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Lidija
Hallo,
es gibt im Anzeigenteil der Süddeutschen Zeitung unter 'Diverses' immer mal wieder ein einfaches Inserat mit dem Text 'Suchen Sie einen Erben?' Dazu ist mir die folgende Geschichte eingefallen:
Lidija
Der Alltag in unserem Heim war trist. Kaum einer, der ohne Hilfe in den großen Speisesaal kommen konnte. Die meisten stützten sich auf ihren Rollator, oder wurden im Rollstuhl gefahren. An den Tischen dann die umgehängten, besudelten Sabberlätze, die schmatzenden Geräusche beim Kauen und die Tassen und Gläser, die teils aus Unaufmerksamkeit, teils einfach wegen der zittrigen Hände umgeworfen wurden.
So traurig war unser Dahinvegetieren, bis vor vier Wochen zwei Ereignisse eintraten, die unserem Leben neue Impulse gaben.
Zuerst kam Helmut. Seine Person hätte noch keine Veränderung bedeutet, denn er war kaum jünger, noch konnte er sich ohne seinen Krankenstuhl fortbewegen. Es war die Tatsache, dass er es als einziger schaffte, einen Hund mit ins Heim zu bringen. Offiziell war die Haltung von Haustieren strengstens untersagt. Und sein Hund war nicht irgend ein Tier, sondern ein ausgewachsener Deutscher Schäferhund, gut genährt, bestens erzogen und genau so müde wie sein Herrchen. ‚Barz‘ nannte er ihn. Und Barz folgte Helmut auf Schritt und Tritt. Bei den Mahlzeiten saß er aufrecht neben Helmuts Stuhl. Die Nächte verbrachte er in dessen Zimmer. Der Schäferhund wurde nach wenigen Tagen zum Liebling der Heimbewohner und des Personals.
Was das Kommunikationsverhalten betraf, gab es in unserem Heim drei Gruppen. Die erste Gruppe pflegte aufgeräumte Konversation, auch wenn es tagtäglich um die gleichen Themen ging. Dieser Gruppe gehörten hauptsächlich die Frauen an, die sowieso den größten Prozentsatz im Heim stellten. Die ‚Schweigsamen‘ bildeten eine weitere Gruppe, zu der auch ich zählte. Ich hatte wenig Lust, mich den andauernden Nörgeleien über das schlechte Essen und über die mangelhafte Pflege anzuschließen. Lieber schwieg ich und beobachtete die Menschen um mich herum. Helmut bildete jetzt den Kern für eine neue Gruppe: er unterhielt sich ausschließlich mit seinem Hund. Mit Barz kommunizierte er laut und ausgiebig. Wenn er mir, als seinem Tischnachbarn, etwas sagen wollte, dann wandte er sich Barz: ‚Sag dem Kerl daneben, er soll nicht rülpsen‘. Das bemerkte er mit so lauter Stimme, dass ich es genau verstehen konnte. Obwohl wir uns wenig (bis gar nichts) zu sagen hatten, wurden Helmut und ich irgendwie Freunde.
Zwei Tage nach Helmut kam Lidija. Als sie zum ersten Mal in der Früh in mein Zimmer kam, stellte sie sich als neue Pflegerin vor. Sie konnte kaum deutsch. Und die wenigen Worte, die sie beherrschte, sprach sie mit rollendem ‚R‘ und einem stark osteuropäischen Akzent. Als ich sie einmal ‚Lydia‘ nannte, also wie bei uns üblich mit einem Ypsilon, das wie ‚Ü‘ ausgesprochen wird, korrigierte sie mich. Sie heiße Lidjia, betonte sie, Lidija mit ‚I‘. Doch das Wichtigste an Lidija war nicht ihre Sprache. Es war ihr Aussehen. Wir schätzten sie auf knapp über zwanzig Jahre und sie hatte eine Figur, als ob sie einem Kinoplakat entstiegen wäre, selbst wenn sie in ihrer Schwesterntracht war. Aber das war nicht alles: Als Pflegerin verrichtete sie ihre Arbeit professionell. Jeder Handgriff saß bei ihr. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Und stets hatte sie für ihre Patienten ein freundliches Wort und ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen. Wie unterschied sie sich doch von den anderen Pfleger! Von jenen, denen schon bei Beginn der Schicht der fromme Wunsch im Gesicht abzulesen war ‚Herr lass Abend werden - und das möglichst noch am Vormittag!‘.
Lidija und Barr wurden die Lichtblicke im tristen Heimalltag. Jeder auf seine Art.
Aber das Erstaunlichste passierte am Abend meines 89. Geburtstages. Ich war schon im Bett als sich die Zimmertüre leise öffnete und Lidija herein schlüpfte. Mit einem schnellen Blick prüfte sie, ob ich die bereitgestellten Medikamente ordentlich geschluckt habe. Dann zog sie die Vorhänge zu und stellte sich vor mich hin, schaute mir von oben tief in die Augen und sagte einen Satz, den ich so schnell nicht vergessen werde: „Suchen Sie einen Erben?“, fragte sie. Genau diese Worte! Und es war keine Spur von Spott, oder Ironie in ihrer Stimme. Sie meinte es ernst. „Ich könnte das übernehmen“, fuhr sie fort.
Wahrscheinlich hatte sie damit gerechnet, dass mich ihre direkte Frage unvorbereitet treffen würde, denn sie wartete geduldig auf meine Antwort. Da brach bei mir der Gewerkschafter in mir durch - einen Job, den ich über dreissig Jahre lang ausübte: „Und was bekomme ich dafür, wenn ich Sie als Erbin einsetze?“
„Ich sage Ihnen auf den Tag genau, wie lange Sie noch leben werden.“
„ähm...“ Mir blieb die Spucke weg. Und nach einer langen Pause: „Und wie wollen Sie das wissen?“
„Das lassen Sie, bitte, mein Geheimnis sein. Sie können Gift darauf nehmen, dass es stimmt. Aber damit Sie erkennen, dass ich nicht schummle habe ich hier das exakte Todesdatum Ihres Freundes Helmut aufgeschrieben.“ Sie wedelte mit einem verschlossenen Briefumschlag. „Er wird vor Ihnen das Zeitliche segnen. Dieses Couvert bekommen Sie, wenn Sie mit meinem Vorschlag einverstanden sind. Bis morgen früh gebe ich Ihnen Zeit. Am Ende meiner Nachtschicht komme ich wieder vorbei, um Ihre Antwort abzuholen.“ Damit streichelte sie mir liebevoll über die Wange, deckte mich sorgfältig zu, löschte das Deckenlicht und huschte aus dem Zimmer.
Verdammt! War das Realität, oder hatte ich geträumt? Ich knipste die Nachttischlampe an und setzte mich auf. Waren das wirklich ihre Worte ‚suchen Sie einen Erben?‘. Und dann die angebotene Gegenleistung: Sie wolle mir mein Todesdatum mitteilen. ‚Sie können Gift darauf nehmen‘, meinte sie. Was wollte sie damit sagen? Bin ich vielleicht in die Hände der russischen Mafia gefallen? Doch nein, diesen Gedanken ließ ich schnell wieder fallen. Mein Vermögen hat sich mit den hohen Kosten des Heimes auf wenige Euro reduziert. Dafür würde die Mafia keinen Finger krumm machen. Und sollte ich noch länger leben, häuften sich sogar Schulden auf, die nach meinem Tode niemand begleichen wird, denn ich habe keine Verwandten.
Dann nahm der andere Gedanke von meinem Hirn Besitz: Was bringt es mir, wenn ich mein Todesdatum kenne? Würde ich mich dann wie ein zum Tode verurteilter Häftling fühlen, der genau weiß, dass er in der Früh um sechs Uhr an einem genau definierten Tag auf dem elektrischen Stuhl sitzen wird? Aber nein! Sie hatte doch nur vom Datum, nicht aber von der Uhrzeit gesprochen. Ein Vorteil wäre es doch, wenn ich meinen letzten Lebensabschnitt in vollen Zügen und bewusst genießen könnte; dass ich auf nichts Rücksicht nehmen müsste; dass ich also ein völlig freier Mensch wäre. Frei wie ein Vogel, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit.
Ich hatte mich durchgerungen, dem Pakt zuzustimmen, löschte das Licht und drehte mich auf die Seite.
Doch was mache ich mit Helmut? Dieser Gedanke ließ mich nicht einschlafen. Wie verhalte ich mich ihm gegenüber, wenn ich den Umschlag geöffnet habe und sein Todesdatum kenne? Sollte ich es ihm - oder besser seinem Hund - verraten? Wie würde Barz auf diese Nachricht reagieren? Was mit mir passiert ist relativ unwichtig. Ich weiß, dass ich bald ins Gras beißen muss; mit meinen fast neunzig Jahren darf ich nicht erwarten, dass die Bäume in den Himmel wachsen. Diese Einsicht beruhigte mich einigermaßen und ich fiel in einen leichten Schlaf.
Mit der ersten Dämmerung stand Lidija wieder in im Zimmer und weckte mich auf, indem sie mir ihre warme Hand auf die Stirne legte. „Sie haben geschlafen. Dann wollen Sie also den Vorschlag annehmen. Sehe ich das richtig?“
Noch benommen von der halb durchwachten Nacht nickte ich.
„Dann bestelle ich für heute Nachmittag den Notar. Ich verspreche Ihnen, dass ich bis zu Ihrem letzten Tag gut für sie sorgen werde.“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen. Damit war der Kontrakt besiegelt. Sie legte den Umschlag auf mein Nachtkästchen. „Es wäre gut, wenn Sie sich mit dem Schäferhund gut anfreunden würden; einer muss danach für ihn sorgen, sonst kommt das arme Geschöpf ins Tierheim.“ Dann war sie verschwunden.
Mit zittrigen Händen öffnete ich das Couvert. Helmut sollte am nächsten Donnerstag sterben. Mir gab sie noch bis zum 20. Dezember Zeit. Also fast ein Weihnachtsgeschenk, dachte ich bitter. Helmut gegenüber bewahrte ich Stillschweigen. Warum hätte ich ihn beunruhigen sollen?
Und tatsächlich, die Pflegerin fand Helmut am vorausgesagten Datum tot in seinem Bett liegen. ‚Friedlich entschlafen‘ sagte der Arzt und stellte den Totenschein aus. Also keine Gifteinwirkung? Jedenfalls hatte der Doktor keinen entsprechenden Verdacht geschöpft.
Die Brust schnürte sich mir zusammen. Auf Lidija war Verlass! Wie sollte ich jetzt die restlichen 56 Tage verbringen? Morgen werden es nur noch 55 Tage sein. Und übermorgen noch 54.