Liese und Huhn und ein Ei
Manche Dinge sind Erwachsenen einfach schwer zu erklären. Wie zum Beispiel die Sache mit Huhn.
Huhn war Lieses Henne. Mama und Papa hatten schon viele Hühner gehabt, aber diese Henne gehörte nur Liese allein. Eines Tages im Sommer hatte Liese einfach eines der flauschigen, gelben Küken in die Hand genommen. Es hatte sie mit großen, schwarzen Kükenaugen angesehen und dabei gepiepst. Da hatte Papa ihr das kleine Huhn geschenkt.
"Wie soll es denn heißen?", hatte er gefragt.
"Huhn natürlich!", hatte Liese geantwortet. Manchmal sind Erwachsene eben schwer von Begriff - wie soll ein Huhn schon heißen?
Und Huhn war eine ganz besondere Henne. Als sie allmählich ihr gelbes Flaumkleid gegen hellbraune Federn tauschte, als also ein richtiges, großes Huhn aus ihr wurde, begann sie mit Liese zu sprechen.
Erst waren es nur einzelne Wörter, etwa "Körner", wenn sie essen wollte, oder "Wasser". Aber schon nach ein paar Monaten sprach sie mit Liese, als hätte sie nie etwas anderes getan.
"Papa", sagte Liese. "Huhn kann sprechen."
"Na klar", nickte Papa ernst. "Huhn spricht Hühnersprache. Genauso wie Meiers Kühe Kuhsprache sprechen, und Tante Agathes Hund die Hundesprache beherrscht. Wusstest du, dass Hunde mit ihrem ganzen Körper reden?"
"Nein, Huhn spricht mit mir!", beharrte Liese.
"Ja, sie hält dich wohl für ihre Mutter."
Liese schüttelte den Kopf. "Bestimmt nicht. Huhn ist ja nicht dumm! Sie weiß schon, dass ich nicht ihre Mama bin."
"Woher willst du das wissen?" Papa lachte und wuschelte Liese durch ihre roten Zöpfe.
"Sie hat es mir gesagt", antwortete Liese leise.
Papa lachte nur. Manche Dinge sind Erwachsenen einfach schwer zu erklären.
Huhn wurde größer. Sie war nun immer mit Liese zusammen. Wenn man im folgenden Sommer über Meiers Weide ging, konnte man oft einen kleinen Rotschopf mit einer kugeligen, hellbraunen Henne im Gefolge sehen. Beim Essen saß Huhn neben Lieses Stuhl auf dem Holzboden. Und sogar, wenn Liese in die Sommerschule ging, wartete Huhn brav vor der Tür, bis der Unterricht zuende war.
Nur ihr Schlafzimmer durfte Huhn nicht betreten, das verbot Mama Liese, auch, wenn Liese immer wieder versuchte, Huhn unter ihrem Pullover einzuschmuggeln.
Huhn musste weiter in ihrem Stall schlafen, was ihr aber nichts ausmachte.
Der Herbst kam, und Lieses Eltern waren sehr beschäftigt damit, Vorräte für den Winter zu sammeln. Sie ernteten von den Apfelbäumen am Hang hinter dem Haus, was sie bekommen konnten. Liese sammelte das Fallobst auf, die heruntergefallenen Äpfel, die man nicht mehr essen mochte. Daraus konnte Mama Kompott kochen, dass sie zu Weihnachten zu Hühnerbraten essen konnten.
Liese hatte durchaus nichts gegen Hühnerfleisch, es schmeckte ihr gut. Schließlich sprachen die anderen Hühner ja auch nicht, bloß Huhn tat das, deshalb sollte sie nie gegessen werden.
Als der erste Schnee fiel, kam es Liese vor, als seien sie die reichsten Menschen der Welt. Die Speisekammer war voll von Kompott aus Äpfeln, Hagebutten, Quitten und Blaubeeren, von eingesalzenen Schinken und Würsten, die sie getauscht hatten, Apfelsaft und Apfelwein, und von Mehl, Butter und Käse. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass selbst ein König mehr Essen in seiner Speisekammer aufbewahrte.
Die Tage wurden immer kürzer. Kaum hatte Liese richtig angefangen, im Schnee zu spielen, als meist die Sonne schon wieder versank.
Eines Morgens lag der Schnee so hoch, dass Liese die Haustür nicht aufbekam, um Huhn ihr Frühstück in den Stall zu bringen. Papa musste erst ein Stück kräftig drücken und dann mit der Schneeschaufel einen Weg graben.
"Es ist würmerkalt hier drin", beschwerte sich Huhn als Liese den Stall betrat.
"Du hast Recht", bestätigte Liese und blies ihre rotgefrorenen Finger. Ihr Atem wurde zu kleinen Wolken.
"Ich will eine Decke, sonst bin ich morgen früh ein Tiefkühlhuhn. Es wird nämlich noch kälter."
Liese lief zurück ins Haus. Sie spürte den Frost sogar durch ihre Schuhsohlen. Ihre Zehen fühlten sich wie kleine, kalte Würste an als sie in der Stube ankam.
"Huhn braucht eine Decke", sagte sie zu ihrer Mutter. "Diese Nacht wird es noch kälter."
Ihre Mutter machte große Augen. "Wer hat das denn gesagt? Das Wetter sieht doch ganz gut aus, bisher."
"Huhn hat das gesagt."
"Ah, ja. Na dann will ich doch mal sehen, ob ich nicht etwas für Huhn habe."
Sie kletterte auf den Dachboden und Liese hörte sie in den den Kisten wühlen. Nach einer Weile kam sie mit einer löchrigen, grauen Decke wieder herunter. "Sieh mal", sagte sie. "Das ist eine Decke, die wir früher ganz unten in deiner Wiege liegen hatten. Glaubst du, sie könnte Huhn gefallen?"
Liese nahm die Decke und betrachtete sie kritisch von allen Seiten. "Eine schöne Farbe hat sie nicht gerade. Aber ich glaube, sie wird Huhn warmhalten."
Tatsächlich beschwerte sich Huhn. "Ich hätte lieber eine Decke mit einem hübschen Muster. Bist du sicher, dass deine Mutter keine übrig hat?"
Liese schüttelte traurig den Kopf. "Nein, ich glaube nicht. Die meisten Decken haben wir über unsere Betten gelegt."
"Na ja. Wird schon gehen." Huhn steckte den Kopf unter die Decke und kroch darunter. Dann drehte sie sich um, so dass sich die Decke wie ein Mantel um sie legte. "Ich glaube, ich kann mich daran gewöhnen. Sie ist schön weich. Findest du, dass das Grau zu meinen Augen passt?"
Liese überlegte. "Ja, doch."
Huhn hüpfte zum Stallfenster und sah hinaus. "Schau mal, der Mond ist schon aufgegangen, obwohl es noch nicht mal richtig Nachmittag ist. Es ist ein Vollmond."
"Ich finde, er sieht aus wie ein dickes, großes Hühnerei."
Huhn legte den Kopf schief und gackerte zweifelnd. "Wenn das ein Ei ist, dann stecken die Leute in große Schwierigkeiten, wenn da mal ein Huhn ausschlüpft. Für so ein Riesenhuhn wären die Menschen nur Würmer."
"Meinst du, es würde sie essen?"
"Wenn es ihre Sprache nicht versteht, was bliebe ihm übrig?" Huhn pickte auf dem Stallboden herum, obwohl dort sicher keine Körner mehr lagen.
Außer Huhn war nur noch eine magere, alte Henne übrig, die bewegungslos in einer Ecke hockte. Sie hatte schon lange kein Ei mehr gelegt, und auch Huhn selbst hatte seit Wochen keines zustande gebracht.
"Papa sagt, wir werden das alte Huhn bald essen müssen", sagte Liese. "Im Herbst dachte ich, dass unsere Vorräte ewig halten, aber bei dem Schnee können wir nicht ins Tal. Das meiste haben wir schon gegessen."
"Haben wir noch Körner?", fragte Huhn.
"Schon einige."
"Dann ist es gut. Ihr könntet auch Körner essen, das ist sehr gesund."
"Nicht für Menschen", antwortete Liese. "Zumindest nicht nur, sagt Mama immer. Man soll viel Brot und Körner essen, aber etwas Fleisch muss auch sein, sagt sie." Liese schwieg und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden. Auch Huhn scharrte ein wenig. So kratzten sie eine Weile herum, während Liese ein Gedanke im Kopf herumtobte wie eine verrückte Katze. "Du, Huhn", begann sie schließlich. "Wie fühlst du dich eigentlich dabei, wenn wir die anderen Hühner essen."
Huhn hielt im Scharren inne und legte den Kopf schief als müsse sie auf etwas horchen. "Na, ehrlich gesagt, begeistert bin ich nicht davon. Aber letztlich sind es nur Hühner, oder? Sie können ja nicht sprechen."
"Aber warum kannst du dann sprechen?"
Huhn gackerte. "Warum kannst du sprechen?", fragte sie zurück.
Liese überlegte. "Ich glaube, ich habe Mama und Papa einfach so lange zugehört, bis ich es konnte."
"Siehst du, genauso habe ich es gemacht."
"Aber die anderen Hühner hören uns doch auch sprechen", erwiederte Liese.
"Das stimmt. Und anscheinend lernen sie nichts daraus, deshalb denke ich, es geht schon in Ordnung, wenn ihr sie esst. Aber es gibt schon ein paar Tiere, die sprechen können. Ich kenne zum Beispiel ein Eichhörnchen, das hört gar nicht mehr auf, wenn es einmal angefangen hat. Und dann gibt es auch noch die Fuchshexe ..."
Liese sah wieder aus dem Fenster. "Ich hoffe, das Mondhuhn ist genauso klug wie du. Sonst sind wir wirklich in Schwierigkeiten."
Huhn kam angekrochen und bemühte sich dabei, die Decke nicht zu verlieren. Sie schmiegte sich ganz nah an Lieses Arm, so dass diese die weichen Daunen an Huhns Hals spüren konnte. "Mach dir keine Sorgen. Ich glaube, de Mond ist einfach nur ein großer Stein."
Es kam der Tag, an dem Papa das alte Huhn schlachten musste. Sie aßen davon so lange sie konnten, Hühnergeschnetzeltes in kleinen Portionen, dann immer ein wenig Eintopf mit allem, was in der Speisekammer übrig war, schließlich Hühnerbrühe.
Doch irgendwann war auch das zuende, genauso, wie die anderen Vorräte zu einem kümmerlichen Rest geschrumpft waren.
Und immer noch war der Winter nicht vorbei.
Am Abend saßen sie am Tisch und tunkten hartes Brot in einen letzten Rest Brühe.
"Liese", sagte Papa und strich ihr dabei ganz sanft übers Haar. "Liese, es kann sein, dass wir Huhn auch bald schlachten müssen."
Liese wurde plötzlich ganz kalt, obwohl ein warmes Feuer im Kamin brannte. Sie merkte, wie sich Tränen aus ihren Augen drückten. "Aber das geht doch nicht! Huhn spricht doch!"
Papa und Mama wechselten einen Blick. "Hör mal Liese, wir haben zwar noch ein wenig Essen, aber ..." Papa zögerte. "Wenn das auch ausgeht ..."
"Nein!", schrie Liese. Tränen liefen ihr jetzt die Wangen hinunter.
"Liese, es ist doch letztlich nur ein Huhn."
"Aber Huhn spricht! Sie sagt selbst, dass wir die anderen Hühner ruhig essen dürfen. Nur sie nicht!"
Papa legte seine Hand auf ihren Arm. "Es ist schön, dass du dich so für ein Tier einsetzt. Trotzdem musst du dich mit dem Gedanken abfinden."
Liese riss ihren Arm los und lief hinaus in den Schnee. Es war kalt und dunkel, und wieder fühlte sie die Kälte des Schnees durch ihre Schuhsohlen.
Ihre Eltern riefen hinter ihr her, aber sie hörte nicht darauf. Sie rannte zum Stall.
Huhn saß in die Decke gekuschelt in einer Ecke und hatte einen Flügel über den Kopf gelegt. Ihr Schnabel schoss hoch, als Liese hereinplatzte.
"Sie wollen dich schlachten", schluchzte Liese.
Huhn sah sie traurig an. "Das ist schlimm."
Liese nahm Huhn auf den Arm und drückte sie vorsichtig an sich. Gemeinsam lauschten sie, wie der Wind um den Stall pfiff.
"Ich habe eine Idee", sagte Liese nach einer Weile. "Aber wir müssen warten, bis die Sonne aufgeht."
Bis es so weit war, wachte Liese über Huhn.
Als es schließlich dämmerte, machten sich Liese und Huhn gleich auf den Weg, um ihren Plan umzusetzen.
Viel später ging Liese zurück ins Haus. Ihre Eltern erwarteten sie schon. Sie sahen erleichtert aus, sagten aber nichts. Auch Liese schwieg. Sie ging sofort ins Bett, konnte dann aber nicht einschlafen, sondern warf sich noch lange hin und her. Hoffentlich klappte ihr Plan. Schließlich schlief sie doch noch ein wenig.
Gegen Mittag ging Mama in den Stall, um nach Huhn zu sehen. Sie fand sie eng in die Decke gewickelt. Leise schlich sie sich an, und stülpte rasch einen kleinen Sack über die kuglige Henne in der Decke.
Sie trug das Bündel in die Küche, wo Papa bereits mit einem großen Messer wartete. Er sah sehr traurig aus.
Seltsam! Huhn wehrte sich überhaupt nicht. Sie saß nur ganz ruhig in dem Sack.
Als Mama sich umsah, spähte Liese gerade um den Türrahmen. Mama zog es das Herz zusammen bei dem Anblick. Aber Liese sah gar nicht so traurig aus, eher aufgeregt.
Mama legte das Bündel auf den Tisch und öffnete den Sack. Die zusammengerollte Decke fiel heraus und blieb auf dem Tisch liegen.
Das war eine Überraschung, als Mama danach griff und plötzlich ganze Hände voller Nüsse herausrollten!
Mama und Papa standen vor Verblüffung die Münder offen.
Hinter sich hörten sie ein helles Lachen. Liese stand dort und klatschte in die Hände. "Haben wir nun wieder genug zu essen?"
"Aber ...", begann Mama, "wo hast du denn all die Nüsse gefunden?"
Liese faltete die Hände hinter dem Rücken und wiegte sich hin und her. "Huhn erzählte mir, dass auch manche andere Tiere sprechen. Es gibt Wildschweine, Rehe, sogar Eichhörnchen, die uns verstehen können. Da hatte ich die Idee, sie um Hilfe zu bitten. Eichhörnchen wissen so manches Versteck und auch die Schweine können Vergrabenes unter dem Schnee finden."
Endlich ließ Papa das Messer fallen und umarmte Liese ganz fest. Er küsste sie auf die Stirn.
Liese fühlte, dass ihr Gesicht etwas nass wurde. Das lag daran, dass Papa weinte.
"Ich verspreche dir", flüsterte er, "dass ich Huhn nie wieder etwas tun werde. Glaubst du mir das?"
"Ja, Papa", antwortete Liese. "Das glaube ich dir."
"Aber wo ist eigentlich Huhn?", fragte Mama.
Liese führte sie nach draußen. Dort saß Huhn unter dem Brennholzstapel. Sie zitterte etwas, sah aber sonst ganz fröhlich aus. Als sie die drei sah, gackerte sie leise.
"Was sagt sie?", fragte Papa.
"Sie fragt, ob ihr wisst, was heute für ein Tag ist."
Mama schlug die Hand vor den Mund. "Das haben wir ja ganz vergessen!"
Liese runzelte die Stirn. "Wieso denn? Was ist denn für ein Tag?"
"Es ist doch Weihnachten!", rief Mama.
Sie lachten. Wieder gackerte Huhn etwas.
"Huhn sagt, dass sie ein Geschenk für euch hat", übersetzte Liese.
"Da bin ich aber gespannt", sagte Papa.
Erwartungsvoll hockten sie sich vor den Holzstapel.
Huhn genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, rutschte etwas hin und her und stand schließlich langsam auf. Sie hatte auf etwas hellbraunem gesessen, etwas glattem, rundem.
"Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe", flüsterte Mama mit glänzenden Augen.
Und Huhn nickte zufrieden. "Das ist ja auch das schönste Ei, das ich je gelegt habe", sagte sie leise.