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Liebe
Papa?
Papa kannst du mir sagen, was Liebe ist?
Der Vater nimmt das Mädchen an der Hand, führt es an das Ufer heran. Hier steht eine kleine Holzbank, verwittert, seit Jahrzehnten Wind und Wetter ausgesetzt. Er wischt mit der Hand den Schnee von der Sitzfläche. Die Tochter sieht dem Vater geduldig wartend zu, weiß, dass er versucht Worte zu finden. Er lächelt sie an, setzt sich auf die Bank und nimmt das Mädchen auf seinen Schoß.
„Siehst du dort draußen, das Schilf, wie der Wind sich darin verfängt? Die Halme wiegt wie ein Baby, wenn die Mutter es in den Schlaf singt? Fühlst du es?“ Er nimmt sie zärtlich fester in den Arm, wiegt sie wie der Wind das Schilf. Sie ist ihm ganz nah, riecht die Würze seines Pfeifentabaks. Er drückt ihr vorsichtig einen sanften Kuss aufs Haar.
„Und wenn du hinaus schaust auf den See, wo man meint, dass der Himmel und das Wasser sich berühren? Dort ist das Wasser ganz still. Wenn wir beide nun auch ganz still sind, dann können wir sie spüren. Hörst du was unsere Herzen flüstern? "Lie-be, Lie-be", wiegt er sie in seinen Armen.
*
Das war viele Jahre her. Mein Gott, wie weit lag es wohl schon zurück? Der Vater war früh gestorben, kaum dass sie zur Schule kam. Die Illusionen der Jugend waren bald der Realität gewichen. Der Wind wurde rau mitunter, peitschte die Zweige, einige brachen, hielten den Gewalten nicht Stand. Draußen wo der Himmel vom See berührt wurde, zerkratzten Wellenspitzen den Himmel, forderten ihn zum Kampf heraus. Es bildeten sich kleine weiße Schaumkronen dort wo er einriss. Die Wolken schienen jeden Moment zu bersten. Der Untergang war sicher, einzig der entscheidende Augenblick war noch ungewiss.
Doch irgendwann wurde sie im Auge des Sturmes immer ganz still. Hörte hin was ihr das Herz erzählte. Und ganz leise sprach es „Lie-be, Lie-be“. Und egal was passierte, nie verlor sie das Gespür dafür wie es sich anfühlt, wenn es wirklich Liebe ist. Sie vertraute immer darauf, dass diese flüsternde Stimme in ihrem Herzen ein Echo fand. Sie würde es aus Millionen von Echos heraushören, unverkennbar. Dieses Wissen half ihr zu überleben.
*
„Hier bist du. Was machst du denn so spät noch im Freien? Frierst du nicht?“ Lächelnd streckte er ihr seine Hand entgegen. Sie nahm sie und küsste mit einer unglaublichen Zärtlichkeit ihre Innenfläche. Erwiderte seinen Blick, sein Lächeln, dann wandte sie sich wieder der untergehenden Sonne zu. Eine kalte, klare Nacht stand bevor. Er nahm sie liebevoll in den Arm und folgte ihrem Blick hinaus in die Weite der heraufziehenden Dunkelheit, lauschte der Stille des Sees. An seinen warmen Körper geschmiegt, geborgen und in Sicherheit, hörte sie ganz leise das Echo, es war unerkennbar das ihre.