Lilias Sternenkinder
Lilia ist drei Jahre alt. Sie sitzt an ihrem Tisch und malt ein Bild. Es ist Sonntag und Mama und Papa schlafen noch. Als Lilia ihr Bild fertig hat, schleicht sie sich zu Mama und Papa ins Schlafzimmer und kuschelt sich ins Bett. „Seht mal, was ich gemalt habe“, flüstert sie und hält ihr Bild hoch. Mama und Papa strecken sich und blinzeln müde auf Lilias Bild. „Oh, wie schön“, sagt Mama und ist ganz gerührt. Auf dem Bild sind Mama, Papa und Lilia zu sehen aber Mama hat einen viel dickeren Bauch als normalerweise. Lilia bekommt nämlich bald ein Geschwisterchen. Sie freut sich sehr, weil doch fast alle Kinder im Kindergarten eine Schwester oder einen Bruder haben. Am liebsten wäre Lilia die kleine Schwester, aber das geht ja nicht, denn sie ist ja nun mal Mamas und Papas erstes Kind und so freut sie sich sehr, demnächst eine große Schwester zu sein. „Darf ich dann auch mal den Kinderwagen schieben? “, fragt Lilia. „Und habt ihr mich dann noch genauso lieb wie jetzt? “ Papa freut sich darüber, dass Lilia sich schon solche Gedanken macht und sagt:“ Natürlich darfst du den Kinderwagen schieben. Aber so ein Baby ist kein Spielzeug, das weißt du ja, oder? Man muss sehr vorsichtig mit ihnen umgehen, solange sie noch so klein sind.“ Mama nimmt Lilia in den Arm und erklärt ihr, dass sie und Papa sie immer genauso lieb haben werden wie jetzt auch und dass Lilia immer ihr großes kleines Mädchen bleiben wird. Das fühlt sich gut an und Lilia freut sich immer mehr auf ihr kleines Geschwisterchen. Morgen hat Mama einen Termin bei ihrer Ärztin und Lilia darf mitkommen und das Baby in Mamas Bauch sehen. Sie kann es kaum erwarten.
Am nächsten Tag machen sich Mama, Papa und Lilia auf den Weg zu Mamas Ärztin. Die ist sehr nett und redet auch mit Lilia viel. Dann gehen sie alle in den Bahandlungsraum und die Ärztin schaltet das Gerät ein, mit dem sie in Mamas Bauch sehen kann. Ultraschall nennt man das. Die Ärztin zeigt auf einen kleinen schwarzen Fleck, der so aussieht wie ein Gummibärchen und Lilia findet das sehr lustig. So sieht ihre kleine Schwester oder ihr kleiner Bruder jetzt aus? Sie kann es kaum glauben. Plötzlich redet die Ärztin über Dinge, die Lilia nicht versteht und Mama und Papa sehen ganz traurig aus. Papa geht mit Lilia aus dem Raum und Mama bleibt noch etwas länger bei der Ärztin. Papa erklärt Lilia, dass sie jetzt ganz tapfer sein muss und dass bei so einer Schwangerschaft manchmal auch etwas schief gehen kann. „Was denn?“, fragt Lilia? „Das Herz von unserem Baby hat aufgehört zu schlagen“, sagt Papa. Lilia ist geschockt. Sie weiß doch, dass man ohne Herzschlag nicht leben kann. In dem Moment kommt Mama aus dem Behandlungsraum und sieht noch trauriger aus.
„Mama, was passiert jetzt mit dem Baby?“ „Es muss leider wieder aus meinem Bauch heraus“, sagt Mama. Lilia versteht das alles nicht. „Aber es muss doch wachsen“, sagt sie verständnislos. Mama erklärt Lilia dann, dass das Baby nicht wachsen kann, weil es krank war und dass deshalb sein Herz aufgehört hat zu schlagen und dass das zwar sehr traurig ist, aber dass so etwas passieren kann und dass das die Natur so regelt. „Warum regelt die Natur das so? “, fragt Lilia. Mama und Papa erklären ihr, dass die Natur eben erkennt, wenn ein Baby im Bauch krank ist und nicht fähig sein wird zu leben und auf die Welt zu kommen und dass es dann manchmal passiert, dass ein Baby im Bauch der Mutter schon aufhört zu leben. Lilia ist sehr traurig und Mama und Papa auch. „Gott sei Dank war es noch so früh“, sagen Mama und Papa. Mamas Bauch war noch nicht dick und das Baby in Mamas Bauch war noch sehr klein. Trotzdem hatten sie sich alle schon so sehr gefreut. Ausgerechnet heute Abend soll auch noch in Lilias Kindergarten ein Laternenfest stattfinden. Zuhause sprechen Lilia und ihre Eltern noch ein bisschen über das Baby und beschließen, am Abend trotzdem zum Laternenfest zu gehen. Lilia freute sich nämlich trotz allem darauf und Mama und Papa haben das Gefühl, es würde ihnen vielleicht guttun. Schließlich ist Lilia auf der Welt und die braucht sie und natürlich wollen sie sehen, wie sie mit ihrer selbstgebastelten Laterne zusammen mit den anderen Kindern Sankt Martins Lieder singt. Das Laternenfest ist wirklich schön und auch wenn Mama und Papa viel an ihr Baby denken und heimlich ein bisschen weinen müssen, freuen sie sich sehr, Lilia beim Singen zuzusehen.
Lilia ist jetzt schon sieben Jahre alt und immernoch ein Einzelkind. Einzelkind – allein wie sich das schon anhört. Lilia mag das Wort nicht. Es klingt traurig findet sie und sie wünscht sich nach wie vor sehr eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder. Lilias Mama war in den lezten Jahren noch weitere vier mal schwanger. Ein paar Mal haben ihre Eltern ihr gar nichts davon erzählt, sie wollten nicht, dass Lilia traurig ist, aber die beiden Male, nachdem sie ihr erstes Geschwisterchen verloren hatte, hat Lilia miterlebt. Jedes Mal hat sie sich so sehr gefreut und Mama und Papa waren am Anfang immer zuversichtlich, aber leider hat sich immer wieder herausgestellt, dass die Babys in Mamas Bauch nicht gesund waren. Leider hat niemand herausgefunden, woran es gelegen hat. Mama sagt, sie ist mit Anfang 40 vielleicht ein bisschen zu alt um Babys zu bekommen, aber die Ärztin sagt, dass es zwar auch daran liegen kann, aber dass das leider bei Frauen in jedem Alter vorkommen kann und Mama vielleicht auch einfach Pech hatte. Mama und Papa sagen Lilia immer, dass es das größte Glück auf der Welt ist, dass es sie gibt und dass ihnen das noch viel klarer geworden ist, dadurch, dass die anderen Babys nicht gesund waren. Lilia freut sich natürlich auch darüber, dass sie immer alle Aufmerksamkeit und Liebe von Mama und Papa ganz allein für sich hat. Alleine spielen aber, wenn sonst niemand Zeit hat oder am Wochenende morgens früh, wenn Mama und Papa noch schlafen oder abends alleine ins Bett zu gehen, das sind die Momente, in denen Lilia sehr gerne jemanden hätte, mit dem sie zusammen sein könnte. „Ach wenn Mama doch noch ein Baby bekommen würde“, denkt Lilia sehr oft, auch wenn sie weiß, dass es ja erst mal noch sehr klein wäre und bestimmt kein Spielgefährte für sie. Trotzdem, einen Kinderwagen schieben oder Mama helfen, das Baby zu baden oder zu wickeln oder einfach sagen zu können: „Das ist meine Schwester “, das würde Lilia sehr gefallen. Manchmal fragt Lilia Mama, ob sie noch ein Baby bekommen. Mama sagt dann immer: “Ach mein Schatz, ich glaube nicht und das ist auch gar nicht schlimm, denn wir haben dich und das ist das Schönste und Wichtigste für uns. Aber wer weiß? Vielleicht passiert es doch noch, wenn wir gar nicht mehr daran denken und dann freuen wir uns einfach. Und wenn nicht, dann sind wir auch so glücklich.
Lilia ist jetzt acht Jahre alt und sie sitzt mit ihrer kleinen Schwester Mia vor dem großen Weihnachtsbaum. Mia ist ein Jahr alt und kann seit gestern laufen. Lilia ist sehr stolz auf ihre kleine Schwester, immerhin hat sie ihr beim Laufenlernen geholfen! „Weißt du, dass ich sehr froh darüber bin, dass es dich gibt, Mia?“, fragt Lilia. „Da!“, sagt Mia, die noch nicht wirklich sprechen kann. Lilia erklärt ihrer kleine Schwester das genauer:“ Mama hatte fünf mal ein Baby im Bauch und keines davon war gesund und konnte auf die Welt kommen! Wir haben nicht gedacht, dass ich noch eine Schwester oder einen Bruder bekomme, weißt du? Am Ende haben Mama und Papa sogar alle meine Babysachen verkauft, die sie all die Jahre aufbewahrt haben. Und weißt du, was dann passiert ist? Mama war schwanger! Mit dir! Und das Beste daran ist, dass du gesund warst und in Mamas Bauch wachsen konntest. Und jetzt habe ich endlich auch eine kleine Schwester. Und die Babys, die vorher in Mamas Bauch waren und nicht auf die Welt kommen konnten, die sind jetzt im Himmel und leuchten als kleine Sterne für uns und passen auf uns auf. Man nennt sie Sternenkinder.“
Mama und Papa stehen vor der Tür und hören Lilia zu und haben Tränen in den Augen. Auch wenn sie vorher schon eine glückliche kleine Familie waren, ist es doch unglaublich und wunderschön, diese Worte von ihrer großen kleinen Tochter zu hören. „Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk das ich mir vorstellen kann“, sagt Mama. „Ja, sagt Papa, wer hätte gedacht, dass es den Moment geben wird, an dem wir wissen, wozu das alles gut gewesen sein soll?“ „Und unsere Sternenkinder leuchten am Himmel und passen auf uns auf. Das hat Lilia schön gesagt. Sie werden für immer in unseren Herzen sein“, sagt Mama und legt den Arm um Papa bevor sie zu Lilia und Mia gehen und Weihnachten feiern.