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Lieblinge im Netz
Lieblinge im Netz
Simon warf die Schlüssel auf das Regalbrett, das lieblos an die Flurwand geschraubt war. Vom Vormieter, oder den alten Pharaonen, oder sonstwem.
In der Küche brannte Licht. Er fluchte leise vor sich hin. Wer hätte ihn auch hören sollen? Er war ja allein. Mal wieder das Ausschalten vergessen. Er hasste den Winter, das ewige Lampenlicht und den Weg von der U-Bahn nach Hause durch matschigen Schnee. Nicht viel weniger Abneigung hatte er allerdings gegen die ungespülte Kaffeetasse auf dem zerkratzten Tisch. Unwirsch stellte er sie auf die Spüle hinüber. Später. Ordnung machen konnte er immer noch später.
Der Fernseher lief, wie immer. Tonlos, weil sinnlos. Nur Liebesschnulzen aus grauer Vorzeit, oder TV-Serien einer unseeligen Gegenwart. Innovationslose Spielshows zur Primetime. Oder Wodka aus der Flasche.
Auf der Suche nach ein wenig Leben horchte er auf das Piepen des Rechners beim Hochfahren und das anschließende Quietschen des Modems. Seine digitale Tonleiter der Qualen. Jedenfalls, wenn er anschließend keine e-mails bekam. So, wie heute.
Während das Fernsehprogramm im Hintergrund ins Zimmer flimmerte, klickte er ziellos auf beliebige Links, von Seite zu Seite. So wie früher von Bar zu Bar, als er noch Freunde gehabt hatte.
‚Ist meine Katze magersüchtig?'
Simon warf einen zweifelnden zweiten Blick auf den Link. Was auch immer sich dahinter verbarg: Es versprach, skurril zu werden.
Die Seite war gelb. Über und über gelb. Und Haustiere aller Art flatterten und rannten durch die Kopfzeile.
‚Was Sie sich schon immer gefragt haben: Hier antwortet Ihr Tier!'
‚Was die Welt nicht braucht!', denkt er. Eine Haustierseite! Wer sich mit so einer Scheiße beschäftigt, der hat echt ein Problem. Nach einigen weiteren Klicks hat er seine vorläufige Lieblingsrubrik gefunden: ‚Krankheiten'.
Ein Bild nach dem anderen von pockenübersähten Kaninchen, erblindenden Hunden und einem lahmenden Hängebauchschwein namens Isolde. Er amüsierte sich großartig.
Nicht, dass er etwas gegen die Viecher hätte. Aber der verbissene Ernst, mit dem ihre Besitzer hier jeder Regung und Veränderung ihrer Lieblinge auf den Grund zu gehen suchten, verschlug ihm den Atem. Wie konnte man in über zwanzig Postings darüber diskutieren, wie man die Depressionen eines Jagdhundes diagnostizieren konnte, um dann einen Link zu setzen, und von vorn zu beginnen. Wie zaubert man diesem Hund wieder Frohsinn in sein Leben?
Eine Frau wollte wissen, ob sie ihre Huskey mit nach Barcellona nehmen könne, ein Mädchen hatte einen Piranha, und weigerte sich, ihm Lebendfutter zu geben. Der Arme schwamm jetzt als Grätenklappergestell zwischen verwesenden Gemüseresten. Und ein Mann hatte eine Schlange, die das Kaninchen seiner Tochter gefressen hatte. Jetzt machte er sich Sorgen, die Haut der Schlange könne platzen. Simon kiecherte.
Impulsiv klickte er auf ‚Antworten' und das Anmeldefenster öffnet sich. ‚Antworten können nur von registrierten Usern geschrieben werden. Aber seien Sie ein Tierfreund und beteiligen Sie sich aktiv an unserem Forum.'
‚Na, wenn ihr das so wollt, das könnt ihr haben!' Auf der Suche nach einem Nickname warf er einen Blick auf den Fernseher, der immer noch ohne Ton lief. Ein Köter hüpfte wie besessen an einer Hausfrau mit Einkaufstüte hoch. Beinahe konnte man glauben, er würde hineinbeißen. Dann aber servierte sie ihm Sülze mit Salat, oder die Hundevariante aus der quadratischen Schüssel.
‚bag biter', schoss es ihm durch den Kopf. Den Ausdruck hatte er schon mal gehört. Irgendwo, irgendwie. Ein cooler Nick.
Zögerlich schrieb er ein paar Kommentare, gab Ratschläge. Eine Ratte, die sich wieder und wieder von der Tischkante auf den Boden fallen ließ, hielt er für suizidgefährdet. Er kicherte in sich hinein.
‚Diese Ratte hat meiner Ansicht nach schwere Migräne. Dasselbe Problem hatte ich sowohl schon mit einer Ratte, wie auch einem Hamster.' Noch nie ein Tier besessen. ‚Das lässt sich therapieren! Du musst aber schnell handeln. Löse vier Tabletten Aspirin in zwei Esslöffeln Wodka auf. Das gibst Du ihm unters Futter. Und zwar drei Mal täglich.'
Was ihm half, durfte für eine Ratte schon doppelt dosiert werden. Die vierzehnjährige Besitzerin der Ratte bedankte sich überschwänglich und irgendwie freut es ihn, als sie am nächsten Tag schreibt, der Ratte ginge es besser.
‚Migräne ist langwierig. Setz die Behandlung lieber noch ein paar Tage fort!'
Von nun an besucht er die Tierseite täglich. Kommentiert und spielt den Fachmann. Man beginnt sogar, ihn nach seiner Meinung gezielt zu fragen. Die e-mails trudeln eine Weile lang regelmäßig ein. Dann aber lagen seine Ratschläge einige Male zu weit von der Realität entfernt. Man begann, ihn zu kritisieren und letztendlich zu verspotten. Gefolgt von einer Phase weitgehenden Ignorierens.
Er konnte unmöglich behaupten, von all den dämlichen Viechern Ahnung zu haben. Ein paar Tage hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich als Tierarzt auszugeben. Um ein paar weitere Türen aufzustoßen. Aber so sehr er sich und sein Leben auch hasste, das konnte er nicht tun. Eingestehen, dass er nicht war, wofür er sich ausgab? Es so öffentlich niederschreiben, dass er sich verachtete? Er brachte es nicht über sich.
Und dann stolperte er tatsächlich noch über die Katze mit der Magersucht. Er hatte gedacht, es wäre nur ein Lockbeispiel gewesen, so wie die Porno-Miezen in süßen T-Shirts, mit denen die Flirtseiten warben.
Aber stattdessen befand es sich als dringliche ‚Frage des Tages' ganz oben in der Liste unter ‚Ernährung / Verpflegung'.
Ungläubig folgte Simon der Diskussion. Das Bild einer Hauskatze, die in seinen Augen recht normal wirkte, wurde gefolgt vom Bild eines weißen, geschorenen Pudels.
‚Mizzie, fünf Jahre alt, wohnt seit vier Jahren bei meinem Mann und mir. Wir sind gute Freunde und genießen die Zeit. Vor sechs Monaten aber beschloss Clarissa, bei uns einzuziehen. Sie ist eine weiße Rassepudeldame und ein Jahr alt. Clarissa ist eine wahre Bereicherung unserer kleinen Familie. Wir möchten mit ihr von März auf Hundeschauen fahren, denn sie ist eine wahre Königin.
Unser Glück wird einzig davon getrübt, dass Mizzie seit Clarissas Ankunft beinahe nichts mehr frisst. Wir haben nun die Befürchtung, dass sie eine Form von Magersucht entwickelt hat, weil ihr Clarissas überwältigende Schönheit und dieser schlanke Körper Komplexe gemacht haben.'
Simon nahm einen tiefen Schluck aus der Wodkaflasche. Gab es wirklich noch Menschen, die kränker waren, als seine eigenen Freunde? Die waren damit beschäftigt, Kinder großzuziehen, oder ihre Karrieren zu pflegen. Menschen mit Zukunftsplänen, die auf einer Briefmarke Platz gefunden hätten. Sie lebten so sehr im sogenannten Heute, dass sie für alles, was darüber hinaus ging, keine Zeit mehr hatten. Versager, die sich zu früh im Leben festgelegt hatten, sesshaft geworden waren und bieder. Sie verachtete er sogar mehr, als den Winter und beinahe so sehr, wie sich selbst vor dem ersten Kaffee.
Er scrollte über die Antworten, die zu vielerlei Methoden rieten, um dem armen Tier zu helfen, und murmelte vor sich hin. Hat denn noch niemand davon gehört, dass Hund und Katze sich nicht vertragen? Von so einem riesigen Fellbüschel wäre doch wohl jede Katze eingeschüchtert.
Eigentlich hatte er dazu nur schreiben wollen, die sollten sich nicht alle so aufregen. Aber in dem Moment, als das Fenster sich öffnete, nahm er einen weiteren Schluck Wodka und traf einen Entschluss.
‚Rasier das Vieh so, wie Deinen verdammten Schicki-Micki-Hund. Dann wird sie sich schon wieder beruhigen. Dämliche Jammerzicke!'
Das war sein großer Coup gewesen. In den nächsten Tagen kam er kaum mehr zur Ruhe. Kaum hatte er die Wohnungstür aufgeschlossen, saß er vor dem Rechner und verfolgte die Entsetzensstürme, die seine Ratschläge hervorriefen.
Einen Hamster in Essig zu baden, um seinen Schüttelfrost zu beenden, einen Wellensittich im Kühlschrank zu lagern, damit er nicht zu schnell altert. Katzen in der Badewanne Schwimmunterricht zu geben. Den Fischen am Wochenende ein Bier zu gönnen, damit sie endlich Junge kriegen würden. Kaugummi für eine fettleibige Schildkröte, Morphiumspritzen für ein hyperaktives Pony und eine altersschwache Schlange mit Olivenöl einzureiben, damit sie schneller gleiten konnte. Kein Tier war vor ihm sicher.
Seine Kreativität blühte auf, wie seit Jahren nicht mehr. Je mehr Wut er auf sich zog, desto mehr Elan verwandte er darauf, sich möglichst abstruse Behandlungen auszudenken. Man hasste ihn. Spätestens, seit die Ratte an einer Überdosis Aspirin gestorben war. Oder vielleicht auch am Wodka. Wer auch so dämlich sein konnte!
Heute Abend erreichte er ein neues Level. Den ganzen Tag über hatte er Behandlungen ausgeklügelt. Mittlerweile stürzten sie schneller auf ihn ein, als er tippen konnte. In nur vier Stunden gelang es ihm, mehr als zwanzig alteingesessene Mitglieder aus der Fassung zu bringen, vierunddreißig Tieren aller Gattungen den vorzeitigen Garaus zu schreiben und über zweihundert Reaktionen zu bekommen. Vor Hass triefende Reaktionen.
‚Ihr Kleingeister! Euer Leben ist arm und nutzlos. Es gilt, eine höhere Eben zu erreichen, nicht das perfekte Katzenstreu zu finden. Hättet Ihr ein echtes Leben mit echter Bedeutung, würde man nicht am Samstag Abend eine solche Parade von Jammerlappen hier antreffen! Ich habe Mitleid mit Euch.
In tiefer Trauer,
der einzige Wahre, bag biter!'
Ein tiefer Schluck aus der Flasche und das entspannte Aufatmen nach einem erfolgreichen Tag.
Stunden später sickerte aus dem Bildschirm lautlos die Figur einer toten Ratte. Gefolgt von einem Piranha, einem Pony, einer Horde von Hunden, einem Geschwader von Katzen und einer Flotte anderer Tiere. Sein Kopf war auf die Tastatur gesunken, ruhig schlafend, noch mit dem befriedigten Lächeln auf den Lippen, wahrlich Großes geleistet zu haben. Unhörbar brachen sie über hin herein, zerfleischten ihn bis auf die Knochen und lösten sich anschließend zögernd in weichen Rauch auf. Der automatische Logout beendete das Szenario eine Stunde später und ließ ihn allein zurück.