Lieber ein Lügner mit stahlblauen Freunden
„Das hast du ja wirklich toll hingekriegt.“ Ich hasse es, wenn er so ironisch ist. Ich weiß ja selber, dass ich Scheiße gebaut habe.
„Und was willst du jetzt machen?“ Fragend guckt er mich über den Rand seiner Kaffeetasse an, während er sich mit der freien Hand die stahlblauen Haare aus dem Gesicht streicht.
„Keine Ahnung. Ich geh allen eine Zeit lang aus dem Weg und vielleicht vergessen sie es.“ Meine Hand zittert und ich balle sie zu einer Faust. Mir ist seit Tagen schlecht und ich kann mich einfach nicht beruhigen.
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“ Er sieht mich wieder so durchdringend an, dass ich am liebsten aufspringen und weglaufen würde. Stattdessen beobachte ich die vielen silbernen Ringe an seiner Hand. Ich weiß, dass er mich für schuldig hält und er weiß, dass ich es weiß. Trotzdem würde er mich nie im Stich lassen.
Es fing vor ein paar Wochen an.
In der Schule erzählten sie immer von ihren Abenteuern, ihren kleinkriminellen Freunden, ihren Dealern und ihren Partys.
Ich erzählte vom Wetter, meiner Familie und den Hausaufgaben.
Was hatte ich denn anderes? Nichts. Mein Leben war ein grauer, nichtsaussagender Schlamm, der sich mühsam über die Jahre zieht.
Ich wollte doch nur etwas erleben, nein, ich wollte leben. Ich konnte es nicht wirklich, also musste ich es wenigstens erzählen.
Ich tischte ihnen die bunteste, hellste, schrecklichste, aufregendste Geschichte auf, die sie je gehört hatten. Und sie glaubten mir. Jetzt war ich jemand, man redete über mich.
Man mied mich, man liebte mich. Je nachdem, welche Version der Geschichte sie gehört hatten.
Als ich die Geschichte zum ersten Mal erzählte, sah ich auch die stahlblauen Haare zum ersten Mal. Er fragt mich, ob das alles war wäre. Ich sagte erst ja.
Er verfolgte mich die ganze Zeit. Er wurde mein bester Freund.
Wir gehen über die Straße.
In einer kleinen Stadt wie dieser sieht man immer jemand, den man kennt. Natürlich gucken sie mich alle an, ich bin die Verkörperung einer großen, stinkenden Lüge.
„Lass uns schnell weg von hier.“, zische ich ihm zu.
Er guckt mich mit Mitleid an und zieht mich in den Bus. Ich habe noch nie verstanden, warum er nie etwas bezahlen muss.
„Du hast´s gut. Das wird immer teurer.“ Ich lächle halbherzig und gebe dem Busfahrer das Geld, der mich – wie fast alle – komisch anguckt.
Nach einiger Zeit bemerkten die ersten, dass an meiner Geschichte etwas nicht stimmen konnte. Sie redeten immer noch über mich, aber aus anderen Gründen.
Die Ersten wanden sich von mir ab.
Ich saß gerade auf dem Schulhof, als ein paar Mädchen zu mir kamen.
„Sag mal, dieser Typ von dem du den Stoff hast, wo hast du den noch mal getroffen?“ Ihre Stimme klang hungrig nach der Demütigung anderer Leute.
Ich überlegte kurz, was sie stutzig machte. „ Im Highowl, dass wisst ihr doch.“
„Das Highowl gibt´s seid nem halben Jahr nicht mehr.“ Sie grinste ihre Freundinnen an. „Weißt du, weil...“, ihre Stimme klang gekünstelt freundlich, „ wir bräuchten da noch ein bisschen was für Jacks Party. Wir wissen aber nicht wo wir den Typen finden können und du hast da doch so viel Erfahrung...“
Ich werde nervös und stammele. „Ja also ... ähm ... ich ... ich hab grad sehr viel um die Ohren, wisst ihr.“
Sie hob ihre rechte Augenbraue und guckte sich wieder nach ihrer Gefolgschaft um. „Also ich würde ja sagen, dass das alles nur eine armselige Lüge war, du Freak.“
Und dann gingen sich kichernd und gackernd weg.
Ich schließe die Tür auf und frage mich, warum wir eigentlich nie zu ihm gehen. Ich schiebe den Gedanken beiseite.
„Hallo, ich bin wieder da! Wir sind in meinem Zimmer!“ Ich rufe durch den langen Flur. Meine Mutter erscheint in der Wohnzimmertür, guckt mich hoffnungslos an und schüttelt den Kopf. Dann geht sie wieder.
„Deine Mutter hasst mich. Immer wenn sie sieht, dass du mit mir redest, guckt sie so entsetzt.“ Er schmeißt sich auf das schwarze Sofa.
„Du weißt doch wie sie ist. Konservativ und klischeehaft. Bei deinem Aussehen...“ Ich verziehe mein Gesicht.
Er hebt eine Augenbraue und grinst mich an. „Wie sehe ich denn aus?“
Diese Frage ist einfach und doch schwer. Für mich ist er stahlblau – wie seine Haare.
Für meine Mutter ist er ein ausgeflippter Teenager.
Seine schneeweiße Haut ist ein starker Kontrast zu der dunkelgrauen Jeans und dem gleichfarbigen ärmellosen Shirt. Die schwarzen, riesigen Boots machen auch keinen allzu freundlichen Eindruck. Die vielen silbernen Ringe an seinen Händen glänzen und die silbernen Ketten um seinen Hals klimpern.
Andere Sachen würden nicht zu ihm passen, ihn einengen. Es wäre falsch.
Mittlerweile war jeder Gang zur Schule ein Horror.
Die, die mich gehasst hatten, konnten mich terrorisieren und die, die mich geliebt hatten, machten mir das Leben zur Hölle.
Man sagte nicht mehr meinen Namen, sondern „die Lügnerin“.
Die Jugend lügt oft und fühlt sich oft schlecht dabei. Vielleicht erhofften sie sich mit der Bestrafung einer großen Lügnerin eine Absolution?
Oder aber sie hatten einfach nur Spaß am quälen.
Der graue Schlamm meines Lebens wurde strahlend und stechend hellgrau mit stahlblauen Streifen.
Ich liege neben ihm und mein Gesicht ist nass. Er reicht mir ein Taschentuch und seufzt. Dabei bin ich gar nicht unglücklich.
Ich weiß nicht, warum ich weine. Mein Leben ist nicht mehr langweilig, es ist eine Qual.
Ich bin kein Niemand mehr.
Ich fragte ihn einmal, warum er nicht zur Schule geht. Er sagte, er braucht das nicht.
„Ich kann aber mal mitkommen, wenn du willst.“ Er lächelte und ich nickte.
Der Tag, an dem er mitkam, war ziemlich verwirrend. Schon als wir ankamen, wunderte ich mich über verschiedene Dinge.
Niemand sah ihn komisch an oder sagte Dinge wie: „Was machst du Freak denn hier?“. Die Jungs auf unserer Schule machten so etwas für gewöhnlich. Niemand sprach mich auf ihn an.
Im Unterricht schließlich, wurde es noch komischer. Die Lehrer wunderten sich nicht, dass ich einen völlig fremden (und verrückt aussehenden) Jungen mit in den Unterricht brachte.
Zum Glück war der Platz neben mir in fast allen Fächern leer und so konnte er sich zu mir setzen.
Doch in der letzten Stunde saß normalerweise ein Mädchen namens Chantal neben mir. Als sie sich unserem Tisch näherte, sah sie auch kein bisschen verwundert aus. Ich guckte ihn an, doch er zuckte nur mit den Schultern. Mit einer völligen Selbstverständlichkeit legte sie ihre Tasche auf den Tisch und schob den Stuhl nach hinten. Er sprang schnell auf und machte große Augen.
Ich zog scharf die Luft ein und guckte sie empört an.
Sie hob eine Augenbraue. „Is was?“ Sie klang genervt.
„Siehst du nicht, dass er da saß?“ Ich zeigte hinter sie.
Sie drehte sich um und gucket mich dann völlig verständnislos an. „Da ist doch niemand!“
Ich verstand sie nicht und wand mich ihm zu. „Geh doch schon mal vor ins Café. Ist doch eh die letzte Stunde.“ Er nickte und verlas das Zimmer.
Fast die ganze Klasse hatte es mit bekommen und alle guckten mich mit großen Augen an. Chantal verdrehte die Augen. „Sprichst du jetzt schon mit dir selber oder was? Mann, du bist echt verrückt.“
Lieber bin ich ein Lügner als ein Niemand. Lieber bin ich verrückt als nichts.