Liebe, die auf Fliesen liegt
Ich sitze auf der Toilette und scheiße Sturzbäche. Den Kopf in meine Hände gestützt verharre ich nahezu in Emrbyonal-Stellung, mit nackten Füßen auf kalten Fliesen und den Gedanken irgendwo zwischen den äußeren Hirnlappen, dem Kiosk um die Ecke und dem gestrigen Abend. Ich hatte wohl ein Bier zu viel. Ich spüre, wie sich eine Welle von meinem Magen ausgehend, den Weg durch meine inneren Organe bahnt und einen Gang nach draußen sucht. Verdutzt über meine eigene Geistesgegenwart hebe ich meinen Kopf und drehe ihn Richtung Waschbecken, um mich dort zu erleichtern. Aber in dem Moment, in dem das Halbverdaute durch meinen Rachen schießt, registriere ich, dass das Waschbecken auf der anderen Seite liegt. So platschten die wenigen Brocken und die Unmenge an Flüssigkeiten verschiedenster Farben auf die kalten, schmutzigen und mit Schamhaaren bedeckten Fliesen. Mit dem Handrücken versuche ich meinen Mund zu reinigen, doch das gelingt mir nur bedingt. Mir kommt es vor, als verteile ich die Überreste des Erbrochenen nur in meinem ganzen Gesicht. Ohne hinzusehen greife ich nach einem Handtuch und drücke es mir ins Gesicht. Ich schließe die Augen und grelle Blitze zucken mir über die Innenseiten der Augenlider. Die nächste Woge macht sich bereit, den Weg ans Tageslicht zu gehen, und inzwischen ist es mir egal, ob ich jetzt das Waschbecken treffe oder nicht, und so spreize ich nur die Beine, beuge meinen Oberkörper ein wenig nach vorne und lasse den Dingen ihren Lauf.
Überstanden. Ich lehne mich wieder zurück und drücke dabei die in der Wand befestigte Spülung. Das Rauschen des Wassers erweckt meine Lebensgeister – jedenfalls für die Zeit, die es braucht, mir die Bild-Zeitung zu greifen, die auf einem Stapel Handtücher liegt. Ich lege mir die Zeitung auf die Oberschenkel und beginne träge die Seiten umzublättern. Meine Augen überfliegen die Überschriften der Artikel. Lese davon, dass ein Graf Gefahr läuft, seinen Adelstitel zu verlieren. Er lebt wohl in Saus und Braus. Und der seriöse Part der Familie will ihn nicht mehr unter den Ihrigen sehen. Meine Gedanken wandern zu meinem Bankberater und mir wird klar , dass ich aufpassen muss, dass man mir nicht meinen Vornamen abnimmt. Geld ist knapp. Wird Zeit, dass wir mal wieder einen Auftritt haben. Ich muss mich mal darum kümmern, die Jungs wieder zusammenzubringen und darauf einzuschwören, dass wir eine Rockband sind, für die es noch vieles zu erreichen gibt. Der letzte Gig war vor drei Monaten und die meisten meiner Kollegen habe ich seitdem höchstens zweimal gesehen. David, unseren zweiten Gitarristen, sogar überhaupt nicht. Wollte der nicht nach Indien? Seit seine Freundin ihn verlassen hat, ist mit David nicht mehr viel los. Er bleibt zu Haus, wenn alle anderen auf die Piste gehen und das Leben als regionale Rockergröße genießen. Er liest jetzt Bücher über Selbstfindung und so einen Scheiß. Zu meinem Glück hat er seine Pornosammlung aufgelöst. So konnte ich mir den Großteil seiner Porno-Mangas sichern. Liegt davon nicht auch einer hier im Bad herum. Ich blicke mich um und ahne böses. Ich werde in dieser unschönen Vorahnung bestätigt. Unter meinem Haufen Kotze, dem links von mir, dort wo ich das Waschbecken vermutete, blitzen die Seiten meiner Lieblingsausgabe hervor. Angewidert und mit spitzen Fingern ziehe das Heft aus der Pfütze heraus. Ganz vorsichtig nehme ich das Handtuch und beginne damit, die Seiten von der Flüssigkeit zu befreien. Nie zuvor habe ich mich über meine Maßlosigkeit im Umgang mit Alkohol so sehr geärgert wie in diesem Moment. Hätte ich auf den Stapel Handtücher gekotzt, wäre mir das egal gewesen. Aber auf mein Lieblingsheft gezeichneter Erotik – ich bin entsetzt.
Inzwischen habe ich die oberen Seiten einigermaßen gereinigt und so blättere ich um und betrachte mir den kleinen erotischen Kosmos, den ich bei Mickey Mouse immer vermisst habe. Unschuldige Mädchen mit aufgeweckten Gesichtern und großen Augen, so wie Heidi als Zeichentrickfigur, treiben es mit fies aussehenden, stubsnäsigen Männern, deren Haare wirr in der Luft stehen. Der Anblick erregt mich und ich spüre, wie sich mein Penis langsam aber sicher aufrichtet. Mit einer Hand halte ich das Heft und die andere wandert zwischen meine Beine und beginnt damit den Schwanz zu massieren. Ich lehne mich wieder an die Wand und aktiviere damit abermals die Spülung. Während mein Penis zu pulsieren beginnt, verschwende ich keinen Gedanken an die beiden Kotzteiche und auch nicht an Zoé, meine Ex. In dem Moment tue ich das natürlich doch. Ich sehe ihr Gesicht vor mir, wie sie mich abschätzig ansieht, mit dem Kopf schüttelt und sich räuspert. Einmal, noch einmal und noch ein weiteres Mal. Wieso räuspert sie sich? Das Glied in meiner Hand erschlafft und frustriert öffne ich die Augen. Wieder jagen Blitze über die Netzhaut. Ich reibe meine Augen, lege das Heft in das Waschbecken, stehe auf und ziehe die Jogginghose hoch. Mit dem recht Fuß patsche ich einmal in die Pfütze vor mir, und dann drehe ich mich zum Spiegel, öffne den Wasserhahn und halte meinen Kopf unter den kalten Strahl. Noch immer höre ich das Räuspern von Zoé.
Dabei ist das keineswegs typisch für sie. Wenn man an sie denkt, hört man viel eher ein herzliches Lachen. Aber ich vernehme nur noch dieses Räuspern. Daran ändert auch die schwankende Temperatur des Wassers nichts. Es fällt mir nur ein, dass ich den Thermostat auswechseln muss, wie schon seit meinem Einzug in diese Wohnung vor vier Jahren. Kurz nachdem Zoé mich rausgeschmissen hat, nachdem sie herausbekommen hat, dass ich es mit ihrer Freundin getan hatte, als wir beide breit wie die Nattern von einem Konzert nach Hause fuhren. Aufgeputscht vom Adrenalin des Bühnenauftritts war mir alles egal und gegen meine Angewohnheiten nahm ich das Angebot an, von den neuesten chemischen Drogen zu probieren, die David damals immer von seinem Cousin bekam, der sich im Keller seiner Eltern als Alchemist versuchte. Jedenfalls blies mir zunächst das Zeug das Gehirn aus dem Kopf, und dann sie meinen Schwanz. In dem Zustand indem ich war, interessierte es mich kein Stück ob wir Zeugen hatten oder nicht. Nun ja, wir hatten welche. Darunter Zoés kleine Schwester, die damals was mit Jorge, unserem Schlagzeuger, hatte. Es dauerte nicht lange und ich saß auf der Straße, bzw. am Küchentisch meiner Eltern und musste ihnen erklären, das Zoé mir den Laufpass gegeben hatte. Obwohl sie Zoé sehr mochten, und äußerst sauer auf mich waren, nahmen mich auf. Allerdings mit der Bedingung, dass ich mir so schnell wie möglich eine neue Wohnung zu nehmen hätte. Über einen Bekannten meines Vaters bin ich dann an diese Bude gekommen. Damals sah es hier sogar ganz gut aus, aber in den zwei Jahren fanden so viele Partys statt, auf die die alten Rocker stolz gewesen wären, dass es nun aussieht als lebe ich im Betriebsraum eines U-Bahn-Schachts. Weiß nicht, wann ich zuletzt die Gardinen zur Seite hatte, geschweige denn wann die Fenster das letzte mal geöffnet waren. Es ist immer dunkel hier und das mag ich. Zu einem Mädchen habe ich mal gesagt, die Lichtverhältnisse in meiner Wohnung spiegeln meinen Gemütszustand wieder. Da stand sie auf, verließ das Zimmer und wart nie wieder gesehen.
Wo ich so darüber nachdenke, glaube ich fast, sie hätte sich beim Aufstehen geräuspert, doch bilde ich mir das Räuspern nicht ein. Ich höre es wirklich. Ich höre, wie sich jemand hinter meinem Rücken räuspert. Ich schrecke hoch, stoße mir dabei den Kopf am Wasserhahn und dreh mich so schnell wie möglich um. Da ist nichts. Ich sehe nur das Slayer-Poster an der Tür, die Kotzflecken, die Zeitschriften und die Handtücher auf dem Boden, den Duschvorhang, der nur zur Hälfte an der dafür vorgesehenen Stange hängt.
Da ist nichts. Niente. Zero. Also wende ich mich wieder dem Spiegel zu. Mein Abbild betrachtend, fühle ich mich unwohl. Und so schaue ich im Spiegel eigentlich mehr an mir vorbei, als mich an. Lacht mich die hässlich Fratze des Slayer-Posters etwa hinter meinem Rücken aus? Ich wage es kaum zu atmen und beobachte die Züge des Bildes genau. Das geht mit Sicherheit einige Minuten so, und dann komme ich zur Besinnung und beruhige mich wieder. Ich schütte mir noch etwas Wasser ins Gesicht und sehe mich nach meinem „Überlebenskoffer“ um. Er befindet sich noch immer dort, wo ich ihn gestern früh zurückgelassen habe. Gott sei dank. Mein Kopf dröhnt, als spiele ein Antimusiker den „So What“-Basslauf von Miles Davis in meiner ausverkauften Stirnhöhle. Ich bücke mich und spüre wie das Blut Mühe hat, in meine Extremitäten zu gelangen. Es rauscht in meinen Ohren. Mein ganzer Kopf scheint ein Konzertsaal für die weltgrößte Kakophonie zu sein. Meine Hand gleitet – diesmal nicht zwischen meine Beine, sondern – hinter das Toilettenabflussrohr und zieht dort einen zugegebenermaßen ziemlich versifften Adidas-Kulturbeutel hervor. Überraschend schnell bekomme ich den Reißverschluss geöffnet und fingere die erste Arzneimittelpackung heraus. Ich starte das Reanimierungsprogramm mit zwei Tabletten Neuralgien. Ich habe große Schwierigkeiten, sie meinen trockenen Rachen hinunter zu befördern. Und da ich meinem Körper eh Mineralien zuführen muss, renne ich in die Küche, um mir eine Flasche Wasser zu holen. Rennen ist vielleicht zuviel gesagt. Ich eiere über den Flur, haue mir einen Splitter von einer kaputten Holzdiele in die Sole, beginne auf einem Bein zu hüpfen und falle ziemlich schnell, unmotiviert auf den Bauch. Das Orchester in meinem Kopf legt sich jetzt erst recht ins Zeug. Die beiden halb zerkauten Neuralgien sind mir aus dem Mund gefallen und liegen neben meinen verschlammten Docs. Das Räuspern ist wieder da. Ich atme ganz flach und hebe mühsam meinen Kopf. Der Versuch den Kopf zu drehen, um irgendwie hinter mich zu gucken, schlägt fehl. Mein Nacken ist hart wie sonst was. Jeder Muskel scheint zu einer Stahlbetonröhre mutiert zu sein. Mein Mund befindet sich etwa eine handbreit über dem IKEA-Flickenteppich und ein steter Faden Speichel tritt aus ihm heraus. Jegliche Kraft scheint aus meinem Körper gewichen. Mein Kopf fällt einfach wieder nach unten und so finde ich mich mit meinem Gesicht in meiner eigenen Spucke wieder. Erniedrigend.
Nichts rührt sich. Mein Atem geht nur schwach. Muss ich sterben? Ist die Zeit jetzt gekommen? Was für Musik wird auf meiner Beerdigung gespielt? Scheiße, ich habe nie jemandem gesagt, welches Lied ich auf meiner letzten Party haben möchte. Keiner meiner Freunde weiß das. Von meiner Familie ganz zu schweigen. Hoffentlich darf wenigstens Jorge nicht entscheiden, was gespielt wird. Ich will ganz bestimmt nichts von „Senser“ bei meinem Abgang hören! Scheiße! Gott, mach, dass Jorge keine Chance erhält zu sagen, was ich wohl am liebsten gehört hätte, bitte.
Aber was sollte denn auf meiner Beerdigung gespielt werden? Ich gehe eine Reihe an Songs durch. Metall erscheint mir unangemessen, selbst komponierte Stücke klingen zu sehr nach verspäteter Selbstbeweihräucherung und Jazz würde meine Eltern verstören. Zu den Schmerzen gesellt sich nun eine ausgeprägte Depression.
Ob wohl überhaupt jemand zu meiner Beerdigung kommen wird? Wenn ja, wird Zoé auch dabei sein? Ich sehe die Trauergemeinde vor mir. Ein Bild des Grauens. Ich komme gerademal auf eine Handvoll Menschen, die mit Sicherheit da sind. Ich denke nicht einmal mehr im Konjunktiv. Sterben werde ich auf jeden Fall. Und selbst, wenn ich diesmal noch überleben sollte. Auf meiner Beerdigung wird es aussehen wie im Aufenthaltsraum eines Provinzbahnhofs, Dienstags um 13 Uhr. Die Trauernden gehen gerade in die Kapelle. Sie setzen sich. Der Anblick wird immer trauriger. Wenn Sie wenigstens zusammensitzen würden. Aber nein, die kennen sich untereinander ja fast gar nicht. Meine Eltern sitzen vorn – wie sich das gehört – und neben ihnen sitzt tatsächlich Zoé. Sie hat mich also nicht vergessen. Sie ist so schön. Auch wenn Sie traurig ist. Sie lacht lautlos. Sie lacht! Lacht! Auf meiner Beerdigung. Alles beginnt zu lachen. Lautlos zu lachen. Sie öffnen ihre Münder, ihre Brustkörbe beben, mein Vater schlägt sich auf die Schenkel. Sie beömmeln sich wie die Blöden. Was soll das? Ich kann nichts hören. Nur das Rauschen meines Blutes. Noch lebe ich also. Sie lachen alle und schauen auf eine Person, die neben Zoé sitzt. Eine Person mit meiner Statur. Sitzt mit dem Rücken zu mir und scheint das Gelächter zu genießen, da er es wohl ausgelöst hat. Er dreht sich zu Zoé und küsst sie. Jetzt kann ich sein Gesicht erkennen. Aber ich kenne ihn nicht. Keine Ahnung wer der Typ ist. Während ich hier so liege und mir mein Ende ausmale, mischt sich zwischen den stetig fließenden Speichel, die gute alte Magensäure. Ich ahne böses. Doch damit will ich mich nicht auseinandersetzen und so flüchte ich lieber wieder in die Kapelle. Inzwischen ist der Pastor angekommen. Höchstpersönlich? Wahrscheinlich, weil er immer noch ein schlechtes Gewissen hat. Habe ihn mal zusammen mit meiner Mutter in der Teeküche des Gemeindehauses erwischt. Mutter hat da nämlich gewischt und sich so etwas Haushaltsgeld dazu verdient. Noch immer kann ich kein Wort verstehen, doch die Menge scheint sich vom Lacher erholt zu haben und lauscht andächtig den Worten des schwarz gekleideten Mannes. Jetzt greifen sie alle unter ihre Bänke und holen die Gesangsbücher heraus. Ich versuch zu erkennen, welche Lieder auf der Liedtafel angeschlagen wurden, doch kann ich es beim besten Willen nicht erkennen. Sie machen sich bereit zum Singen. Synchron öffnen sich die Münder. Räuspern. Ohrenbetäubendes Räuspern! Aus allen Mündern!
Ich schrecke hoch. Alles ist ruhig. Mühsam rappele ich mich auf. Genauso mühsam muss ich mich wieder hinknien, um die Überreste der Neuralgien aufzusammeln. Das konzentrierte Koffein ist jetzt genau das, was ich brauche. Noch in der Hocke, stecke ich mir die kleinen Wachmacher in dem Mund und verschließe diesen fest. So fest es geht. Ich beiße im wahrsten Sinn die Zähne zusammen. Auf dem Weg in die Küche trete ich noch gegen den Telefontisch, doch wo ich sowieso gerade am Zähne beißen bin, halte ich den Schmerz aus.
In der Küche sieht es zum Fürchten aus. Weshalb ist mir das zuvor niemals aufgefallen? Ich kann gar nicht erkennen, wo sich der Küchentisch überhaupt befindet. Zeitungen, Pizzakartons, Sixpack-Verpackungen und Plus-Tüten verbergen ihn. Ich befreie die Platte mit einer wischenden Bewegung von ihrem Unrat. So sieht er also aus. Der Tisch. Mein Blick schweift wieder durch die Küche. Auf der Suche nach Wasser durchquere ich nun die Müllwüste und öffne den Kühlschrank. Zu meinem Glück steht in der Tür noch eine volle Flasche. Ich nehme sie und das kühle Wasser rinnt meinen Hals hinab und nimmt die übriggebliebenen Krümel des Neuralgien mit ins Innere meines Körpers. Ich trinke weiter, bis ich die Flasche gelehrt habe. Ich habe kein Lied für meine Beerdigung. Da mir dieser Gedanke gerade durch die Gehirngänge kriecht, schließe ich mit mir selbst ein Abkommen: Das nächste Lied, das ich im Radio zu hören bekomme, wird das Lied sein, das man auf meiner Abschlussfeier spielt. Ich recke mich also nach dem Radio und erreiche mit einiger Mühe den Einschaltknopf. Pech gehabt. Nachrichten. Der Sprecher räuspert sich. Es folgen Meldungen vom Sport. Ein irgendwie ins Kreuzfeuer geratener Fußballtrainer erklärt sich und seine Handlungen der Öffentlichkeit. Er räuspert sich und sagt er: „Ich tue das, weil ich ein absolut reines Gewissen habe.“ Ich weiß nicht wovon er redet und wechsele den Sender. Auf dem nächsten sind die Nachrichten bereits vorbei und der Moderator klärt mich über die Uhrzeit auf. Sechszehn Uhr.
Mit einem Schlag kehren die Kopfschmerzen zurück. Das Telefon klingelt. Ich weiß einen Moment nicht, was das bedeutet. Weiß nicht, ob mein Kopf noch zu mir gehört, ob er überhaupt noch mit meinem Körper verbunden ist. Die Speiseröhre brennt. Scheiße. Das Mittel gegen das Sodbrennen habe ich im „Überlebenskoffer“ gelassen. Und der Koffer ist noch im Bad. Klingeln. Die Säure steigt mir den Hals hinauf. Ich suche nach dem Telefon. Klingeln. Ich schleppe mich ins Wohnzimmer. Das Telefon räuspert sich. Ich schaue unter dem Wohnzimmertisch, unter dem Sofa und unter den Fernsehzeitschriften. Klingeln. Endlich finde ich es auf der Fensterbank und nehme den Hörer ab. Die Leitung ist tot. Runter mit den Nerven plumpse ich auf die Couch. Mit den Handinnenflächen drücke ich auf meine Schläfen und versuche so die schlimmer werdenden Schmerzen zu bändigen. Ich schließe einen Moment die Augen und versuche mich zu konzentrieren. Das dumpfe Rauschen des Blutes ist einen Augenblick das einzige, was ich wahrnehme. Aus der Küche weht der Duft von frisch gebackenen Pfannkuchen ins Wohnzimmer. Augen offen. Es sieht wahrlich wohnlich aus. Große orangefarbene Ohrensessel flankieren ein wunderschön altes, grünes Ledersofa. Mahagonimöbel stehen an der Wand. In einem Zeitungsständer findet man nur die aktuellsten Ausgaben. „Die Bunte“, „Schöner Wohnen“, „Kicker“ und „Eltern“. Vor dem Sofa liegt eine Krabbeldecke mit einem Berg an Spielzeugen und Kuscheltieren. Und mittendrin ein kleines Kind. Mit aufgeweckten Augen schaut es mich an. Es lacht. Lautlos. Der Duft der süßen Pfannkuchen steigt mir wieder in die Nase. Ich erhebe mich vom Sofa, steige über die Krabbeldecke und gehe zur Küche. Im Türrahmen bleibe ich stehen. Ich sehe an mir herunter. Ich trage keine Jogginghose mehr. Stattdessen stecken meine Beine in einer Bundfaltenhosen. An den Füßen trage ich nicht mehr als braune, italienische Slipper. Ich sehe geradeaus in die Küche und da steht eine wunderschöne Frau und hält eine Pfanne in der Hand. Sie dreht sich zu mir und strahlt mich mit ihrer Schönheit und dem Lächeln einer Göttin an. Es ist Zoé. Sie ist etwas älter geworden, doch sie sieht umwerfend aus. Sie stellt die Pfanne ab, nimmt ein Geschirrhandtuch in die Hand und kommt auf mich zu. Wie in Zeitlupe öffnen sich ihre Lippen und beginnt sie mit mir zu sprechen. Ihre engelsgleiche Stimme klingt in meinen Ohren. Laut und deutlich höre ich, wie sich mich mit falschem Namen anspricht. Mir wird schlecht und ich übergebe mich vor ihren Augen. Und vor ihren Füßen.
Der beißende Geruch öffnet mir die Augen und ich finde mich in meinem Loch wieder. Mit einem kleinen Kotzfleck auf meiner Brust, von dem ich nicht weiß ob er frisch ist, oder ein Überrest aus dem Bad, stehe ich auf und mache mich auf den Weg. Da ich mich dafür entscheide, den Tag als für mich gelaufen zu sehen, begebe ich mich zurück in mein Bett. Auf dem Flur höre ich das Räuspern wieder. Ich öffne die Tür zu meinem Schlafraum, der noch düsterer ist, als die anderen Zimmer. Doch das elektrische Licht des Flures erhellt auch mein Gemach ein wenig. Das Räuspern wird mit einem mal so laut, als befände ich im Rachenraum des Räusperers. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich sehe mich in meinem eigenen Schlafzimmer um, als wäre ich fremd hier. Auf dem Boden liegen Klamotten, was an und für sich völlig normal ist, gehörten diese Sachen mir. Aber diese hier habe ich nie getragen. Neben einem schimmernden Hemd liegt eine schwarze Cargohose. So was ziehe ich nie an. Und was mich am meisten irritiert, sind die zwei Kondome die hier auf dem Boden liegen. Räuspern. Etwas bewegt sich in meinem Bett. Und das Räuspern scheint von dieser Person zu kommen. Und gehe vorsichtig auf das Bett zu, bleibe etwa einen Meter davor stehen und strecke mich um etwas erkennen zu können. Der Geruch von verschwitztem Sex hängt in der Luft. Es stinkt geradezu. Männerschweiß. Ich drehe mich nochmals um und betrachte die Kondome auf dem Teppich.
Zwei nicht ganz saubere Latexhüllen. Mir wird flau. Ich sehen ein Paar Schuhe, das nicht zu mir gehört. Die Größe schätze ich auf 45. Es sind eindeutig keine Frauenschuhe. Mein Herz pocht in meinem Hals. Ich wende mich wieder dem Bett zu und nähere mich vorsichtig. Mit einer Hand versuche ich die Decke soweit zurückzuziehen, dass ich einen etwas genaueren Blick auf das Wesen in meinem bett werfen kann. Das Räuspern lässt mich zusammenzucken. Ich erkenne Locken. Dunkele Locken auf meinem Kissen. Locken, die zu einem Körper gehören, der nackt hier vor mir liegt. Ich beginne zu schwitzen. Das Räuspern ist gar kein Räuspern, sondern das Schnarchen dieses Mannes. Das Geräusch, das mich schon die ganze Zeit verfolgt. Es verstummt. Es ist still. Ich wage es kaum zu atmen. Ich betrachte den Lockenkopf genauer. Er gehört David!
Ich taumele aus dem Zimmer. Im Flur rutsche ich mit dem Rücken die Wand hinunter. Mein Blick gen Decke gerichtet, sehe ich sie über mir, die Trauergemeinde.
Sie lacht – lautlos.