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Lila
Lila
Als er zum ersten Mal nach langer Zeit wieder die Augen öffnete, sah er sie nicht sofort.
Es musste später Nachmittag sein, denn die tief stehende Sonne breitete ihre wärmenden Strahlen über sein Gesicht und blendete ihn leicht, als wollte sie ihn begrüßen. Er lächelte über diesen Gedanken und bewegte seinen schweren Kopf etwas zur Seite, um nicht weiter geblendet zu werden. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch neben dem Bett. Ein Glas neben einer grünen Wasserflasche stand dort. Beide warfen einen Schatten. Der Schatten der Flasche war dunkel und von helleren Lichtkreisen durchzogen, die durch die Brechung der Sonnenstrahlen im Wasser entstanden. Als kleines Kind hatten ihn diese hellen Flecken immer fasziniert, wie gerade in diesem Moment, vielleicht, weil er sie so lange nicht mehr gesehen hatte. Er blinzelte und im nächsten Moment sah er sie.
Sie lehnte lässig an der grünen Wasserflasche und war gerade einmal halb so groß wie die Flasche. Sie war, einem Menschen, was ihre Körperform anging. Das Bizarre war nur, dass sie ganz lila war, als sei sie in einen Farbtopf gefallen. Ihre Hände, Füße, Haare, die knielange Tunika, die sie trug, selbst die Zähne, die sie ihm lächelnd präsentierte waren lila. Auch die kleinen Flügel schillerten dunkelviolett, fast schwarz. Erst als er diesen Gedanken gedacht hatte fiel ihm überhaupt bewusst auf, dass sie Flügel hatte. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sofort heftig den Kopf geschüttelt, denn ihm wurde bewusst, dass sie ein Hirngespinst sein musste, aber er fühlte sich noch zu schwach, um eine solche Bewegung auszuführen.
Er blinzelte wieder, aber sie verschwand nicht. Sie hatte sich ihm sogar genähert und saß nun auf dem Rand des Schreibtischs, nur zwei Handlängen von ihm entfernt. Sie sah ihn lächelnd an und er beschloss sich diesem Fiebertraum (denn nichts anderes konnte es sein) hinzugeben, denn dieses violette Wesen übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus.
„Wer bist du?“ Seine Stimme war leise und schwach, aber sie verstand ihn wohl.
„Liii-la“, das Wesen legte den Kopf zur Seite und sah ihn erwartungsvoll an.
„Aha, das dachte ich mir fast. Und was willst du hier?“
„Ah, lila lila lila lila!“, das Wesen sprang auf und fuchtelte wild mit den kurzen Armen. Dabei machte es ein so ernstes Gesicht, dass er unter anderen Umständen sicher laut gelacht hätte. Die Kleine (er hatte einfach für sich beschlossen, dass es eine „Sie“ sein musste) sah ihn einen Moment beleidigt an, weil sie sich wohl nicht ernst genommen fühlte, lächelte dann aber wieder und trat einen Schritt auf die Tischkante zu. Sie wippte einige Sekunden auf und ab, bevor ihr Lächeln erstarb und sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete.
„Lila, lilalilalilalilalila, lialaaaaaa“, sie atmete tief ein und er sah das niedliche Wesen fragend an. Was sie ihm sagen wollte verstand er nicht, aber schon die Betonung der einzelnen Worte gefiel ihm nicht. Lila stieß sich mit unglaublicher Kraft vom Tisch ab und landete zielgenau auf seinem Brustkorb. Sie war so unglaublich schwer, dass er glaubte all seine Rippen seien gebrochen. Das Gewicht drückte seine Brust so sehr zusammen, dass er nicht in der Lage war einzuatmen. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Lila saß auf allen vieren auf seiner Brust und sah ihm direkt ins Gesicht, ohne Scham oder Reue. Er versuchte sich zu bewegen, aber er war noch so schwach, hatte sich seit Wochen nicht bewegt und Lila war so unglaublich schwer. Lilas Augen waren auf ihn gerichtet und er versuchte aus ihnen zu lesen. Außer den zwei hellen, violetten Pupillen, die sanft in sein Gesicht blickten und ihn aus irgendeinem Grund beruhigten, konnte er nichts darin erkennen. Trotzdem liefen ihm Tränen über das Gesicht, als er erkannte, dass er nicht atmen konnte, so lange Lila auf ihm saß. „Warum?“, dachte er, „Warum? Was bist du?“ Lila öffnete den Mund und sprach. Sie sagte das gleiche, wie kurz zuvor, aber diesmal verstand er den Sinn. Laut und deutlich hallte es in seinem Kopf und es war das letzte was er hörte bevor er die Augen wieder zum Schlaf schloss: „Ich…bin der Tod.“