Mitglied
- Beitritt
- 14.06.2009
- Beiträge
- 8
Liebe ist die beste Medizin
Ich habe mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht, wie es ist, Schmerzen zu haben. Nicht so zweitklassige Schmerzen wie ein kleiner Schnitt in den Finger. Nein. Innerliche Schmerzen, die niemals vergehen werden. Weil das Herz nun mal nicht vergisst. Anders als der Kopf, dem öfters mal etwas entfällt. Jetzt, mit knapp dreizehn Jahren, hatte ich es erkannt. Erkannt, dass es leichter fällt, sich selbst aufzugeben als sich zu akzeptieren. Und das Liebe alles heilt, auch die grösste Wunde.
Es passierte an einem Montag. Die Sonne stritt sich mit dem Regen, sodass dicke Tropfen auf mein blondes Haar fielen und warme Strahlen sie wieder trockneten. Müde und abgespannt betrat ich das grosse Klassenzimmer und zwängte mich wortlos an der kichernden Mädchenclique vorbei. Was hätte ich auch sagen sollen? Für sie war ich immer noch die Neue, obwohl ich nun schon seit über einem Monat in Hamburg wohnte. Sie ignorierten mich und ich ignorierte sie. Ganz einfach. So ganz in meine Gedanken versunken bemerkte ich nicht, wie zwei fremde Jungs unserem Deutschlehrer folgten. „Alle mal herhören! Wir begrüssen heute zwei neue Schüler in unserer Klasse, Mike Morgenstern und Luis Fischer“, klang die herrische Stimme Herrn Vogels durch das Zimmer und liess mich den Kopf heben und die beiden näher betrachten. Mike schaute in die Runde, und nur ein Blick in seine Augen verriet mir, was er für ein Typ war. Der Coole, der Boss, der Mädchenschwarm. Und noch ein Begriff schoss mir durch den Kopf. Der Demütiger. Oh ja, ich kannte diese Art Junge bestens. Jannis, Nick, Markus, und wie sie alle geheissen hatten. Sie alle hatten mich verletzt, mit Worten wie „Streberin“ mein Herz zerrissen. Meine Schüchternheit und Selbstunsicherheit führte nämlich dazu, dass alles, was sich cool schimpfte, mich mobbte und ausschloss. Da mein Vater Geschäftsmann war, zog die ganze Familie, also Mama, Papa und ich, von einem Ort zum anderen, und zwar ständig. Was es mir nicht gerade leichter machte, Freunde zu finden. Dann sah ich zu dem anderen Neuen hin. Dummerweise hatte er denselben Moment gewählt, um mich zu mustern. Als er meinen Blick auffing, lächelte er. Ich lief puterrot an und schaute weg. Doch die Neugier siegte und ich sah wieder hin. Er hatte blonde, leicht verwuschelte Haare und grüne Augen. Wieso er wohl den Wohnort gewechselt hatte? Schnell schüttelte ich den Kopf. Was ging mich das überhaupt an! Ich kannte ihn ja nicht einmal. Plötzlich hörte ich Herrn Vogel meinen Namen nennen. „Cosima? Du bekommst einen neuen Sitznachbarn. Mike, darf ich vorstellen, Cosima Zimmermann, meine beste Schülerin. An der könntest du dir auch mal ein Beispiel nehmen!“ Der Stolz in seiner Stimme ließ mich erröten. Mike hob nur die Augenbrauen und setzte sich. Den ganzen Schultag musste ich mir seine Sprüche anhören, die zwischen „Schleimerin“ und „Klugscheisserin“ schweiften. Als es endlich klingelte, fühlte ich mich wie erlöst. Ich schnappte meine Tasche, drängte mich aus dem Zimmer raus und zog hastig meine Schuhe an. Doch Mike war schneller gewesen und versperrte mir vor der Schultüre den Weg, als alle anderen schon die Schule verlassen hatten. „Nicht so eilig, du Streberin!“, schnauzte er. Ich tat so, als hätte ich nichts gehört und wollte an ihm vorbei, doch er packte mich an den Schultern und stiess mich grob an die Wand, wobei ich mir den Kopf hart an der Mauer anstiess. Leise wimmernd und zitternd sass ich an der Wand gelehnt und war den Tränen nahe. „Ich kann solche Streber wie du nicht ab, verstanden? Und wehe, du petzt!“ Er spuckte mir vor die Füsse und verliess wortlos die Schule. Stumm rannen mir die Tränen hinunter. Durch meinen Tränenschleier hindurch erkannte ich eine Gestalt, die sich vor mich kniete. „Hey, Cosima, was ist passiert?“, flüsterte Luis besorgt. Ich schüttelte nur den Kopf und liess meinen Tränen freien Lauf. Luis hockte sich neben mich und legte mir vorsichtig einen Arm um die Schultern. Ich drehte mich weg, stand auf und sagte leise: „Ist doch egal. Ich muss jetzt gehen!“ Dann schulterte ich meine Tasche und ging den Flur hinab. Ich bemerkte jedoch nicht, dass Luis mir nachsah…
Die folgenden Tage waren die Hölle. Mike, der inzwischen schon neue Kumpel gefunden hatte, liess keine Gelegenheit aus, um mich runterzumachen. Am Dienstag fand ich eine zerquetschte Banane in meinem Mathebuch, am Mittwoch fehlte mein
Federmäppchen, und als ich mich freitags aus der Schule schleichen wollte, lag meine Jacke zerrissen am Boden. Fassungslos hob ich sie auf. Und wie sollte ich das meinen Eltern erklären? Das Fass war übergelaufen. Ich drehte mich um und rannte, rannte immer weiter und immer schneller, bis ich schliesslich am Hafen ankam und mich setzte. Aber die Tränen kamen nicht. Ich war nach so vielen Demütigungen wie ausgetrocknet, so oft hatte ich geweint. Meine Mutter hat mal gesagt, dass es ihr immer besser gegangen war, nachdem sie den Tränen freien Lauf gelassen hatte. Doch bei mir half es nicht im Geringsten. „Cosima?“, hörte ich eine leise, mir bestens bekannte Stimme. Luis. Was machte der hier? Er setzte sich neben mich und schwieg einen Moment. Dann zeigte er plötzlich auf ein grosses Frachterschiff in der Ferne. „Schau mal. Der schippert in der ganzen Welt herum. Morgen in Skandinavien, dann rüber nach Amerika und immer weiter, dem Horizont entgegen. Muss schön sein, alles hinter sich lassen zu können.“ Und dabei sah er mich so lieb an, dass ich plötzlich redete. Ich kämpfte mit den Tränen, erzählte von den vielen Umzügen, von all den anderen Coolen und dass es jedes Mal das Gleiche war mit meiner Selbstsicherheit. Luis hörte mir ruhig zu, und als ich schliesslich am Ende angelangt war, nahm er stumm meine Hand. Und diesmal wehrte ich mich nicht. Wir sassen einfach nur so da, schauten den Sonnuntergang an und schwiegen. „Ich werde dir helfen, Cosima. Ich schwöre es!“, sagte Luis leise und sah mich an. „Du kennst mich doch gar nicht!“, flüsterte ich zurück. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Dann lerne ich dich eben kennen!“, wisperte er mir ins Ohr, erhob sich von dem kalten Boden und streckte mir die Hand hin. Ich ergriff sie und liess mich von ihm hinaufziehen. Wir sahen uns in die Augen. „Danke, Luis!“ Das war das einzige, was ich hervorbrachte. Er lächelte mich wieder an, berührte flüchtig meine Wange und drehte sich dann um, um den Pier zu verlassen, während ich mich wieder der See zuwandte und in die Ferne starrte.
Von diesem Tag an waren Luis und ich befreundet. Aber es war nicht eine dieser kitschigen Freundschaften, die man in den armseligen Liebesromanen vom Kiosk vorfand. Uns beide verband etwas anderes. Wir wussten beide nicht, was genau es war. Stundenlang konnten wir nur dasitzen und dem Anderen zuhören. Nicht, das dadurch Mikes Angriffe geringer an der Zahl wurden. Im Gegenteil, mein Glück mit Luis schien ihm wie ein Dorn im Auge zu sitzen und er sann auf die grosse Rache. Und die bekam er dann auch.
Rot und Goldigfarben schimmerten die Blätter im sanften Herbstlicht, als ich lachend neben Luis die Treppe hinunterstieg. „Und dann hat er gesagt: Ach nö, danke, ich glaube ich komme selbst klar!“, beendete Luis den Selbsthilfegruppewitz mit einem Grinsen und brachte mich wieder zum Lachen. „Ach Mist, Sorry, hab ganz vergessen, dass ich noch meine Schwester vom Ballet abholen muss. Heute Abend wieder beim Pier?“ Ich nickte und strahlte ihn an. Er beugte sich vor, küsste mich auf die Wange, murmelte ein „Tschüss“, und lief eilig davon. Ich sah ihm lächelnd nach und legte meine Hand auf die Wange, während ich verträumt durch die Gegend ging. Alles schien schöner als sonst zu sein, das nasse Gras, die leuchtende Sonne, der - Meine Gedanken lösten sich abrupt in Luft auf, als mir plötzlich jemand grob die Hand auf den Mund presste und mich an die Mauer drängte. „Heute kann dich dein Schätzchen nicht beschützen!“, zischte Mike und grinste fies. Er liess mich los – und stiess mir mit voller Wucht die Faust in den Magen. Ich riss vor Schmerz die Augen weit auf, aber ich konnte mich nicht wehren, konnte nicht weglaufen. Ich war wie blockiert und stand zitternd da. Unter den anspornenden Rufen seiner Kumpels schlug Mike auf mich ein, in den Bauch, in die Beine, auf die Nase – und dann, als mich seine Schläge ihm Gesicht trafen, wurde mir schwarz vor Augen. Ich sank, ohne einen weiteren Laut von mir zu geben, auf den Boden und fiel in eine bodenlose nachtschwarze Tiefe…
Helles Licht blendete mich im Gesicht. Ich blinzelte und schlug die Augen auf. Grosses Zimmer, mehrere Betten, alles weiss, Blumen und Grusskarten auf einem Tisch. Ich musste im Krankenhaus sein. Aber wieso…? Dann fiel es mir wie Schuppen vor die Augen. Mike, die Schmerzen, die Dunkelheit und die wirren Träume– ich muss wohl bewusstlos gewesen sein. Aber wer hatte mich hierher gebracht? Und wieso pochte mein Arm so? Die Antworten sollte ich bald bekommen, nämlich genau eine Stunde später, als ein Dr. Bär, wie er sich vorstellte, nach mir sah. „Ah, das Fräulein Zimmermann ist endlich aufgewacht, wunderbar! Dann kann ich ja den jungen Mann, der seit gestern verzweifelt auf ihre Rückkehr wartet, beruhigen. Aber erst einmal zu ihren Verletzungen. Ihr Arm ist leider gebrochen, und am Kopf gab es eine leichte Platzwunde. Aber sonst ist alles in Ordnung. Ich glaube, ich lasse jetzt mal ihren Freund herein. Auf Wiedersehen, Frau Zimmermann.“ Er schüttelte meine Hand und verliess das Zimmer. Als Luis ins Zimmer stürmte, pochte mein Herz noch mehr als der gebrochene Arm, der in einem blauen Gips steckte. „Cosima! Dir geht es gut! Gott, hab ich mir Sorgen gemacht!“ Er setzte sich auf die Bettkante und drückte mich vorsichtig an sich. „Was ist eigentlich genau passiert?“, fragte ich verlegen. „Als ich auf dem Weg zur Balletschule war, wurde mir plötzlich klar, dass ich dich auf keinen Fall alleine lassen durfte. Doch als ich dann beim Fussballplatz ankam, war es schon zu spät. Mike und seine Freunde ergriffen die Flucht, als sie merkten, dass sie soeben ein Mädchen bewusstlos geschlagen hatten. Ich habe solche Angst gehabt, Cosima, als du da so gelegen bist. Da hab ich natürlich gleich einen Krankenwagen gerufen. Du warst ewig bewusstlos! Aber jetzt wird alles gut! Mike wird von der Schule geschmissen und…“ Er brach ab, als er bemerkte, wie ich ihn ansah. „Es ist wirklich alles wieder gut?“, fragte ich leise. Er nickte und drückte meine Hand. „Ich hab auch mit deinen Eltern geredet. Sie haben dich zu einer Therapie angemeldet, damit du deine Erlebnisse verarbeiten kannst.“ Ich verdrehte entnervt die Augen. „Verarbeiten? Das ist wieder mal typisch meine Eltern. Auch wenn ihre einzige Tochter im Krankenhaus liegt, reden sie noch in ihrer Fachchinesischsprache! Wenn ich dich gewesen wäre, ich wäre schreiend davon gelaufen!“ Luis grinste. „Oh, deine Mutter war sehr nett zu mir. Ich glaube, sie hielt mich für deinen Freund.“ Ich wurde rot. Feuerrot. Radieschenrot. Klatschmohnrot. „Und, hast du sie aufgeklärt?“, krächzte ich, auf einmal mit einem schweren Kloss im Hals. Sein Grinsen verschwand, er sah mich an und sagte dann leise: „Ich fand keinen treffenden Grund dafür.“ Dann beugte er sich vor und küsste mich auf den Mund. Und ich küsste lachend zurück.
Meine Grossmutter hat mal erzählt, dass Liebe wie Medizin für uns sei, sie lindere die schlimmste Wunde. Und deshalb habe ich beschlossen, nach der Schule Krankenschwester zu werden, um anderen Menschen genau diese Weisheit ans Herz zu legen. Luis jedenfalls fand die Idee super. Er selbst will mal Werbetexter werden. Und als wir eines Abends gemeinsam in seinem Garten die Sterne zählten, da flüsterte er mir sein erstes Werbeprojekt ins Ohr. „Liebe. Dies ist ein Arzneimittel, zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie bitte ihr Herz!“