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Lieber Bolle
Lieber Bolle
Als die Schulglocke läutete, warf Tim so schnell er konnte, alle Hefte, Stifte und Bücher in seinen Rucksack und lief aus der Klasse. Der Vormittag war ihm endlos erschienen und er konnte sich an nichts erinnern, was Frau Lohmann gesagt hatte.
Tim rannte bis zur nächsten Ecke, damit Chris ihn auf keinen Fall einholen konnte. Heute wollte er sich nicht mit seinem besten Freund treffen.
Tim musste sich endlich Klarheit verschaffen. In seinem Kopf und in seinem Bauch saß seit drei Tagen ein ganz seltsames Gefühl, und dieses Gefühl hüpfte immer von oben nach unten. Mal sagte sein Kopf: „Ist alles nur Einbildung, halb so schlimm,“ dann murmelte sein Bauch: „Da stimmt was nicht, ganz und gar nicht.“
Heute hatte sein Bauch keine Ruhe gegeben. In der Pause konnte er noch nicht einmal sein Butterbrot essen, beim ersten Bissen war ihm schlecht geworden.
Er wartete an der Ampel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Heute war Donnerstag, der vierzehnte Mai. Bis zu seinem zehnten Geburtstag am Sonntag dauerte es noch drei Tage, Zeit genug, dass alles gut werden konnte.
Bevor Tim in seine Strasse einbog, blieb er an der Ecke stehen und schloss die Augen. Sein Herz klopfte wie verrückt. Tim flüsterte: „Bitte, bitte lieber Bolle, sei jetzt auf der Wiese.“
Er ging um die Ecke und hielt den Blick gesenkt. Sein Haus war das vierte auf der rechten Seite der Siedlung. Vor jedem Haus leuchtete ein Rasenstück hinter einem niedrigen Holzzaun.
Bergers Gartenzwerge glitten an seinen Augen vorbei, dann Klaners Rosenbusch und noch immer hörte Tim nichts. Voller Angst schaute er auf und wusste im gleichen Moment, dass Bolle nicht auf der Wiese lag.
Seit Montag hatte er nicht mehr auf ihn gewartet und wie sonst freudig gebellt, wenn Tim von der Schule kam.
Der Rucksack kam ihm heute so schwer vor und in seinem Hals saß ein dicker Kloß. Frau Nolle stand am Gartenzaun und sprach ihn an. „Na Timmy, dein alter Bolle schafft es wohl nicht mehr auf die Wiese, was?“ Sie meinte es sicher nicht böse, hielt ihm sogar eine Tafel Schokolade hin, doch Tim konnte nicht sprechen, er wollte keine Schokolade und tat so, als habe er die ausgesteckte Hand nicht gesehen.
Frau Nolle sah ihm seufzend nach.
Die Wiese lag im Sonnenschein, vor der Haustür leuchteten die Stiefmütterchen im Tontopf, doch Tim erschien alles glanzlos und stumpf. Papas Auto stand in der Garagenauffahrt. Tims Knie wurden weich. Was machte Papa denn um diese Zeit zuhause? Er kam doch immer erst um fünf Uhr aus dem Büro.
Tim schlich den Gartenweg entlang bis zur Tür und lehnte sein Ohr dagegen. Alles war still. Viel zu still. Mama hatte kein Radio an, sie klapperte nicht mit Töpfen und Besteck, selbst seine kleine Schwester Mia krakeelte nicht herum. Tim wünschte sich verzweifelt alle Nach-Hause-Kommen-Geräusche herbei, als die Tür plötzlich geöffnet wurde und er in Mamas Arme stolperte. Mama hielt ihn ganz fest und sie sprachen kein Wort.
Dann kam Papa mit dem Plastikwäschekorb durch den Flur.
Bolles Decke hing über den Rand und Tim hörte leises Stöhnen. Sein Herz stolperte und er bekam nicht so gut Luft. Mama ließ ihn los, strich ihm übers Haar und Tim sah ihre verweinten Augen.
Mia kam angelaufen und umarmte ihren Bruder. „Bolle steht nicht mehr auf, Timmy. Ich habe ihm gesagt, er soll auf die Wiese gehen, aber er will nicht.“ Tim nickte und drückte seine kleine Schwester an sich. Mia war doch erst sechs, doch ihre Angst war genau so groß wie seine. Das hörte er am Zittern ihrer Stimme.
Papa setzte den Korb vor Tim auf den Boden. Bolles Kopf lag auf den Vorderpfoten, seine Augen blickten teilnahmslos, er atmete schwer. Tim hockte sich vor ihn und streichelte sanft den Rücken und die bebenden Flanken. „Lieber, lieber Bolle,“ flüsterte er hilflos und seine Tränen fielen dem alten Dackel auf den Kopf. Bolle schniefte leise.
Tim spürte, dass der alte Hund Schmerzen hatte. Er bewegte sich nicht mehr, vermied jede Anstrengung, damit der Schmerz nicht unerträglich wurde. Tim kannte das. Wenn er Zahnweh hatte, bildetet er sich auch ein, dass es besser würde, wenn er den Kopf ganz stille hielt. Papa hockte sich auf die andere Seite des Korbes. „Bolle hat einen dicken Knubbel am Bauch, Tim. Ich bin mir nicht sicher was es ist, deshalb fahre ich jetzt in die Tierklinik.“ Er schwieg einen Moment. Mia ging zu Papa und legte ihm die Arme um den Hals. „Seit gestern trinkt er auch nicht mehr, das ist kein gutes Zeichen, glaube ich.“ Tim schwieg weiter, er weinte leise und streichelte unentwegt Bolles Kopf.
Bolle hatte es immer gegeben, so lange er denken konnte. Als kleiner Junge hatte er mit ihm auf der Wiese herumgetollt, als Tim in die Schule kam, hatte Bolle morgens an seiner Tür gekratzt, noch bevor Mama ihn wecken kam, und als Mia im Kinderwagen lag, lag Bolle daneben und ließ niemanden an sie heran. Im Herbst rannte er mitten in die Blätterhaufen hinein, schnupperte an jedem Mauseloch und im Frühling wühlte er mit Vorliebe in den Maulwurfshügeln. Er kam sich so gerne wie ein richtiger Jagdhund vor und wedelte vor Freude mit dem Schwanz, wenn Tim ihn lobte.
Und nun lag er hier, erschöpft von Schmerzen und reagierte nicht mehr auf Tim, der ihn mehr liebte als alle seine Spielsachen und den Computer.
Mama sagte: „Bolle ist vierzehn Jahre alt, das ist sehr viel für einen Hund. Er ist ein ganz alter Hundeopa, deshalb…“ Den Satz konnte sie nicht beenden, weil sie so viele Tränen hinunter schlucken musste.
Mia richtete sich auf und sah von einem zum anderen.
„Ich glaube, Bolle kann einfach nicht mehr. Er hat fertig gelebt.“
Tim schaute seine kleine Schwester an. Ihr Gesicht sah ganz ernsthaft aus. Sie hat recht, dachte Tim, es ist genau so, wie sie sagt. Wenn es nur nicht so schrecklich weh tun würde. Papa konnte wohl Gedanken lesen. „Ja, es scheint so. Wir müssen uns alle an ein Leben ohne ihn gewöhnen, das ist sicher das Allerschwerste.“ Er sah Tim an. „Willst du mitfahren, Timmy?“
Erschrocken zog Tim seine Hand von Bolles Kopf zurück. Mama rief: „Aber Stefan! Das ist doch nichts für ein Kind!“ Sie legte Tim eine Hand auf die Schulter.
Tim wurde ein bisschen schwindelig. Er richtete sich auf und lehnte sich gegen die Wand.
Sein Atem ging schwer. „Wenn der Tierarzt ihm nicht mehr helfen kann, gibt er Bolle eine Spritze und dann schläft er ein, oder?“ Papa nickte. Tim überlegte einen Moment. „Wenn ich es nicht aushalte, kann ich dann ins Wartezimmer gehen?“ Papa nickte wieder. Jetzt sah Tim seinem Vater ins Gesicht. „Papa, glaubst du, dass Bolle doch noch gesund werden kann?“
Sein Vater schüttelte den Kopf und Tim sah das Glänzen in seinen Augen.
„Ich komme mit,“ sagte Tim mit wackliger Stimme und nahm Papas Hand.
Nach den großen Ferien kam Tim aufs Gymnasium und Mia in die Grundschule. Mia konnte nach ein paar Wochen schon ein bisschen lesen und Tim hatte zwei neue Freunde.
Manchmal gingen Mia und Tim zu dem Fliederbusch am Gartenzaun und erzählten Bolle von den Ereignissen des Tages. Tim wischte die Steinplatte mit Bolles Namen hin und wieder sauber und Mia brachte ab und zu selbst gepflückte Wiesenblumen mit.
Im Herbst lag Bolles Grab unter bunten Blättern und eines Tages schaute Tim hinaus und sagte lachend: „Das gefällt ihm bestimmt gut, da bin ich sicher.“