Liebe oder so
1. Tag
Es war ein langweiliger Nachmittag, und die Einsamkeit trieb mich durch die bekannte Stadt. An einer Ampel stand sie, schöne Figur, wirres Haar. Teure Klamotten, aber Strümpfe mit Laufmaschen. Die Ampel war rot, als sie plötzlich auf die Fahrbahn trat. Ohne Eile überquerte sie die dreispurige Straße. Ihre Lässigkeit ließ die angreifenden Autos bremsen. Beeindruckt blieb ich stehen. Sie hatte gewonnen, meine Neugier ge-weckt und meinen Respekt erworben. Auf der anderen Straßenseite schien sie zu war-ten. Ihr Lächeln erhöhte meine Aufregung. Ich folgte ihr. Natürlich bei grün. Und sie sprach mich an. Ganz einfach.
"Ich gehe immer bei rot."
Meine Bedenken verlachte sie. Aber ein Kaffee, der tut jetzt gut. Sie war älter als ich, das Gesicht schon ein wenig eingefallen. Trotz der Wärme trug sie einen langärmligen Pullover. Im Cafe paffte sie ununterbrochen. Keine Raucherin. Nur jemand, der sich abreagiert und gerade nicht weglaufen kann. Sie stand auf, griff zum Hörer und kaufte mal eben ein Klavier am Telefon, setzte sich, aß Kuchen und war nervös.
Mir gefielen ihre Hände und die Aussicht diese Nacht nicht allein zu verbringen. Doch ich zweifelte auch. Sie sprach langsam, fast lallend. Alkohol?
"Nein, nein, ein Sprachfehler. Kommen Sie mit in die Galerie da drüben?"
Für mich war aus dem Zweifel Gewissheit geworden. Ich zahlte und ging mit höflichen Floskeln.
Und war fünf Minuten später wieder zurück. War mein Zweifel nicht Vorurteil? Und was war mit der Nacht?
Auf- und Abgehen vor der Galerie. Hatte sie gewartet? Würde sie mich überhaupt anse-hen?
Sie lachte vor Freude, und hörte nicht meine schlechte Ausrede.
"Schön, dass du wieder da bist. Ich bin Ulla."
Und es blieb beim du, der ersten Stufe der Vertrautheit.
Auch Flächen können schön sein, Farben, Formen. Sie erklärte mir in der Galerie die Bilder. Ich sah nur ihre Hände. Ebenmäßig schön, und so weich, dass ich sie fast auf meiner Haut spüren konnte.
Ich fuhr sie nach Hause. Im Auto erzählte sie von Ärger mit den Eltern, einem Beruf ohne Zukunft, und langsam schlug mich das Gewissen. Ist eine Nacht nicht viel zu ver-letztend für diese Frau?
Kein Haus, ein Palast. Wohnliches Chaos in ihrem Zimmer.
"Hier wohn ich. Machs dir bequem."
Ein bettlägeriger Vater, eine gehasste und doch verehrte Mutter. Instantkaffee aus der Marmordekortasse.
"Bei mir muss alles schnell gehen."
Kuschelsessel mit abgewetzter Spitze, vom Flohmarkt, wie die CDs, die vom Sterben handeln. "Still got the blues" von Gary Moore hörten wir. Sie trank Malventee, und sie kündigte für nachher einen Besuch bei einer Freundin an.
Unvermittelt zog sie sich aus. Ich sah ihre Beine, so schön wie ihre Hände, die kleinen Brüste, die spitzen Lippen, wenn sie an der Zigarette zog.
"Ich muss jetzt schlafen."
Ein Rausschmiss? Sie lag im Bett, sah mich mit Strahleaugen an. Nein, ich konnte mich nicht so einfach dazulegen. Das könnte ich mir nie verzeihen.
Sie fuhr nicht mehr zur Freundin, und ich musste jetzt endgültig los. Dann änderte sie ihre Meinung. Doch noch zu Annette.
"Fährst du mich hin?"
Fahrt auf Eisenbahnschienen.
Wohngemeinschaft mit kleinen Zimmern und vielen Engeln. Brasilien und lautes La-chen. Und wieder ihre Müdigkeit. Kecke Gesten und gespreizte Beine. Angedeutet Les-bisches. Faszination und ruhiger Witz. Und die Sopran-Stimme, die ihr Leben nicht meistern konnte. Abschied und schnelles Abschließen.
"Sie ist auf der Durchreise und weiß nicht wohin." Ulla konnte auch lebenstüchtig sein.
Rückfahrt. Ihr Zuhause. Ein Kuss mit spitzen Lippen, und noch einer. Und doch noch ein Tee. Ein kleiner Tee. Und sie muss ins Bett. Schläft keine Nacht richtig.
"Du musst los."
Begleitung zum Wagen. Endlich ringe ich mich durch und suche ihre Nähe. Kein Kuss mehr. Für Investitionen noch zu früh.
Und in bin kaum noch wach im Auto. Träume mit offenen Augen. Duran, Duran: "Or-dinary world". Morgen rufe ich sie an.