Mitglied
- Beitritt
- 11.11.2018
- Beiträge
- 3
Liebe
Liebe
Er stand vor der graugrünen Tür und sein Luftballon bewegte sich einsam im Wind. Der Regen prasselte unnachgiebig auf seinen Kopf und das Wasser tropfte ihm bereits im gleichbleibenden Rhythmus von den Haaren ins Gesicht, wo es nasse Bahnen zeichnete. Sein Rücken war mittlerweile komplett durchtränkt und eine eisige Kälte kroch ihm erbarmungslos seine Knochen hoch, die ihn unaufhörlich zittern ließ. Die Füße waren in den Schuhen halb ertrunken.
Es interessierte ihn nicht.
Er konnte den Blick von der graugrünen Tür nicht abwenden, die ihn alles und nichts versprach. Stur und allein wartete er vor der Tür darauf, dass sie ihm endlich aufmachen würde, um gemeinsam ihren 19. Geburtstag zu feiern und sie in die Arme zu nehmen. Aber er wusste, dass sein Mädchen nicht zu Hause war – das konnte er an der Abwesenheit ihres Autos wie auch der Tatsache festmachen, dass er sie auf seinem Weg hierhin an der Straßenecke gesehen hat, als sie mit anderen Jungs getrunken hat. Er konnte sie an ihrem bezaubernden Lächeln und ihren strahlenden Haaren sofort in der Menschenmenge ausgemachen.
Dennoch war er der festen Überzeugung, dass sie sicherlich gleich auftauchen würde.
Schließlich waren sie vor einer halben Stunde verabredet – und sie hatte es ihm versprochen.
Auch in den weiteren Stunden, die folgten, wendete er den Blick nicht ein einziges Mal von der graugrünen Tür ab. Mit tiefer Entschlossenheit wartete er auf ihr baldiges Zurückkommen, damit sie ihm die Tür öffnen konnte. Dann würde er ihr unverzüglich alles Gute wünschen und sie beide konnten endlich auf ihr Wohl anstoßen; ihre wunderschönen braunen Augen würden dabei im romantischen Licht der Kerzen erstrahlen. Er hoffte auch, der Luftballon würde dieses Unwetter unbeschadet überstehen, da es doch heute sein einziges Geschenk war. Er hatte seinem Mädchen, auf ihre große Bitte hin, die anderen Geschenke schon einen Tag vorher übergeben – ein Kleid von Chanel und Diamantringe. Dinge, die sie sich sehnlichst gewünscht hatte. Ihre überschäumende Freude war es ihm Wert gewesen, seine letzten Ersparnisse herzugeben. Nur ganz ohne Geschenk wollte er heute trotzdem nicht auftauchen, weswegen er noch schnell den Luftballon besorgt hat. So konnte er ihr noch einmal ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Er wartete weiter.
Den nächsten und übernächsten Tag verbrachte er stillschweigend vor der graugrünen Tür, die nichts sagte und soviel bedeutete. Seine Kleidung war zwischendurch getrocknet, doch schon zogen erneut dunkle Wolken heran – lange Klauen, die den blauen Himmel unter sich begruben. Der Wind zerrte kräftig an ihm und ließ seine dünnen Kleider um seinen mageren Körper flattern. Er war sich der Tatsache äußerst deutlich bewusst, dass er den aufziehenden Sturm wohl kaum standhalten würde.
Es interessierte ihn nicht.
In diesem Moment keimte ein so starkes Gefühl von Wertlosigkeit und Überflüssigkeit in ihm auf, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte. Doch er empfand keine aufrichtige Überraschung mehr über diese Regung; dafür war er zu abgestumpft über all die Zeit. Vielmehr begrüßte er das Gefühl wie einen alten Bekannten, war es doch das einzige, das ihm geblieben war und ihn regelmäßig besuchte. Solange aber sein Mädchen glücklich war, kümmerte ihn es nicht, wie es um ihn stand. Er war sich ebenso im Klaren darüber, dass niemand um ihn trauern würde, wenn dieser Tag vorüber wäre.
Hatte er doch schon vor langer Zeit alles aufgegeben (für sie).
Es interessierte ihn nicht.
Er gestattete sich sogar noch ein kleines Lächeln, wissend um sein bevorstehendes Ende. Den Blick auf die graugrüne Tür gerichtet, wünschte er ihr alles Glück der Welt und begann leise, „Happy Birthday“ für sein Mädchen zu summen. Der Wind wehte nun deutlich heftiger und ließ seine ausgedörrte Gestalt im Takt der Melodie wanken. Das erste Donnergrollen war bereits zu vernehmen. Einsam hielt er den Luftballon in seiner Hand umklammert und wartete.