jerado
Guest
Lieber Unbekannter!
Ich schaue auf meine Uhr. Ich sitze schon seit einer halben Stunde hier. Es macht mir nichts aus, denn ich warte auf dich. Jeden Donnerstag sitze ich ab 18 Uhr hier auf der Bank unter den drei Tannen. Seit fünf Wochen. Seit ich dich hier sah. Das erste Mal. Das einzige Mal.
An jenem Donnerstag saß ich da und habe gelesen. Ich hatte nichts besseres zu tun. Dann kamst du. Stöpsel vom Walkman im Ohr. Zeitschrift in der Hand. Du bist geradewegs auf mich zu gekommen. Ich setzte mein schönstes Lächeln auf, doch du hast dich neben mich hingesetzt, ohne mich auch nur wahrzunehmen.
Gut, dass ich ein Buch dabei hatte, damit ich dich unbemerkt wie ein Spion erkunden konnte. Du bist hübsch, entsprichst dem gängigem Schönheitsideal: Groß, Muskeln, volle Lippen. Die Augen sind blau, wie der Himmel an jenem Tag. Wie wenn sie sich im Himmel spiegeln würden. Oder war es gar der Himmel der sich in deinen Augen spiegelte? Ich weiß es nicht. Nur deine Nase war etwas zu groß. Aber das macht nichts. Es macht dich nur noch sympathischer, da du nun nicht ganz wie einer Calvin-Klein-Werbung entschlüpft wirkst. Nun gut, die Kleidung wäre in der Werbung wahrscheinlich anders. Die Jeans sah schon arg mitgenommen aus.
Du hast den „Spiegel“ gelesen und dein Walkman war so laut gestellt, dass ich gut mithören konnte. Gebildet und guter Musikgeschmack. Ich fand dich immer besser. Während ich mit deinem „Outside“ von „Staind“ mitsummte, nahm ich mir vor, dich anzusprechen. Als ich gerade ausholen wollte, um dich anzutippen, denn hören konntest du mich ja nicht, bist du aufgestanden. Gerade jetzt!
Ich sah dir nach. Ich zu perplex um dir nachzulaufen. Dafür verfluche ich mich noch immer selber. Doch ich war zu feige.
Ich weiß, dass dieser Brief nichts bringen wird, doch er beruhigt mich. Irgendwie. Irgendwelche Teenies werden ihn wahrscheinlich öffnen und Spaß auf meine Kosten haben. Doch das ist mir egal.
Nächsten Donnerstag werde ich wieder hier sein.
L.M.