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Lillys Wolkenreise
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Die Sonne steht hoch am Himmel. Viele kleine Schäfchenwolken ziehen am Himmel entlang. Lilly steht am Fenster und blickt sehnsüchtig hinaus. Sie sieht den anderen Kindern zu, die unbekümmert in der warmen Mittagsluft spielen. In der kleinen Ein-Zimmer Wohnung, die sich im 6. Stock eines Hochhauses befindet, ist es ganz dunkel, weil alle Fenster, bis auf eines, mit Vorhängen zugezogen sind.
„Lilly, bitte zieh den Vorhang wieder zu,“ klagt Lillys Mutter leidend. „ Meine Kopfschmerzen sind nicht zum aushalten. Ich brauche meine Ruhe, damit ich morgen wieder arbeiten gehen kann.“
„Kann ich raus?“, fragt Lilly schnell ihre Chance witternd. „ Von mir aus.“, ertönt es leise aus der Schlafecke der Mutter.
Lilly verlässt auf leisen Sohlen das Zimmer, in dem sie und ihre Mutter leben, seit ihr Vater sie beide verlassen hat. Sie rennt, ja flieht regelrecht durch den muffigen Treppenflur hinaus in den Vorhof, auf die Straße, bis zu dem Park, wo sie die anderen Kinder hat spielen sehen. Sie kennt keines dieser Kinder, weil sie erst seit vier Wochen hier wohnt. In zwei Wochen, wenn die Schule nach den Sommerferien beginnt, hofft sie eine Freundin zu finden.
Die Schaukel auf dem Spielplatz ist noch frei, bemerkt Lilly, als ihr Blick suchend umherschweift. Schnell geht sie auf die Schaukel zu und setzt sich drauf.
„Puh, geschafft.“, denkt sie erleichtert. Ihre magere Gestalt sackt ein wenig zusammen, als sie so dasitzt, bis sie mit ihren Beinen geschmeidig Schwung holt.
„Hoch!“, denkt sie. „ Hoch, höher, noch höher". Sie genießt es, hin und her zu wiegen. Ihre Lider beschatten halb ihre blauen Augen, und ihre blonden Haare wippen im Takt der Schaukel mit. Sie spürt den Zugwind streichelzart in ihrem Gesicht, hört ihn fein an ihren Ohren vorbeirauschen.
„Hoch, höher, ganz weit hoch,“ denkt sie währenddessen weiter. Plötzlich spürt sie, dass sie nicht mehr schaukelt. Lilly öffnet ihre Augen. Erstaunt sieht sie, dass sie sich nicht mehr auf dem Spielplatz befindet. Ihr kleiner Mund formt ein Oh, die blauen Augen sind weit aufgerissen über dieses Wunder. Sie sitzt auf einer Wolke! Sie kneift sich: „Autsch!“
Vorsichtig blickt sie über den Rand der wattegleichen Wolke. Die Welt unter ihr ist so klein, sieht wie Spielzeug aus, ein bunter Teppich mit Klötzchen drauf.
„Hallo!“, hört sie jemanden rufen. Neben ihr fliegt eine Lachmöwe. „Hallo,“ antwortet sie zögernd. Die Lachmöwe nickt mit dem Kopf. „Ich heiße Albert.“, stellt sie sich vor. „ Und du?“ „Lilly,“ haucht Lilly ungläubig. „Schöner Name, Lilly. Genießt du deinen Flug?“
Lilly nickt verwirrt mit dem Kopf. „Was mach ich hier?“ Albert lacht in sich hinein: „Du bist witzig, Lilly. Hast du nicht gerade gesagt Hoch, höher, ganz weit hoch. Wo möchtest du denn hin?“ Lilly braucht nicht lange, um zu überlegen. „ Nach Hause! In unsere alte Wohnung, in der wir noch eine Familie waren, Mama, Papa und ich.“ Albert schüttelt seinen Kopf. „Ach meine arme Lilly, da kann ich dir nur raten schau lieber mehr nach vorne und weniger nach hinten." „Wie meinst du das?“, fragt Lilly. Plötzlich kullern Tränen über ihre Wangen, die sie hastig wegwischt. „ Du brauchst dich nicht zu schämen, Lilly. Sei traurig und sogar wütend, wenn dir danach ist.“ Lilly antwortet: „ Ich bin auch wütend. Ich mag unsere neue Wohnung nicht. Ich bin traurig, weil Papa weg ist. Ich kann seine neue Freundin überhaupt nicht leiden.
Und ich bin wütend und traurig zugleich, weil Mama immer Kopfschmerzen hat.“
Nach diesem Ausbruch schmeißt sich Lilly bäuchlings auf die Wolke, vergräbt dabei tief ihr Gesicht und weint schluchzend. All ihr Gram kommt mit den Tränen heraus. Die Wolke nimmt wie ein Schwamm ihre Tränen auf und wird dabei grau und grauer. Langsam verebbt ihr Schluchzen, versiegt ihr Tränenstrom. Ihre Schultern beben noch ein wenig als sie aufsteht.
Mit fester Stimme ruft sie aus: „Ab heute wird es wieder schöner!“ Plötzlich ist ihr kalt. Fröstelnd schaut sie sich nach der Lachmöwe um. „ Albert? Wo bist du?“ Ein paar kalte Regentropfen zerplatzen auf ihrer Haut. Sie blickt nach oben. Über ihr ist eine dunkle schwarze Wolke. Am Himmel kreist eine schreiende Lachmöwe. „Albert?“, flüstert sie fragend
„Ja, was ist denn?“ antwortet der Junge, der neben ihr schaukelt. Seine schwarzen Knopfaugen mustern sie neugierig. „Woher kennst du meinen Namen? Du bist doch die Neue aus dem Hochhaus da drüben, oder nicht?“ „Das ist geheim, woher ich deinen Namen kenne, Albert.“, antwortet Lilly lachend. Albert lacht mit. „Ist ja auch egal.“, meint er. „Los komm mit, wir wollen uns unterstellen, bevor es richtig anfängt zu regnen.“
Sie rutschen von den Schaukeln und laufen los. Die schwarze Wolke ist jetzt direkt über ihnen. Große schwere Tropfen fallen herab, entwickeln sich zu richtigen Sturzbächen. Übermütig halten beide Kinder ihre erhitzten Gesichter nach oben und lecken mit der Zunge die Regentropfen auf. „Ui, die schmecken ja salzig!“, ruft Albert überrascht aus. Lilly nickt wissend. Plötzlich scheint die Sonne wieder. „Ich heiße Lilly.“, stellt sie sich dem neuen Freund vor. „Komm doch mit zu mir, Lilly. Wir müssen uns erst mal richtig abtrocknen. Und dann können wir ja zusammen irgendwas machen.“, schlägt Albert vor und schüttelt seine nassen strubbeligen Haare dass es nur so spritzt. „ Das ist eine gute Idee, Albert.“, freut sich Lilly über die Einladung. Während Albert mit schnellen Schritten vorangeht, dreht Lilly sich nochmals um und winkt der Möwe, die durch einen Regenbogen fliegt, zu. „Danke für deinen Rat.“, flüstert sie leise und eilt Albert hinterher.