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Limbo
Am Strand an der Ostküste Frankreichs. Ich muss 15 oder 16 gewesen sein. Sand zwischen den Zehen, frische Meeresluft in den Lungen, ein Buch in der Hand, wahrscheinlich Calvino. Die Sonne prallte auf meine eingecremte Haut und ich griff nach der Schaltung. Die Scheibenwischer konnten bei dem Wetter kaum mithalten; der Regen schien nicht aufhören zu wollen und es goss und goss, schon seit einer halben Stunde. Wenigstens war die Strecke nicht so voll. „Du siehst nicht aus, wie jemand, der alle Alben von My Chemical Romance besitzt“, sagte Michi leicht spöttisch. „Ist das gut, oder schlecht?“, fragte ich unsicher nach. „Nun ja…“, holte er aus und fing an in meinem Zimmer auf und ab zu gehen, „eher gut, aber es ist immer noch My Chemical Romance.“ Ich dann etwas defensiv: „Ja also, was hörst du denn?“ „Björk, Nirvana, Pink Floyd, eigentlich haben wir alles hier, aber das kann ich persönlich empfehlen“, schlug der Verkäufer an der Theke vor, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. „Ich glaube ich gucke mich doch erstmal um“, sagte ich dann etwas verlegen. Der Versuch im Plattenladen nicht uncool zu sein also schon mal im Eimer. Fünf Minuten später klingelt die kleine Glocke über der Tür, als ich den Laden mit leeren Händen verließ und mich auf den Weg zur Bahn machte. Es muss bewölkt gewesen sein, doch gegen Abend kam die glänzende Sonne nochmal kurz vorbei um „Tschüss!“ zu sagen und dem Himmel dabei einen orangenen Anstrich zu verpassen. Laura, Simon, Felix und ich saßen auf einer Bank an der Elbe und schauten uns den Sonnenuntergang an. Für einen Moment konnte ich mir vorstellen für immer so zu bleiben. Augenblicke wie diese waren zwar banal und klischeehaft, aber dennoch magisch, vielleicht sogar gerade deshalb. Ich guckte von meinem Buch hoch. „Would you like a drink?“, fragte ein herumlaufender Typ mit Akzent und Plastikwasserflaschen. „How much is it?“, hakte ich skeptisch nach. “Three Euros.” Strandpreise halt.
“Ooh, hier sind also deine DVDs.”
„Nicht besonders viele, ich weiß.“
„Aaach, quatsch. Es kommt nicht nur auf die Anzahl an. Hier ist ja echt gutes Zeug dabei!“
Der Regen, oder nennen wir es mal Sturm, hatte die Straße mit großen Pfützen versehen. Wie man in der Fahrschule gelernt hat, hätte man besonders auf Aquaplaning achten sollen. Aber was genau war nochmal zu tun? Lenken? Nicht lenken? Kupplung durchtreten? Also auf keinen Fall sollte man bremsen, das ist sicher. Wir saßen im Kino und Michi hielt meine Hand. Ich weiß nicht mehr was für ein Film es war, nur noch, dass er nicht besonders gut gewesen sein konnte. Ich ließ meinen Kopf in seine linke Schulter fallen. Scharfe Kurve in 100 Metern. Nie zuvor hatte ich unter solch widrigen Umständen enge Gebirgsstraßen zu manövrieren. Schon länger am Bahnhof sitzend, fühlte ich mich zunehmend vom elektronischen Schild belogen, das mir glaubhaft machen wollte, die Bahn komme „sofort“. Jetzt. Any moment now. „Kurze Info an alle Passagiere: Auf Grund eines Baumes, der auf die Oberleitung gefallen ist, musste die Strecke zwischen Neugraben und Stade leider gesperrt werden. Ersatzverkehr wird sobald es geht einger…“ Das hätte man auch nicht früher durchsagen können. Ich drehte das Lenkrad bis zum Anschlag. Das Wasser war warm und ich konnte Gruppen kleiner Fische vorbeiflitzen sehen. Bussitze sehen aus, wie Vaporwave sich anhört. „Hanekes Caché gibt’s glaub ich gar nicht auf Blu-ray.“ Wir standen erst auf, als die Sonne nicht mehr zu sehen war. Es lief der Abspann.