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Liebe in Zeiten der Abstraktion
Ich fliehe schnell und unbewegt und hinter mir scheint erst die innere Fakultät, dann die Außenwand, die schnörkelige, schließlich gar der ganze Regentenbau sich langsam einzuklappen, in sich einzusaugen. Draußen herrscht eine drückende Schwüle, die mir schier den Boden unter den Füßen wegzieht oder mich mit dem Oberkörper gegen eine feste Wand laufen lässt, auf die Gefahr hin, böse abzuknicken ab den Knien nach hinten weg. Die Mücken des Restsommers flirren gleißend um mein Haupt herum. Ich wische zwei- oder dreimal vergebens die fladige Luft beiseite. Also, wo gehts lange, wo gehts lang. Ich muss unbedingt Marlene schreiben, ich halte das nicht mehr aus.
Mehrere Ecken umschlungen, gelange ich zu einem Platz hinter einer heidnischen Kapelle, einer Kapelle für den Bürger gegen den Fürsten, da oben, wie mir einst erklärt wurde auf dem Stadtrundgang. Hier ist niemand, nur zwei Rundbänke rund um je einen umzäunten Baum, halb in der Sonne, halb im Schatten. Ich brauche sehr lange, mich auf einen bestimmten Platz auf dem jeweiligen Rund festzulegen, wobei ich mich erinnert weiß an das Gleichnis vom Esel, der zwischen zwei Heuballen verhungerte. Schließlich setze ich mich hastig mit geschlossenen Augen und suche nach einem Schreibbesteck. In meinem Manuskript steckt ein Bleistift. Dies ist nicht, was ich mir wünschen würde, hätte ich eine Wahl. Aber eine gerührte Frau sieht doch sicher nicht nach dem potenziellen Schreibgerät, mit dem die Gedichte, die lieben Worte und Lobhudeleien, die freilich ernstgemeinten, verfasst sind. Ich habe dennoch keinen Block und keine Blätter. Aber in jedem der Bücher, die ich mitgenommen habe, ich resümiere: Die Nikomachische Ethik, die Kritik der reinen Vernunft, den Wittgenstein, befinden sich leere oder fast leere Seiten, diese reiße ich so sanft wie möglich heraus und reihe sie, trotz unterschiedlicher Größe und Bleichart, aneinander. An zweien oder dreien färbe ich die Verlagsangabe samt eh falscher Jahreszahl grau. Schließlich kann ich ansetzen zu schreiben, endlich Marlene, ich komme zu dir. Was schreibe ich auf alldies?
Mein Blick verdichtet sich und wird verschwommen unscharf. Die Gedanken ziehen weg vom Mittelpunkt, da fällt mein Blick, angelockt von einem subtilen, in unregelmäßigen Abständen auftretenden, panikartigen Säuseln, auf einen dicken Käfer vor mir auf dem Boden, in etwa drei Meter entfernt, der irgendwie wohl auf dem Rücken gelandet ist und nicht mehr aufstehen kann. Zuerst zentriere ich meinen Blick auf das Spektakel, welches sich vor mir auftut. Der kleine Racker, indessen ich beobachte, versuche ich mich an einer Spezifizierung der Art, was nicht gelingt, windet und dreht sich, stets begleitet vom wilden Summen seiner Flügel, die hastig gegen den Asphalt schlagen und wischen. Noch denke ich, er wird sich schon befreien können. Es kann im Grunde ja nicht sein, dass ein solcher Käfer, einmal falsch gelandet, sterben muss. Kaum ist dies in meinem Kopf fertiggedacht, verstummt das Tier. Ist er wohl schon tot, frage ich mich, jetzt aufstehend und einen Schritt näherkommend. Es gibt hier keine Menschen, nur ihn und mich, aus Weitem ist das gleichbleibende Schlagen einer Kirchturmuhr gerade noch so zu vernehmen. Ich beuge meinen Kopf nach unten, verschärfe meinen Blick, da macht er einen Zuck. Anscheinend nun mit neuer Lebenskraft, mit neuem Lebenssaft vollgeflossen, summt und dreht er sich noch stärker als zuvor, noch viel lauter überdröhnt das Surren alle anderen Geräusche aus der hintrigen Dumpfheit der Stadt und des Lebens, was mir vielleicht nur deswegen so vorkommt, da ich mich nun noch näher an ihm befinde als beim ersten, ursprünglichen Befreiungsversuch. Doch auch diesmal, obwohl wahrscheinlich stärker, unter einer viel größeren, angesammelten Kraftanstrengung, schafft der Käfer keinen Umschwung auf die Seite des Beines. Kafka ist zuvörderst lustig, schießt es mir in den Kopf. Hinter einer Fassade aus Absurdität und kruder Ironie winkt dem Leser, der sich darauf einlässt, eine Ahnung des jüngsten Gerichts, stand einmal auf dem Buchrücken, so ein Unsinn. Warum nicht einfach: Genial lustig! – Brigitte.
Da verstummt er wieder, dieser arme Kerl. In mir mischt sich Mitleid mit der Neugierde, der kruden, an der Schau des Todes. Haschen wir Menschen nicht danach, endlich irgendwann dem Tode ins Gesicht zu sehen, sicher aus vielen Gründen. Aber das ist eben ein Strebeziel, nicht etwa das unbestimmte Glück, oder doch. Ich will es jetzt wissen und krabbele noch näher an den Krabbler heran, der nicht krabbeln kann. In einem gehockten Stand, der meine Schienbeinsehnen schmerzen macht, breitbeinig, beuge ich mich nunmehr völlig über ihn. Er setzt an, vielleicht ein letztes Mal, und dreht sich, panischer und abgehakter, um die eigene Achse, doch noch immer nicht versteht er es aufzustehen. Ich könnte hier, wie lange dies auch immer dauern mag, ich habe Zeit, ich bin ein Mensch, dem Tod beiwohnen, ohne ihn höchstselbst herbeiführen zu müssen. Noch immer strampelt er und er bewegt sich fort auf diese Weise, sodass ich stets ein Stückchen nachrücken muss, um mein Zentrum weiterhin direkt über ihm halten zu können. Ich werfe einen breiten Schatten, der Dunkel bringt über den Käfer und vielleicht den ganzen Raum, den er übersehen, fühlen kann. Ich könnte meine Position wechseln, um ihn herumrobben in kleinen, putzigen Schrittchen in der Kniebeugenhaltung, sodass ich eine Position erreichen würde, die einen Schattenfall zu der nicht dem Käfer zugewandten Seite bewirken würde. Dies erscheint mir viel zu anstrengend, mein lädiertes Knie, die Sehnen meines Knies halten eben so, gerade so. Zudem erscheint mir der Todeskampf im Schatten zumindest aus einem Blickwinkel passend, die Sonne würde dieser Einmalheit ja vielleicht den morbiden Glanz nehmen. Andererseits könnte es ja gerade die Sonne sein, die heutige, die mit ihrer drückenden Gleißigkeit das passende Ambiente schaffen würde für das Sterben dieses Käfers. Egal, am Ende siegt die Faulheit, ich bleibe an meinem Ort.
Das vierte Aufbäumen gerät kurz und entkräftet. Die Stunde Null, das jüngste Gericht, diesmal nicht nur ironisch zwischen den Zeilen, Schlafes Bruder und so weiter werden bald gekommen sein für dieses schöne Geschöpf, wobei ja allein der Begriff hier schon die Existenz des Gottes aussagt, der geschöpft hat und zwar aus dem Vollen, durchfährt es mich in vollster Unlustigkeit. Hierzu neigt man wohl in eigentlich tragischen Momenten, nur nicht trauern, nur nicht an sich heranlassen, alles ist gut und wird angenommen außer naiver Wahrheit. Schon wieder entzuckt ihm das Zucken, war das der Moment? Bitte nein, ich hätte ihn verpasst, es hätte ihn gar nicht gegeben. Das wäre es doch niemals wert gewesen. Entrüstung keimt in meiner Brust. Ich ringe mich durch und stupse ihn an. Es haucht mir zartes und im Endzug befindliches Leben entgegen, aber es folgt kein Aufbäumversuch. Wieder vergeht eine zähe und lange Zeit. Plötzlich setzt er an und dreht sich schneller und lauter als zuvor, das sind geballt die letzten großen Reserven, die aus seinen letzten Speichern stammen. Mir strömt die Lebensluft, das Leben des Käfers entgegen. Ich bekomme unendliches Mitleid. Auch wenn er sicher selbst schuld ist, falls man hiervon reden kann. Ich tropfe vor Schweiß, ein Tropfen trifft den Käfer und er zuckt empörend auf und kann doch nicht aufstehen, sich drehen. Ein Gefühl keimt in mir auf, das es mir unmöglich erscheinen lässt, mir aus einer idealisierten Erwartung heraus, die notwendig enttäuscht werden wird, sowie ich dieses ja bereits dachte, den Moment des Todes abzuwarten, um mich hieran zu ergötzen, hieran zu versuchen, etwas über das Leben Hinausgehendes intuitiv in mich einzusaugen. Meine Nackenstränge ziehen sich zusammen und lassen mir meinen Kopf dünn und ausgemergelt erscheinen. Ich habe großen Durst in dieser brütenden Hitze. Der Gedanke an Tod wird unerträglicher, der Käfer zuckt die letzten Zucker, gleich wird er sterben, das weiß ich. Die Turmuhr schlägt die nachmittägliche Stunde, in der Tat fünf mal. Er bewegt sich nicht mehr und ist fast tot. Da zuckt in mir ein Impuls hoch. Im Ausdröhnen der Kirchturmuhr greife ich aktiv in das Geschehen ein. Ich drehe den Käfer, der gerade noch am Leben ist, mit meinem rechten Zeigefinger. Dieser weiß zuerst nichts hiermit anzufangen, doch dann erhebt er sich auf seine Beinchen und schwirrt ein wenig hoch. Kurz bleibt er in der Luft stehen, als hätte er schon abgeschlossen und wüsste nichts mehr mit der Welt hier anzufangen.
Ich stehe auf und denke mir, es ist doch nur ein Käfer, was denke ich mir nur immer. Da macht er kehrt und fliegt mich an. Er setzt sich auf meinen Arm und beißt hinein. Ich schreie auf und springe hoch und streife das Ungeziefer ab, solch eine unendliche Undankbarkeit. Zorn schießt in mir hoch, doch zähme ich mich und drehe von dannen, zurück in Richtung der Rundbank. Er verfolgt mich und beißt mir, als ich ihn wegfuchteln will, in den Mittelfinger der linken Hand. Jetzt panischer, wedele ich wild mit beiden Armen, doch der Errettete fliegt nur einen Bogen, um zum nächsten Angriff anzusetzen. Ich falle hin und lande neben meinem offenen Rucksack. Ich fasse hinein. Mein ganzes Sein spannt sich an und ich klammere die Hand um die Nikomachische Ethik. Die Sonne beißt mir prickelnd in den Hinterkopf. Nach einem weiteren Biss hält der Käfer inne und setzt sich auf die Rundbank. Es kommt mir vor, als würde, ohne meinen Einfluss, ohne auf einen, irgendeinen Antrieb zurückgehend, das Schlaginstrument durch die klirrende Heißheit, durch die wie in Zeitlupe Schweißtropfen, die von meiner Stirn, meinen angepappten langen Haaren rinnend fließen, geräuschvoll wabern, fast fliegend tänzeln, und hernach den Käfer, den ich im Moment als einzigen schaubaren Zeitgenossen mir bewusst machen kann, auf der Holzbank knackend, knirschend zermalmen. Undenkend lasse ich den Aristoteles fallen, der auf der Rückseite landet, auf der der Fleck mahnend prangert, den das Innere des Käfers breitstreuend hinterlassen hat. Ich kratze es nicht ab. Auf der Bank befinden sich die restlichen Stücke, vielleicht war das ja ein angenehmer, artgerechter Tod für ihn als das Nicht-mehr-aufstehen-Können. Beschämt blicke ich mich um, meine Unterlippe zittert leicht. Einige Leute biegen nun um verschiedene Ecken um uns, warum denke ich uns, herum. Kurz stehe ich bewegungslos da. Dicke Tränen rinnen meine Wangen herunter, ich werde so schwach vor Fassungslosigkeit. Bestürzt packe ich den Rucksack und renne heim. Irgendwo zeitlos hinten am Horizont ergießen sich Bäche des Regens.