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Liebe und alte Frauen
Ich sitze in der Ecke des Zimmers an ihrem Bett und behalte die Tür im Auge. In Krankenhäusern ist es nie hell genug, aber ich bin froh über das Halbdunkel. Neben ihr liegt eine Frau mit Elefantenfüßen und gegenüber eine Greisin, die mit jedem Atemzug kämpft. Ich versuche zu begreifen, dass auch sie dazugehört, auch ihre Zeit gekommen ist. Ich halte diese faltige Hand, starre auf diesen runzligen Mund, die dunklen Flecken auf der schlaffen Haut. Nur Fassade. Ich sehe ihren zarten Frauenkörper, ihre vollen Lippen, das krause blonde Haar. Für mich sind Jahrzehnte vergangen, für sie scheint es ein Jahrhundert gewesen zu sein.
Jemand macht die Tür auf und schaltet das Licht ein. Ich erschrecke, doch es ist die Schwester, die Nase in ein Klemmbrett vergraben. Sie marschiert durch das Zimmer, überprüft die Betten, schaut auf die Monitore, macht Notizen.
"Sie sind der Sohn?", fragt sie, ohne aufzublicken.
Als sie erneut ansetzt, sage ich: "Nein. Nein, ein Freund."
Sie bleibt auf dem Absatz ihrer Clogs stehen, der Kugelschreiber klackt mehrfach auf das Klemmbrett.
"Es tut mir leid, dann muss ich Sie bitten jetzt zu gehen."
Ich will noch etwas sagen, um den Moment hinauszuzögern, aber mir fällt nichts ein. Beim nächsten Klacken gebe ich mich geschlagen und küsse ein letztes Mal ihre Mädchenhand.
Wir arbeiteten Nachtschicht in einer Großwäscherei. Textilreinigung für Betriebe, die selbst nicht die Kapazitäten hatten: Kindergärten, Hotels, Kliniken, Theatergarderoben. Man grüßte sich, sprach über die neuen Schichtpläne, wünschte sich einen schönen Feierabend. Mir fiel zwar irgendwann auf, dass sie sich schön machte, doch ich dachte nicht darüber nach, wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie es für mich tun könnte. Es vergingen noch Monate, bis ich begriff.
Ich schraubte an einer der Maschinen und sie sortierte neben mir Kleidungsstücke, warf sie in verschiedene Rollwagen. Sie lief immer wieder an mir vorbei und irgendwann ließ sie ein Stück neben mir fallen. Ich brachte es ihr. Es muss ein Teufelkostüm gewesen sein, aber es war zu dünn, zu knapp, um einen Körper wirkungsvoll bedecken zu können. Ich hielt es hoch und wir lachten, bis wir ermahnt wurden.
Ich erzählte ihr von den Maschinen und sie nickte, spielte mit ihren Handschuhen, nickte. Ihr Mund und ihre Augen formten das Lächeln, über das ein Mädchen längst die Kontrolle verloren hat, weil diese eine Person mit ihr redet.
Es war nicht die Frau dort vor mir, die mich anlächelte. Aus ihren Augen sah mich ein Mädchen an, das kaum älter war als ich. Ein Mädchen, das verzweifelt um meine Liebe warb, mit ihren Mädchenlippen lachte, mit ihren Mädchenschultern zuckte. Ich erkannte ihr Verlangen, ihre Sehnsucht und da begriff ich, dass ich es war, für den sie sich schön machte, dass ich es war, nach dem sie Ausschau hielt. So lange schon blickte sie sich nach mir um und ich hatte nichts verstanden. Ich wollte bei ihr sein, sie in die Arme nehmen. Sie war älter, aber das machte nichts. In ihren Krähenfüßen schlummerte Erfahrung und Weisheit in ihren Lachfalten. Sie gehörte zu den Menschen, die reifer wurden, und nicht älter.
Wir suchten uns, berührten uns zufällig. Ihre Mädchenhände spielten nervös mit ihren Handschuhen, wenn wir redeten. Aus der Ferne beobachtete sie mich mit ihren Mädchenaugen, sah schnell weg, wenn ich mich umdrehte. Es gab keine Fragen, keinen Zweifel. Ich machte den ersten Schritt.
Die anderen Frauen waren beschäftigt, konzentrierten sich auf ihre Rollwagen. Mein Herz wollte sich gewaltsam aus meiner Brust befreien, aber jetzt war die Gelegenheit, sie stand etwas abseits.
"Hey, Mara. Gibst du mir deine Nummer?" Sie lächelte, aber als sie begriff, was ich gesagt hatte, wurden ihre Augen groß und sie vermied Blickkontakt. Ich sah verstreut durch die Gegend, merkte, dass die anderen Frauen schnell wieder die Köpfe wegdrehten.
"Was meinst du?" Sie spielte die Ahnungslose. Hatte gedacht, sie würde es mir einfacher machen. Ich hielt ihr mein Handy hin.
"Deine Handynummer."
"Warum willst du meine Nummer haben?"
"Na ja, weil ..." Die anderen Frauen tauschten Blicke. Mein Hals war staubtrocken.
"Weil ich dich gern habe?" Eine Flamme huschte durch ihre grauen Augen, aber sie drehte sich weg, schüttelte den Kopf. Ich verstand nicht, hielt ihr noch einmal das Handy unter die Nase. Sie sah mich wie eine Statue an, als wären wir uns nie zuvor begegnet.
"Ich habe einen Mann."
Sie hatte sie auch gefühlt, diese urzeitliche Verbindung zwischen uns, die Aufforderung der Natur, sich zu vereinen, neues Leben zu erfinden. Unsere Körper suchten sich, mussten eins sein.
Die Schwester schließt die Tür hinter mir und für mich fällt sie für immer zu. Das Echo hallt in den kahlen Fluren nach, bis ich endlich meine Füße bewege. Wenn es um das Ende geht, sind alte Erinnerungen frisches Kaugummi, das an Schuhsohlen festklebt. Ich schlurfe am Fahrstuhl vorbei, nehme die Treppe nach unten, jede Stufe, als bestände Glatteisgefahr. Jemand kommt mir entgegen, fragt mich etwas, aber ich starre durch ihn hindurch in die Vergangenheit.
Sie musste einen Pakt der ewigen Jugend geschlossen haben und der Teufel holte sich die geschenkten Jahre jetzt zurück. Ihre Brüste waren zu straff für eine Frau in diesen Jahren, ihre Beine gehörten einer Athletin. Es war lange her, dass ich geliebt hatte und sie war in einem Alter, in dem der Vulkan im Herzen einer Frau noch einmal brodelt, begierig darauf auszubrechen, ihr Körper hungrig und bedürftig ist, sich nach sportlichen Jungs sehnt.
Im Kräftemessen unserer liebeswütigen Körper wurde sie einfallsreich, sagte versautes Zeug, ihre Stimme sprang dabei immer wieder in den Sopran. Anfangs musste ich lachen, aber als ich gemerkt hatte, dass sie bei so was durchdrehte, sagte ich: "Ich bleib einfach den ganzen Tag hier drin!" oder: "Du wolltest dich doch um mich kümmern!"
Sie antwortete mit diesem Cocktail aus Stöhnen und Schreien, der mich daran erinnerte, dass ich nur ein primitives Tier war. Sie krallte ihre Finger in mein Fleisch, wenn ich sie zu heftig würgte, presste sich an mich, verlor sich im Rhythmus.
Sie ließ sich neben mich fallen, ihre Oberschenkel zitterten. Es regnete schon den ganzen Tag, aber der Donner fiel mir jetzt zum ersten Mal auf.
"Wir können das nicht mehr machen", hauchte sie zwischen vier Atemzügen.
"Doch, können wir. Bleib einfach bei mir", wollte ich sagen.
"Hast du noch was von dem Zimtkuchen?", sagte ich.
"Kühlschrank."
"Nachher. Du musst auch unbedingt noch mal den mit den Mandeln machen, der war der Hammer."
"Frankfurter Kranz. Klar." Ihr Brustkorb wogte noch immer in Zeitraffer. "So viel du willst."
Der Regen wurde wieder intensiver, ich beobachtete die Blitze irgendwo über den Wolken.
"Hey, ich weiß! Wir gehen am Sonntag aufs Stadtfest!", sagte ich.
"Hast du die Sortiermaschine am Freitag noch zum Laufen gekriegt?"
"Wenn wir Glück haben, gibt es wieder die Schießbude, war letztes Jahr auch. Die große meine ich, nicht die andere. Weißt du, welche ich meine?"
"Aha."
"Ich kann dir einen Riesendino schießen. Den mit dem langen Hals? Oder was willst du? Oder, warte, einfach gleich die ganze ..."
"Ich gehe mit meinem Mann da hin."
Wir starrten an die Decke. In den nächsten Minuten wurde der Regen immer stärker, die Tropfen immer schwerer, bis sie zu einem lauten Rauschen verschmolzen. Ihr Atem wanderte in meine Richtung.
"Du kannst eine Ente für mich gewinnen. Oder einen Schwan." Sie schob ihren Handrücken an meinen.
"Glaubst du, Schwäne kommen in den Himmel?", wollte sie wissen. Ich runzelte die Stirn, hätte fast gelacht. Sie wollte noch etwas sagen, doch der nächste Donner folgte unmittelbar auf seinen Blitz, erstickte die Welt für einen Augenblick. Wir lauschten, ob sie bald untergeht.
"Wer weiß, wenn ich früher geboren worden wäre, dann hätte ich dich vielleicht geheiratet. Ja, bestimmt."
Sie beugte sich über mich, strich mir mit der Hand über die Wange. "Ja", sagten ihre Mädchenaugen und Tränen fluteten dieses eiskalte Grau, das so warm und voller Leben war. Sie legte ihren Kopf auf meine Brust und ihre Finger wanderten an mein Kinn, damit ich meinen Mund hielt. Wir streichelten uns, vorsichtig.
Das Gewitter verlief sich irgendwo, nur das zögerliche Tröpfeln auf den Fensterbrettern blieb zurück.
"Du bist noch jung. Du hast noch alles vor dir."
"Na ja, ich glaube, für den Doktor reicht es nicht mehr. Aber wer weiß. Und du? Hast deinen Doktortitel schon?"
"Nee. Ich bin eine alte Frau." Sie sagte das immer im Scherz, aber ihre Gesichtsmuskeln fanden das nicht so witzig.
"Echt? Bist du schon achtzig, Frau Doktor?"
"Hey! Nicht ganz. Wirst du jetzt frech?" Dieses Mädchenlächeln brannte sich zum hundertsten Mal in mein Gehirn. Wir küssten uns. Sie hatte diese Sache drauf mit ihren Hüften, mit nur einer glatten Bewegung führte sie mich in sich ein. Ihre Mädchenlippen hörten auf zu grinsen und sie verdrehte die Augen, als ich meine Hand um ihre Kehle legte.
***
Ich muss Luft holen, setze mich auf eine Bank neben der Auffahrt zur Notaufnahme. Die Terrasse der Cafeteria ist voll von Jungen und Mädchen mit ihren Kindern. Es ist brütend heiß, nicht eine Wolke am Himmel. Ich erinnere mich an Tage wie diesen.
Wir liebten uns, hassten uns, liebten uns, verloren den Überblick. Manchmal träumten wir, redeten über ein Morgen. In diesen Momenten konnte ich es mir gut vorstellen. Nur lag da diese zwanzig Jahre breite Schlucht zwischen uns.
Das Kind mit zu hohem Fieber ins Krankenhaus fahren, mit dem Ehepartner eine Auszeit nehmen, den ersten gemeinsamen Hund begraben. Ihre Erinnerungen waren meine Zukunft, jeder gemeinsame Traum ein Paradoxon.
Ein Greis mit Stock kämpft sich zum Eingang hoch, gestützt von einem Mann in meinem Alter. Die Familie hintendran. Ich überlege, ob sie das sind. Ich könnte wieder hoch, noch einmal ihre Mädchenhand halten. Aber ich muss gehen, sonst gibt es noch ein Unglück.
Ein Ruck holte mich aus einem Schlummer. Meine Augen suchten einen Orientierungspunkt, fanden sofort eines der Bilder von ihr und ihrem Mann. Es war düster im Zimmer, alle Farben hatten ihre Kraft verloren.
"Du musst jetzt gehen!" Diese Stimmlage von ihr kannte ich noch gar nicht.
"Mach schon, steh auf!" Sie machte neben dem Bett hektische Bewegungen, warf ein Kissen in mein Gesicht.
"Ja! Ja doch, ich weiß."
"Jetzt!"
"Man. Wie spät ..."
Wir sahen ihn erst, als er zum Schalter neben der Tür griff. Das Licht zersprengte die dämmrige Traumwelt im Zimmer und ihre Fetzen flogen immer weiter fort. Alle hielten den Atem an, die einzigen Geräusche waren mein Herzschlag und das immer näher kommende Surren der Klimaanlage. Er sah mich an, stand einfach da, mit offenem Mund, sah von mir zu ihr, sah von ihr zu mir, die Hand am Lichtschalter festgefroren, stand nur da, sah sie an. Es waren keine Worte nötig, die Enttäuschung schrie aus seinen Augen. Und dann ging er einfach fort. Schloss die Tür und ließ uns allein mit den immer kleiner werdenden Fetzen.