickte rasch ins Kinderzimmer und fand die Kinder schlafend vor. Kein Wunder, es war bereits 23 Uhr.
Im Wohnzimmer saß Ulrike gemütlich auf dem Sofa und telefonierte. Sie blickte kurz auf, warf ihm mit gespitzten Lippen einen Kuss zu und schaute verschmitzt drein.
Paul fragte per Zeichensprache, mit wem sie telefonieren würde. Ulrike winkte ab, und Paul ging in die Küche, um seine Brote zu essen.
“Ja, im Juli, stell dir vor!” hörte er sie sagen. “Nein, weiß er nicht. Aber ich freue mich total!”
Juli?, fragte sich Paul. Dann würde Sommer sein. Ferienzeit. In der Bibliothek wäre nicht viel los. Vielleicht sollte er im Juli mal wieder Urlaub machen mit der Familie? Drei Wochen Norderney?
Juli? Was würde Lina tun? Vielleicht ihre Familie besuchen in den Semesterferien? Sie würde ihm fehlen, das wusste er jetzt schon.
“Lina?” hörte er Ulrike laut fragen. “Lina, bist du noch da?”
Paul spitzte aufmerksam die Ohren. Er ahnte nichts Gutes!
“Hallo?” - “Komisch”, sagte Ulrike dann leiser, “einfach aufgelegt?”
Sie kam in die Küche.
“Was ist los?” fragte Paul.
“Ich hab mit Lina telefoniert. Aber irgendwie ist die Verbindung abgebrochen. Na ja, vielleicht meldet sie sich gleich wieder. -Wie war dein Tag?”
“Ganz gut.”
Paul betrachtete Ulrike. Sie strahlte, ihre Augen leuchteten eigenartig.
“Was ist los”, fragte er und sah sie fest an.
“Sieht man mir das an, dass etwas los ist?” fragte sie mit Verschwörermiene.
“Ja, schon. Raus mit der Sprache, mein Schatz! Was heckst du aus?”
Ulrike griff nach einem Gürkchen und biss herzhaft hinein. Sie verdrehte genießerisch die Augen und blitzte Paul an.
“Im Juli werden wir zu fünft sein”, platzte sie heraus.
“Was?“ fragte Paul ungläubig. “Wirklich?”
Er freute sich, nahm Ulrike fest in seine Arme und wirbelte sie herum.
“Das sind ja tolle Nachrichten!”
“Ja, nicht wahr? Ich wollte es erst nicht glauben, aber der Arzt hat meine Vermutung voll und ganz bestätigt. Im Juli, ist das nicht herrlich?”
“Ja, ganz toll! Und ich hatte gerade überlegt, ob wir im Juli nach Norderney fahren. Dann machen wir im August Ferien! Vier Wochen, mindestens!” verkündete Paul überschwänglich.
Ulrike machte sich von ihm los und setzte sich mit ihm an den Tisch. Ihre Stirn runzelte sich und ihr Blick wurde ernst.
“Merkwürdig, ich hab es gerade Lina erzählt, da riss die Verbindung ab.”
Paul wurde unbehaglich zumute. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie die Nachricht auf Lina gewirkt haben musste, und er ahnte, dass die Verbindung nicht von allein abgerissen war.
Dann gab er sich erschrocken.
“Nein, das kann doch nicht wahr sein!” entfuhr es ihm. “Ich hab doch tatsächlich meine Brieftasche in der Bücherei gelassen! Da ist das ganze Geld für die Bank drin. Tut mir leid, Schatz ich muss noch mal kurz weg.”
“Wenn der Kopf nicht angewachsen wäre”, frotzelte Ulrike. “Du bist mir einer! Dann mach schnell, ich geh schon mal schlafen. Ich bin völlig erschossen!”
Paul war noch nie die Straßen so schnell entlang gefahren. Er wusste genau, wo er Lina finden würde. Es musste ihr furchtbar gehen. Im Laufschritt überquerte er den Weg vom Parkplatz zum Hotel am Bahnhof.
Er wollte am Portier vorbei, doch der hielt ihn auf.
“Einen Augenblick, bitte, der Herr, die junge Dame hat eine Nachricht für Sie hinterlassen”, sagte er und reichte Paul einen Zettel über die Theke.
Rasch faltete Paul das Blatt auf und las:
“Mein geliebter Paul,
wir haben keine gemeinsame Zukunft, nur eine wunderschöne gemeinsame Vergangenheit. Ich verlasse dich und indem ich dich loslasse, liebe ich dich unendlich.
Deine Lina.”
“Wo ist die junge Dame hingegangen?” fragte Paul hastig.
“Zum Bahnhof hinüber erst vor wenigen Minuten.”
Paul rannte den Weg zum Bahnhof hinüber, in das Gewölbe hinein und die Treppen hinauf.
Der einzige Zug im Bahnhof hatte sich soeben in Bewegung gesetzt. Paul lief noch geraume Zeit neben ihm her, bis seine Geschwindigkeit zu groß wurde, ihm noch zu folgen. Die dunkle Öffnung am Ende der Bahnhofshalle verschluckte den Zug und zu sehen waren nur noch die kleiner werdenden Schlusslichter.
...Der Kaffee hatte Pauls Lebensgeister wieder geweckt, ihn gewärmt und sein Kopf war wieder klar. Er zahlte fünf Mark für den Kaffee, zog seinen Mantel wieder über, und fühlte die unangenehme feuchte Kühle.
Draußen betrachtete er den Zettel mit Linas wenigen Worten, und er fühlte den Seidenschal in seiner Manteltasche. Paul zögerte einen Moment, wollte noch einmal an dem Seidenschal riechen, doch dann ließ er beides in den Papierkorb gleiten und kehrte zurück in seine Welt.
© 2001 by af / angelika fleckenstein