Limetten
Limetten lassen mich an die Haut meiner Frau denken. An ihre grobporige, fettige Haut. Daran, wie ich sie mit einem Küchenmesser von ihrem Fleisch schäle, um zu sehen, ob sie sich darunter versteckt.
»Das gleiche wie immer?« Eddie drückt ein Limettenviertel hinein und stellt den Ginger Ale auf den Tresen.
»New Yorker«, sage ich, »mit Limetten.«
»Einen alkoholfreien?«
»Genau, Eddie. Einen alkoholfreien New Yorker mit Limetten und Bourbon.«
Ich frage ihn, ob er glaubt, Äußerlichkeiten seien entscheidend.
»Auf den zweiten Blick nicht«, sagt er auf Zehenspitzen zum Flaschenregal gestreckt.
»Auf den ersten?«
»Und auf den dritten.«
Meine Frau wurde heute entlassen. Sie redet von dieser Bar, wenn sie sagt: »Erinnerst du dich an den Tag, an dem du mich das erste mal gesehen hast?«
Dann nicke ich und sie sagt: »Ich war so schön.«
»Du verwechselst das mit dem Tag, an dem du mich das erste mal gesehen hast«, sollte ich sagen, doch sage: »Ja, das warst du.«
Sie strauchelte über das wundgetretene Parkett, wie eine Antilope über einen zugefrorenen See. Die Hälfte der Gäste verrenkte den Nacken. Die übrigen blickten bereits in ihre Richtung, blickten auf ihre leopardenfarbenen Beine, auf ihre Brüste, die das Hello Kitty Shirt bis über ihren Bauchnabel rafften. Sie setzte sich auf den Hocker, auf dem ich sitze. Ich stand dort, wo Eddie steht. Ihre Lippen wie Cocktailkirschen sagten: »Hi.«
Zwischen diesen Moment und den, in dem sie sagte, das mit der Pille war gelogen, passten keine vier Jahreszeiten. Der Gedanke von Glück war in beiden Momenten. Der Gedanke, dass unser Leben zu dritt keinen zweiten Herbst sehen würde, in keinem.
Ihre Lippen schwebten vor mir wie hypnotische Pendel. Ich sagte: »Was?«
»Hi.« Sie grinste mich an. Oder lächelte. Irgendetwas dazwischen.
»Hätte nicht erwartet, dass so eine Frau sich hier her verirrt.«
»Was für eine Frau?«
»So eine wie Sie es sind.« Mein Kinn deutete auf die laminierte Karte. »Haben Sie sich schon entschieden?«
»Die Entscheidung wird mir meistens abgenommen.«
»Dann empfehle ich Ihnen einen New Yorker mit Limette.«
»Nein, Danke. Heute entscheide ich selbst. Ich will etwas verändern.« Sie legte den Kopf schief und sagte: »Ich hätte gerne einen New Yorker mit Limette.«
Ihr Ohr senkte sich fast bis auf ihre Schulter, als sie beobachtete, wie Whiskey, Grenadine und Limettensaft auf die Eiswürfel plätscherten und ineinander flossen.
»Was für eine Frau bin ich denn?«, fragte sie.
»Eine andere als vermutet, vermute ich.«
»Ich vermute, ich bin keine Frau, die man siezt.«
Ich schüttelte den Drink, siebte ab und reichte ihn ihr.
»Sie sind eine Frau, die auf einen Mann wartet.«
»Da bin ich keine Ausnahme.«
Sie setzte an und ließ den Glasboden durch den Raum rotieren. Weil sie ohne Strohhalm trinkt, habe ich nach meinem Antrag jeden Tag gekaute Kaugummis in unseren Spülkasten gestopft und Plastikhandschuhe angezogen.
Ich sagte: »Er wird Sie schon erkennen, sobald er hier auftaucht.«
»Das wird schwer.«
»Warum?«
»Das was Werbung mit Models macht«, sagte sie und hielt mir ihr Handy unter die Nase, »das mache ich mit mir. In die andere Richtung.« Ich tat als überraschte mich, wen das Bild zeigte, dabei überraschte mich, wer mir das Bild zeigte.
Wenn man meinen richtigen Namen in die Suchleiste der Website auf dem Display tippte, erhielt man null Treffer. Bevor ich mich dort angemeldet habe, hatte ich es mit Speeddating versucht. Sobald ich ihnen gegenüber saß, waren die Frauen nicht traurig, dass es bis zum Tischwechsel nur fünf Minuten dauerte. Die Unterhaltungen endeten meistens mit: »Hallo. Mein Name ist soundso.«
Im Internet endeten sie mit: »Zwei Stunden hab ich in der abgefuckten Bar auf dich blödes Arschloch gewartet.«
Begonnen haben sie mit: »Hallo, Sie hören das bestimmt oft, aber Ihre Ähnlichkeit mit demunddem ist wirklich verblüffend.«
So dreist, für mein Profil Fotos von Oscarpreisträgern auf dem roten Teppich zu verwenden, war ich natürlich nicht. Ich beschränkte mich auf die Nominierten.
Als finanziell unabhängiger Geschäftsmann war ich bereit all meine Kraft in neue Liebe zu stecken. Meine Hobbys: Sport, Familie, Zuhören.
Ich wollte mehr als Nachrichtenverläufe, bei denen ich die Tastatur mit einer Hand bediente. Also mischte ich jeden Drink doppelt und prostete den Frauen zu, während sie auf mein Alter Ego warteten.
Man könnte meinen, die Realität hat mich eingeholt. Aber das hat sie nicht. Bevor ich loslief, hatte sie mich bereits überrundet.
Meine Frau schrieb ich an, nachdem ich das eingesehen habe. Niedrigere Ziele, niedrigere Frustration. Laut Profil war sie Model für Ernährungsprogramme. Aber nicht wie angegeben die Frau auf dem Vorher- sondern dem Nachherbild. Sie saß an der Bar und trank und trank und sagte, vielleicht könnten schöne Menschen nicht auf Oberflächlichkeit verzichten.
»Womit hab ich dich nur verdient?« Das hab ich sie früher oft gefragt, wenn sie auf meiner Brust lag und ich die Pfirsichhaut über ihren Wangenknochen streichelte. Die selben sechs Worte sagte ich noch bis zu ihrer Einweisung, aber die Frage war eine andere geworden.
Ich musste sie mir verdienen, indem ich mehr verdiente. Das dachte ich.
Dank meinem Alkoholismus verliefen die Vorstellungsgespräche in etwa wie das Speeddating. Mein Versuch, ihn als Berufskrankheit profitabel zu machen, wurde abgelehnt. Ich überlegte, was den Leuten fehlte, die sich an den Tresen setzten. Dann sicherte ich mir das Patent auf ein simples Authentifizierungssystem mittels Personalausweis, das Partnerbörsen vor Betrügern mit falschen Identitäten schützt. Eddie arbeitete von nun an sechs Abende die Woche.
Vom ersten Scheck kaufte ich mir einen Stepper. Vom zweiten ein Abonnement im Fitnessstudio. Vom zwölften gestrichelte Filzstiftlinien auf meinen Gesichtszügen.
Während der Kur legte sie mir die Hand auf meine schwitzende Stirn und sagte: »Bald bist du wieder der Alte.« »Hoffentlich nicht.«
Wir saßen in der Bar. Ich trank Ginger Ale, sie New Yorker mit Limette. Nach ihrem letzten Schluck suchten meine Augen zwischen den Eiswürfeln nach dem halben Monatsgehalt eines Barkeepers. Dass sie es nicht verschluckt hatte, erfuhr ich erst zwei Wochen später.
»Ja, ich will.«, sagte sie und präsentierte den 585er Weißgoldring auf ihrer Handfläche.
Ich steckte bis zu den Ellenbogen in der Kloschüssel.
Sie sagte: »Ich glaube, das bedeutet, du hast wirklich Gefühle für mich.«
Ich glaube, das bedeutet, ich hatte wirklich Gefühle für 483 Euro.
Sie küsste mich und schlang ihre Arme um meinen Körper wie um einen querschnittsgelähmten Teddybären. Dann seufzte sie zufrieden und sagte: »Beschmier die neue Bluse bloß nicht mit meiner eigenen Scheiße.«
Manchmal stand sie vor dem Spiegel und betrachtete, was unsere Tochter an ihrem Körper hinterlassen, was sie von ihr übrig gelassen hatte.
Wir ergänzten uns perfekt. Die Kilos, die ich verlor, sammelte sie wieder auf. Die Flaschen, die ich nicht mehr anrührte, trank sie leer. Das Geld, das ich verdiente, gab sie aus.
Wir wurden zu den Menschen, die wir vorgegeben haben zu sein.
Ich sagte: »Wenn du das Haus mal wieder verlassen würdest, würdest du merken, dass unsere Fassade abgebröckelt ist.«
»Männer im mittleren Alter können doch ein Telefonbuch benutzen«, sagte sie. »Versuchs mal unter M wie Maler.«
Als unsere Streits heftiger wurden, sagte sie, sie gehe Aspirin kaufen. Nicht, weil sie Kopfschmerzen hätte, sondern um ihnen vorzubeugen. Wenn sie zurückkam, fragte ich, welche Art von Aspirin Menschen in hysterische Zombies verwandelt.
Ich begann wieder Kaugummis zu kauen und Plastikhandschuhe anzuziehen. Nach der Analyse der vierten Urinprobe sagte man mir, sie mache ihre Besorgungen nun nicht mehr in Apotheken.
»Was gibt’s heute eigentlich zu feiern?«, fragt Eddie.
»Bin seit 103 Monaten trocken.«
Eddie halbiert, viertelt, achtelt eine Limette, die mit schwarzen Flecken überzogen ist.
»Willst du die wirklich noch verwenden?«
Er schält die Haut ab und sagt: »Limetten faulen von außen.«
Menschen nicht.
Wir haben die Kleine verbrennen lassen. Auch ein geschlossener Sarg hätte die Bisswunden nicht verschwinden lassen können. Nichts hört auf zu existieren, weil man es nicht mehr sieht.
Schuld, sagten die Ärzte, sei wahrscheinlich das Phencyclidin. Es sei schon vorgekommen, dass Konsumenten ihr Haustier mit einer Bastelschere zerfleischt hätten. Oder sich bei einer Fahrzeugkontrolle die Augen ausgekratzt und den Beamten anstelle des Führerscheins in die Hand gedrückt hätten.
Hässlichkeit. Nur zu, sagen Sie es. Selbst das Wort spricht sich, als würde die Zunge in das versiffte Ende einer Rolltreppe gezogen. Aber in einem Punkt überschneidet sie sich mit der Schönheit. Sie kommt von innen.
Ich klopfe mit der Faust auf den Tresen und bemühe mich gerade zu stehen.
Eddie sagt: »Bleib Sauber.«
»Mach ich.« Für 2,95 Euro bekam man die reduzierte Vorteilspackung mit 50 Plastikhandschuhen