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Meine zweite Kurzgeschichte.
Limbus
Da stand sie wieder und goss die bräunliche Brühe, die sich Kaffee schimpfte, in ihren schlaftrunkenen Leib. Jeden Morgen schmeckte das legale Aufputschmittel schlechter, zumindest kam es ihr so vor. Das machte den zweihundertdreiundvierzigsten Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören, nicht leichter, weshalb sie sich direkt die nächste Zigarette ansteckte. Nicht, dass die besser schmecken würde, aber das war ihrer Sucht ziemlich egal. Nach ein paar Minuten hatte Karen sich wieder im Griff und stakste Richtung "Devils Demise", der wahrscheinlich heruntergekommensten Spielhölle in dieser heruntergekommenen Stadt. Wenigstens war der Weg zwischen Karens Wohnung und der Spielhalle zu Fuß zu bewältigen und führte an Kaffee- sowie Zigarettenautomat vorbei. Sie konnte nicht sagen, ob sie die grässlichen Graffitis, die farblosen Fassaden oder den gewaltigen Gestank am schlimmsten fand. Andererseits passte Karen wunderbar in dieses Ambiente der Hoffnungslosigkeit.
Als ihr Glimmstängel seine letzten Reserven an ihre Lunge abgab, erblickte sie ihren angeranzten Arbeitsplatz an der Straßenecke. In dem seit bestimmt acht Jahren gesprungenen Fenster blinkte die ebenfalls defekte Leuchttafel, auf der statt CASINO nur noch SIN zu lesen war. Karen musste bei dieser äußerst passenden Reklame, wie jeden Tag, gequält lächeln. Die folgenden neun Stunden stand sie hauptsächlich hinter dem klebrigen Tresen und schüttete den unglücklichen Schluckspechten meist hochprozentige Spirituosen in die versifften Gläser. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, dass sie täglich mindestens einen vandalierenden Verlierer von der fettleibigen Security rausschmeißen lassen musste. Anfangs hatte Karen noch versucht, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, nachdem ihr jedoch klar wurde, dass dem aggressiven Abschaum egal war, ob er auf den Automat oder die Angestellte einschlug, hielt sie sich so gut es ging von den Schreihälsen fern. Dummerweise musste sie neben den gewalttätigen Kunden auch die perversen Dreckssäcke bedienen, für die Würde lediglich ein Verb war, das sie Karen nicht selten hinterherriefen. Immerhin behielt der Großteil der Kundschaft seine Hände am einarmigen Bandit statt an der zweiarmigen Bedienung, auch wenn es einige Ausnahmen gab. Nach der gefühlt endlosen Schikane erlöste sie die Spätschicht in Form von Angela. Genau wie Karen könnte sie ein paar Pfunde weniger und einen Haufen Hygieneartikel mehr vertragen. Karen hatte, wie jeden Tag, wieder zwei Möglichkeiten: Entweder sie befriedigte ihre Spielsucht, oder die ekelhaften Männer, die weiter hinten in diesem gottverlassenen Sündenpfuhl verkehrten. Da sie es momentan noch nicht nötig hatte, sich bezahlt vergewaltigen zu lassen, entschied sie sich für Option Eins. Zu ihrem Pech hatte sie ihr gesamtes Glück wohl während der vergleichsweise ruhigen Arbeitszeit aufgebraucht. Damit war dann auch der Rest ihres Gehaltes an seinem Ursprungsort geblieben.
Frustriert stapfte Karen nach Hause. Auf dem Heimweg grummelte ihr Magen, dem durchaus bewusst war, dass in ihrer Wohnung nichts Essbares wartete. Der Schnellimbiss drei Häuser weiter löste das Problem, denn der Besitzer kannte Karen gut genug, um sich auf andere Weise bezahlen zu lassen. Daheim angekommen fühlte Karen sich gesättigt und benutzt. Den Frust versuchte sie mit schalem Dosenbier hinunterzuspülen, doch auch heute funktionierte das eher schlecht als recht. Sie ließ sich in ihrem halb zerrissenen Sessel nieder und blickte auf das Fernsehschränkchen, das den ersten Teil seines Namens nach der letzten Pfändung verloren hatte. Karen musste grinsen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie unter der konstanten Belastung zusammenbrach. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Kollaps bevorstand, und schloss die Augen. Die Tränen versiegten, bald darauf setzten die Albträume ein. Als Karen die Augen wieder öffnete, wünschte sie sich, dass es das letzte Mal war.