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Ein Einblick in meine Gefühle, meine Gedanken und in einen Morgen, wie er öfter vorkommt.
Liebe/Böse Angst
Ein Tag, wie jeder anderer. Der erste Wecker klingelt, ich schlafe weiter. Der zweite Wecker klingelt, ich schlafe weiter. Dies geht noch sechs Mal so, bis ich endlich schwerfällig die Augen öffne, mich mühsam aufsetze und dann den ersten Fuß auf den Boden setze. Meine Gedanken kreisen. Schon gestern habe ich den ganzen Tag vorgeplant. Jedes kleinste Detail. Der erste Weg nach dem Aufstehen geht in die Küche. Meine Flüssignahrung wartet schon auf mich. Seufzend nehme ich sie und setze mich zu Tisch. Vor mir steht nun diese kleine, weiß-gelbe Flasche. Unter dem Markennamen steht: 300kcal. Ganz schön viel, denke ich mir. Aber nicht, dass mich das stören würde, nein, ganz im Gegenteil sogar, ich freue mich darüber. Denn das ist die einzige Möglichkeit für mich, ein Frühstück zu mir zu nehmen. Langsam öffne ich den Deckel und stecke den Strohhalm hinein. Vanille, ich mag Vanille. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch achtunddreißig Minuten habe, bis der Bus wegfährt. Meine Gedanken rasen. Was wird heute alles passieren? Werde ich heute sterben? Bin ich vielleicht krank? Todkrank? Was ist nach dem Tod? Ist alles weg? Habe ich heute einen Test? Welches Fach habe ich nach Mathe? Was, wenn meine Familie stirbt? Wie spät ist es? Was ist das für ein Fleck? Wie viel Zeit habe ich noch? Ist mir schlecht? Ich muss schneller trinken.
Das tägliche Durcheinander in meinem Kopf. Die Panik steigt, die Angst wird größer. Meine Hände fangen an zu zittern. Die Übelkeit, die tägliche Übelkeit kommt wieder auf und nimmt mich ein. Mein Herz schlägt immer schneller. Ich greife zu meiner Medikamentenpackung und nehme zwei Tabletten heraus. Manchmal frage ich mich, wie es wäre, ohne sie. Würde ich dann überhaupt noch leben? Die Angst wird immer größer.
Ich werfe einen Blick auf mein zweites Medikament, mein Notfallmedikament, das ich fast jeden Tag brauche. Es wirkt gut, sehr gut, ist aber auch sehr stark. Es macht abhängig und durch plötzliches Absetzen kann man Entzugserscheinungen bekommen. Es ist mir bewusst, dass es nicht so gut ist, es täglich zu nehmen. Doch ich brauche es, es hilft mir. Meine Angst ist dann zwar noch nicht ganz weg, aber sie ist besser. So viel besser, dass es sich damit leben lässt. Die Panik wird immer stärker. Mein Herz scheint gleich herauszuspringen.
Doch die Übelkeit übernimmt die Oberhand. Schnell springe ich auf und sprinte zur Spüle. Mit meinen Händen umschließe ich so fest es geht die Küchentheke. Nicht übergeben, nicht übergeben. Mit tiefen Atemzügen versuche ich, die Übelkeit wegzuatmen. Ich habe das Gefühl, gleich umzukippen. Die Küchentheke scheint gleich zu brechen. So stehe ich nun dort, schwer atmend, das Gefühl habend gleich zu sterben, und die Gedanken, die sind noch immer da. Nach einer Weile habe ich mich wieder beruhigt und kehre zu meinem Frühstück zurück. Die rosa Pille, mein Notfallmedikament, liegt daneben und es scheint, als würde sie mich anlächeln und rufen: „Nimm mich!“ Doch, nein, ich gehe nochmal in mich und denke nach, was meine Psychologin mir beigebracht hat. Ich soll gegen die Angst protestieren. Ihr sagen, dass sie aufhören soll. Weggehen soll und nie wiederkommen soll. Ich beschließe, es aufzuschreiben, in Form eines Briefs. Ich hole Papier und Stift, atme tief ein und aus und versuche mich auf meinen Text zu konzentrieren:
Liebe/Böse Angst!
Ich weiß, dass du dort im Schatten stehst und lauerst wie ein hungriges Biest auf seine Beute. Wartest, auf den fast täglich kommenden Moment, der dir die Möglichkeit gibt hereinzukommen und anzugreifen. Ob es ein Gedanke, ein Bild, ein Geräusch oder ein Geruch ist, viele Dinge sind für dich wie eine offene Tür.
Ich weiß, dass du mich hasst. Doch ich habe dir gar nichts getan. Ständig klopfst du an, du gibst einfach keine Ruh. Willst du dich an etwas rächen? Wenn ja, an was? Was habe ich so Furchtbares getan? Womit habe ich das verdient?
Ich weiß, dass du es liebst, wenn es mir schlecht geht. Wenn ich schon halb abwesend immer und immer wieder übergebend, fast umkippe. Wenn ich zitternd in der Ecke sitze, die Beine eng an meinen zerbrechlichen Körper gezogen hoffe, dass ich nicht sterbe. Genau, dann, in den schlimmsten Momenten meines Lebens, hast du deine besten. Wenn ich glücklich bin, bist du traurig. Wenn ich weine, bist du fröhlich. Und wenn ich in Panik verfalle, hast du gewonnen.
Ich weiß, dass du mein Leben zerstören möchtest. Willst, dass ich allein bin, keinen Spaß habe, nie wieder lachen kann. Du willst all meine Freunde aus meinem Leben werfen. Denn immer, wenn ich sie sehen möchte, bist du wieder da und hältst mich mit stärksten Kräften davon ab.
Ich weiß, dass du mich am liebsten sterben sehen möchtest. Wie ich von allen Kräften verlassend in voller Angst und Panik dort liege und du mich vollkommen übernommen hast. Du willst, dass mich die Verzweiflung überkommt, ich einfach aufgebe.
Also, liebe Angst, bitte, bitte geh weg! Denn ich werde meine Türen streng verschlossen halten, mit allen möglichen Schlössern werde ich sie versiegeln. Und falls du doch einmal eindringen solltest, dann warten auf dich so schlimme Dinge, dass du wünschen wirst, nie da gewesen zu sein. Du, du bist diejenige, die sich selbst in den Tod schicken wird, nicht ich.
Laut ausatmend lege ich den Stift aus der Hand. Ich bin wütend. Meine ganze Wut sammelt sich und ich schlage einmal fest mit der Faust gegen den Tisch. Was will sie nur von mir? Sie will mich sterben sehen … Ich werde sterben. Ich will nicht sterben. Was ist der Tod? Tränen schießen mir in die Augen. Mein Herz fängt wieder an schneller zu klopfen. Die Übelkeit liegt mir schon wieder wie ein Stein im Magen. Ich will nicht sterben … Ich habe Angst! Mein Blick wandert zu der schönen rosa Pille. Mit meiner zitternden Hand nehme ich sie vorsichtig und drücke sie aus der Verpackung. Schnell lege ich sie in meinen Mund und nehme das Glas Wasser, das vor mir steht. Ich spüre, wie sie durch meinen Hals, die Speiseröhre entlang, in meinen Magen gespült wird. Es wird nicht lange dauern, bis sie ihre Wirkung entfalten wird. Maximal eine halbe Stunde. Bis dorthin halte ich noch aus, was anderes bleibt mir gar nicht über. Also greife ich wieder zu meiner Flüssignahrung und fange an zu trinken.
Als ich endlich fertig bin und gerade aufstehe, fängt es an zu wirken. Ein kleiner Schwindel überkommt mich, aber ein guter, angenehmer. Ich bin jetzt vollkommen entspannt. Und ich bin high, so wie jeden Tag. Ich gehe wieder in mein Zimmer zurück. Auf dem Weg dorthin lächelte ich, doch meine Augen weinen. Denn ich weiß, dass es damit nicht vorbei ist. Denn sobald die Wirkung nachlässt, fängt alles wieder von vorne an.