Liebe meines Lebens
Der Bus ist dunkel und still. Viele schlafen. Die Stimmung ist gedrückt und melancholisch. Mein Handy ist leer, ich kann keine Musik mehr hören. Mein Blick schweift durch den Bus. Das gleichmäßige Brummen des Motors ist der monotone Soundtrack zu den gleichbleibenden Bildern der grauen Autobahn. Die Leitplanke zieht ihren endlosen Weg durch die diesige Nachtluft. Die Spurenmarkierungen wiederholen ihr Spiel des Erscheinens und Verschwindens. Der Geruch von Rosen kriecht in meine Nase. Aufmerksam nach der Herkunft des Duftes suchend, trifft mein Blick meine Sitznachbarin. Braune Locken hängen ihr schulterlang ins Gesicht. Die geschlossenen Augen lassen die Farbe der Iris nicht erkennen. Der gekräuselte Mund bildet eine kleine Falte, die ihrem Gesicht einen wunderschönen Anblick verleiht. Ich schaue sie glücklich an. Ich lehne mich zu einem Kuss vor. Lächelnd erwacht sie aus ihrem Halbschlaf. Ich lege meinen Arm um sie und sie schläft auf meiner Schulter wieder ein. Wir heiraten eine Woche später. Sie sieht wunderschön aus, wie sie in ihrem Brautkleid zum Altar schreitet. Aufmunternd lächelt mir ihr Vater zu. Wir sprechen die Worte. Ich küsse die Braut. Unsere Familien und Freunde klatschen lächelnd. Die Stimmung ist ausgelassen. Am Ende des Abends tanzen wir einen langsamen Tanz zu unserem Lied. „Ich liebe dich“, flüstere ich in ihr Ohr. „Ich dich auch“, antwortet sie. Die Hochzeitsnacht ist großartig. 9 Monate später eile ich ins Krankenhaus. Sie liegt schon in einem der Betten. Sie lächelt kurz, als sie mich erblickt, dann setzen die Wehen wieder ein. Ich halte ihre Hand. Sie drückt sie fest. Einige Zeit später halte ich unser schreiendes Baby im Arm. Erleichtert und müde schaut meine Frau mich an. Die ersten Monate nagen an unseren Nerven. Wir kriegen kaum Schlaf. Das Baby kriegt eine Grippe. Noch nie habe ich unter so einem Schlafmangel gelitten. Bald kann ich das Schreien nicht mehr hören. Doch es wird besser. Mit Stolz schaue ich meinem Sohn beim Wachsen zu. Ein Jahr später befinde ich mich erneut im Krankenhaus. Die zweite Geburt. Diesmal ist es ein Mädchen. Wir sind jetzt eine Bilderbuchfamilie. Erneut müssen wir uns durch die anstrengenden Monate schaffen. Doch danach wird alles gut. Beide lernen laufen, kommen in den Kindergarten, erreichen das Grundschulalter. Die Kinder sind schlau. Sie sind gut in der Schule und haben viele Freunde. Und sie sind wunderschön. Beide wachsen prächtig heran. Mit dem Gymnasium sinkt der Notenschnitt, aber beide entwickeln sich großartig. Sie gehören zu den beliebtesten Schülern ihrer Stufen. Bald bringt er seine erste Freundin nach Hause. Sie folgt nicht viel später. Als er mit 18 auszieht, werde ich melancholisch. Ich vermisse ihn, aber er hat nach einem guten Abitur mit dem Studium angefangen. Sie tut es ihm gleich. Nach meiner Rente reisen wir viel. Wir haben sehr gut ausreichend Geld. Wir besuchen die ganze Welt. Trotz des steigenden Alters ist meine Frau immer noch wunderschön. Ich erkenne noch die junge Frau in ihr. Als sie stirbt bin ich todtraurig. Bei der Beerdigung ist die Kirche ganz gefüllt. Sie hatte viele Freunde. Meine letzten Jahre lebe ich alleine, doch meine Kinder besuchen mich häufig. Ich habe jetzt Enkel, die die Besuche bei Opa lieben. Einige Jahre später sterbe ich an Altersschwäche. Ich hatte mich einfach Schlafen gelegt. Der Bus hält. Die Fremde steht auf. Die Liebe meines Lebens steigt aus dem Bus.