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Liebesbriefe
Bist du jemals einem Menschen begegnet, der in dir den impulsiven, unverständlichen Wunsch auslöste, jedes kleinste Detail aus seinem Leben zu kennen? Eine Person, durch die dich eine plötzliche, unwiderstehliche Faszination beherrschte und einfach nicht verstehen kannst, woher diese kommt? Und du kannst dir nicht vorstellen, dass auch nur die kleinste, belangloseste Information, die mit dieser Person verknüpft ist, für dich in irgendeiner Weise uninteressant sein könnte? Alles, jede Angewohnheit, jedes Erlebnis, jeder Besitz, jede Bekanntschaft, jeder Charakterzug, jedes Interesse, jede Vorliebe dieser Person, jeder verdammte Quadratzentimeter ihres Körpers ist so elektrisierend spannend, fesselnd und faszinierend, dass du von der ersten Begegnung an gar nicht anders kannst, als alles, wirklich alles über diese Person herausfinden zu wollen. Bist du so einem solchen Menschen schon mal begegnet?
Marina Kovalic ist ein solcher Mensch. Ich liebe sie auf eine übermächtige Art und ich könnte platzen vor Stolz und weinen vor Glück, dass sie in mein Leben trat. Obwohl wir nun schon so lange zusammen sind, so viele unvergessliche Erlebnisse miteinander teilen, sinkt mir mein Herz doch jedes Mal bis in die Kniekehlen, wenn ich sie sehe. Mein Hals wird trocken, meine Hände leicht schwitzig, in meinem Bauch breitet sich eine wohlige Wärme aus und ich kann kaum klar denken.
Ich sitze an meinem Schreibtisch, starre das eingerahmte Foto von Marina an, das an meiner Wand hängt, dann lese ich zum vierten Mal den Brief. Immer noch fassungslos lese ich ihn noch ein fünftes und sechstes Mal. Absender: Kovalic. Kein Vorname, nichts. Zwei Seiten säuberlicher Computerschrift, einige Sätze verstehe ich nicht einmal. So kann es doch nicht enden. Meine Faust kracht auf den Schreibtisch.
Ich stehe auf, gehe auf und ab, setze mich wieder an den Schreibtisch.
Wieder starre ich auf das Foto, auch wenn mein Herz dabei fast zerspringt. Ihre dunklen Locken, die braunen Augen und ihre vollen Lippen ziehen mich in ihren Bann, einen Augenblick lang erstarre ich.
So soll es mit uns enden? Das kann ich nicht zulassen. Ich kann dich nicht verlieren.
Wir lernten uns vor drei Jahren kennen, als ich in der zehnten Klasse an ihre Schule, das Immanuel-Kant-Gymnasium, wechselte. Ich saß in Englisch und Biologie neben ihr, so nahm das mit uns seinen Anfang.
Inzwischen kann ich von mir behaupten, einiges über Marina zu wissen. Wenn auch längst nicht genug.
Marina wurde am 04. August 1998 geboren. Ihre Eltern, Magarete und Stjepan Kovalic, sind Anwälte, sie haben sich wohl beim Studium in Stuttgart kennengelernt. Stjepan ist Kroate, seine Eltern kommen aus einem Ort in der Nähe von Zagreb. Ihm werden in anonymen Internetforen Kontakte zur kroatischen Ustascha, einer gewaltbereiten, rechtsradikalen Vereinigung, vorgeworfen. Er schwört, dass das alles frei erfunden wurde, um seine Karriere zu ruinieren. Da das aber durchaus der Fall wäre, würde jemand diese Vorwürfe glaubhaft publik machen, geht er mit aller rechtlichen Härte gegen mögliche Veröffentlichungen vor, sodass seine Kanzlei weiterhin einen guten Ruf genießt. Nichts wird uns unsere hart erarbeitete Karriere ruinieren, schwört er Magarete.
Marina wuchs als Einzelkind auf. Ihre Eltern arbeiteten viel, lasen ihr aber jeden Wunsch von den Lippen ab. Jede Barbie, jede Spielkonsole, jedes Handy bekam sie sofort. Zu ihrem achten Geburtstag bekam sie sogar ein Pferd, mit dem sie noch heute fast jeden Sonntag ausreitet.
Marina sagt, dass sie sich manchmal für diese Privilegien schäme, wenn sie Bettler auf der Straße oder hungernde Kinder in Afrika sieht. Ich bewundere sie für diesen Gedanken.
Stjepan und Magarete machten Marina früh klar, dass sie dennoch eine Gegenleistung für ihre Geschenke erwarteten: Gute Noten. Bei jeder Vier oder gar einer schlechteren Note, die Marina schrieb, wurde Marina in die Nachhilfe für das betreffende Fach geschickt.
Den letzten Nachhilfelehrer hatte sie in der siebten Klasse für Biologie (ein Herr Freitag, der mit dem Geld, das er bei der Nachhilfe verdiente, sofort ins Kasino ging und erst spät nachts wieder herauskam), danach schrieb sie keine Vierer mehr, ab der Oberstufe auch keine Dreier.
Draußen ist es schon dunkel geworden. Ich sitze vor meinem Laptop. Der Brief, den ich in einem weiteren Wutanfall zerknüllt habe, liegt wieder glattgestrichen neben mir.
Ich klicke auf einer Website herum, öffne meinen E-Mail-Account. Noch keine Antwort. Sieben Anfragen habe ich abgeschickt. Irgendwer wird sich doch wohl melden.
Unwillkürlich wandern meine Augen wieder zu dem Foto. Warum zwingst du mich, das zu tun?
Nach ihrem Abitur von 1,6 war Marina für drei Monate zur Freiwilligenarbeit in Südafrika. Es war hart für mich, sie so lange nicht zu sehen, jetzt studiert sie aber - ganz nach dem Wunsch ihrer Eltern – Jura hier in Bonn. Ihr gefällt das Studium, auch wenn sie viel Zeit in der Uni-Bibliothek verbringen muss.
Ihr Zimmer befindet sich im ersten Stock des Reihenhauses der Kovalics in einer ruhigen Gegend, zwei große Fenster zur Straße hinaus geben tiefe Einblicke für Passanten. Die mit alten Fotos behängten Wände sind in einem weichen Gelb gestrichen, sie hat ein gigantisches Himmelbett und ein riesiger Schrank, der mit Unmengen an Klamotten gefüllt ist.
In der untersten Schublade der kleinen Kommode neben der Tür befindet sich ein kleiner Karton, darin versteckt sie ihr Tagebuch. Man braucht einen Schlüssel, um es zu öffnen, und diesen Schlüssel hält sie gut versteckt.
Marinas Großmutter, Elfriede Schmidt, wohnt ebenfalls bei den Kovalics, seit ihr Mann vor vier Jahren bei einem Schlaganfall gestorben ist. Elfriede ist senil und träge, die meiste Zeit verbringt sie allein in dem großen Haus in der Küche mit einer Lupe vor einer Zeitschrift mit Kreuzworträtseln. Weil sie so einsam ist, ist sie immer auf der Suche nach einem Gespräch. Mehrmals hat sie Leute, mit denen sie auf ihrem täglichen Spaziergang ins Gespräch kam, zu einem Kaffee eingeladen. Stjepan wurde sauer und verbat ihr, fremde Leute ins Haus zu lassen, doch weil sich Einsamkeit nicht verbieten lässt, lädt Elfriede weiterhin ihre zufälligen Bekanntschaften ein, wenn niemand da ist.
Ich reibe mir die Augen und gähne. Ich könnte ins Bett gehen, aber ich könnte sowieso nicht schlafen.
Eine Weile versinke ich wieder in dem Bild von Marina, dann wende ich mich wieder dem Brief zu. Ich weiß nicht, zum wievielten Mal ich ihn heute lese. Es ist eine kurze, aber deutliche Botschaft:
Sehr geehrter Herr Meyer,
Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass ihre Aktivitäten der letzten Wochen keineswegs unbemerkt geblieben sind und wir ihre Identität kennen. Sollten Sie nicht unverzüglich aufhören, unserer Tochter nachzustellen, sie zu beobachten und zu verfolgen, werden wir keine Scheu haben, rechtliche Schritte einzuleiten, die für sie zu empfindlichen Strafen führen werden (StGB §238 sieht bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe vor).
Marina hat keinerlei Interesse an Ihnen, sie fürchtet sich vor Ihnen und möchte keinen Kontakt mit Ihnen.
Bitte sehen Sie dies als letzte Verwarnung und als Zeichen unseres Willens, von gerichtlichem Vorgehen abzusehen. Sollten sie Marina allerdings weiterhin nachstellen, sehen wir uns zu diesen Schritten gezwungen.
Herzliche Grüße,
Familie Kovalic
Beim ersten Satz verziehen sich meine Lippen zu einem schmallippigen Grinsen. Dass sie glauben, meine „Aktivitäten“, wie sie es nannten, beziehen sich nur auf die letzten Wochen, zeigt, wie wenig Ahnung sie haben.
Mein Laptop gibt ein helles Pling von sich. Eine neue Nachricht blinkt in meinem Postfach. Ich öffne die E-Mail, darin ist ein Bankkonto angegeben. Ein Foto befindet sich im Anhang. Jackpot.
Ich überweise den geforderten Betrag auf das Bankkonto, erstelle einen Screenshot vom Zahlungsausgang und versende ihn per E-Mail. Minuten später ploppt eine neue Nachricht in meinem Posteingang auf. 73 Fotos im Anhang. Ich drucke sie aus, dann gehe ich schlafen.
Es ist merkwürdig. Ich liebe Marina, und doch fühlt es sich richtig an, dass wir das letzte Mal miteinander geredet haben, als ich sie in der zwölften Klasse nach einem Radiergummi fragte. Sie ist ein Teil meines Leben geworden. Ein Teil, der so aufregend ist, dass ich gar nicht anders kann, als jedes Detail, das mir bisher noch verborgen war, zu erforschen.
Ich kenne Marina besser als mich selbst und hin und wieder werde ich stutzig, wenn eine Erinnerung auftaucht, ob sie meinem oder Marinas Leben entspringt. Mein Leben ist schmerzlich langweilig und ich hasse jede Minute, die nichts mit ihr zu tun hat.
Ich bin friedlich, warum verstehen sie das nicht? Niemals würde ich ihr etwas tun. Eigentlich beschütze ich sie sogar, mache mich schlau über Personen, die sie so einfach so in ihr Leben lässt, ohne irgendetwas über ihren Hintergrund zu wissen. Was, wenn sie einmal an den Falschen gerät? Ich bin ihr Schutzengel.
Die Türglocke spielt eine kurze Melodie, wenn man sie betätigt. Es dauert Minuten, bis die weiße, hölzerne Tür aufschwingt und ein faltiges Gesicht erscheint. Es strahlt, sodass man nur noch Falten, kein Gesicht mehr sieht.
„Guten Morgen, Elfriede“, sage ich.
„Kilian! Oh, wie schön, dass du da bist!“
Elfriede tippelt zur Seite, damit ich eintreten kann.
„Es ist doch niemand zu Hause?“, frage ich.
„Nein, nein, niemand.“
Elfriede geht mit kleinen Schritten in die Küche, ich folge ihr.
„Kaffee mit etwas Milch wie immer?“, fragt sie. Wieder überrascht sie mich, wie viel sie sich merken kann, während sie im nächsten Moment wieder vergisst, den Herd auszuschalten oder das Klofenster im Erdgeschoss - das groß genug ist, um hindurch zu klettern - zu schließen. „Nein, danke“, antworte ich, „ehrlich gesagt wollte ich nur kurz vorbeikommen, weil ich glaube, dass ich mein Handy beim letzten Mal hier vergessen habe.“
„Oh.“ Elfriede schiebt die Unterlippe nach vorne. „Schade.“
„Hier in der Küche sehe ich es nicht. Ich sehe schnell auf der Toilette nach.“
Ich gehe durch den Flur, an der Toilette vorbei und die Treppe hinauf. Ich öffne die Tür zu Marinas Zimmer, atme ihren Duft, schließe einen Moment lang in Augen. Am liebsten würde ich länger bleiben, vielleicht noch einmal nach dem Schlüssel zu ihrem Tagebuch suchen, doch ich muss weiter.
Schweren Herzens schließe ich die Tür, gehe den Flur entlang zu Stjepans Arbeitszimmer. Es ist abgeschlossen. Ich recke mich nach dem Schlüssel, der oben auf dem Türrahmen liegt.
Stjepan hat aufgeräumt, es liegen keine Akten herum. Ich zerre den Umschlag aus meiner Hosentasche, streiche ihn glatt und platziere ihn in der Mitte des Schreibtischs.
Dann gehe ich zurück zur Tür, überprüfe, dass der Brief sofort ins Auge springt. Er muss meine Macht demonstrieren. Dass ich überall bin, nichts vor mir verborgen bleibt. Dass ich alles weiß, alles sehe, zu jedem Zeitpunkt. Nichts entgeht mir, das sollen sie wissen.
Ich schließe die Tür wieder ab und gehe hinunter.
„Du wirst doch nicht verraten, dass ich hier war?“, sage ich und lasse es klingen, als wäre ich um sie und nicht um mich besorgt.
„Natürlich nicht. Die stecken mich sonst noch in so ein Heim!“ Beim letzten Wort verzieht sich Elfriedes Gesicht zu einer erbosten Fratze, die noch mehr Falten wirft als ihr Lächeln. „Ich sage sowieso immer, dass ich den ganzen Tag nur spazieren war.“ Jetzt grinst sie komplizenhaft.
„Gut, lass dich bloß nicht erwischen“, sage ich, „Jetzt muss ich aber los.“
„Wann kommst du denn mal wieder zum Kaffee vorbei?“
„Morgen, vielleicht übermorgen. Tschüss!“
Der Brief beteuert meine guten Absichten. Dass ich Marina, oder irgendwem, der ihr Nahe steht, niemals ein Haar krümmen würde. Ich will nur bei ihr sein, ihr Leben mitverfolgen. Darauf achten, dass ihr nichts zustößt. Das ist alles.
Natürlich würde kein Vater der Welt das zulassen. Außer man bedroht etwas, woran ihm vielleicht noch etwas mehr liegt, als an seiner Tochter.
Der Umschlag enthält eine kleine, freundliche Drohung: Eine von mir zusammen gestellte Auswahl an Fotos. Sie zeigen Stjepans zahlreiche Treffen mit den führenden Köpfen der kroatischen Ustascha. Stjepan schüttelt Hände, ist in eine Diskussion vertieft, übergibt einen Koffer, stößt sein Bierglas gegen die andere, umarmt die Männer zum Abschied. Danach kommen noch Aufnahmen von weiteren Treffen. Es bleiben keine Zweifel offen.
Die Bilder sind echt, doch eigentlich spielt das keine Rolle. Auch Fotos, die sich hinterher als Fälschung herausstellen, würden sich schnell verbreiten, sodass Stjepan wohl keinen seiner Klienten halten könnte.
Stjepan steht vor einer Entscheidung. Seine Tochter oder seine Karriere. Und ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, wie er sich entscheiden wird.