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Lichtschimmer

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12.12.2012
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Lichtschimmer

Es ist nur ein schmaler Streifen Licht, der unter der Tür durchscheint. Er reicht nicht aus, um seine Umgebung zu erhellen. Der Rest des Zimmers bleibt völlig im Dunkeln. Sie liegt quer im Bett, die Beine fest an den Körper gezogen und die Arme vor der Brust verschränkt. Die kleinen Hände sind zu Fäusten geballt, sodaß es wehtut. Die voluminöse Bettdecke verdeckt ihre Gestalt vollkommen. Sie ist mit ganz vielen Daunen gefüllt und wenn man darunter liegt, kann man nicht mehr darüber hinwegsehen, so hoch türmt sie sich vor einem auf. Deshalb liegt ihr Kopf ganz nahe an der Bettkante, so daß sie den Türspalt sehen kann, unter dem noch immer das Licht durchscheint. Hinter der Tür befindet sich der Flur von dem die Treppe in den Keller abgeht. Da unten ist es ganz schön gruselig, vor allen Dingen, wenn man in den Vorratsraum geht, um sich ein paar Kekse zu mopsen. Es ist spät in der Nacht und normalerweise würden sie alle schlafen. Außer sie hätte mal Pipi gemusst und wäre davon wach geworden. Dann hätte sie sich auf die Toilette geschlichen und wäre danach einfach wieder schlafen gegangen. Heute ist es anders. Starr vor Schreck liegt sie ganz regungslos in ihrem Bett und starrt auf den Streifen aus Licht. Aus dem Keller ertönen die ohrenbetäubenden Schreie ihres Bruders. Sie ist sich ganz sicher, dass er im Keller ist, denn da passiert es ja immer. Ihr Bruder winselt, schreit und bettelt. Sie ist überzeugt davon, dass er ihn umbringen wird. Alles nur ihretwegen. So hat sie ihren Bruder noch nie schreien hören. Selbst als der doofe Schäferhund des Nachbarn ihrer Freundin in den Rücken gebissen hat, hat die nicht so geschrien. Und das muss doch schon irre wehgetan haben. Deshalb glaubt sie, dass ihr Bruder nun sterben muss. Und das ist ihre Schuld. Sie hätte ihn nicht verraten dürfen. Aus dem Flur ertönen die Entsetzensschreie ihrer Mutter. „Mama“ flüstert sie leise und dicke Tränen rollen ihr die Wangen hinunter. Wenn doch nur ihre Mutter zu ihr ins Zimmer käme und sie trösten würde. Sie zieht ihre Beine noch ein wenig fester an ihren Körper, so fest sie nur kann. Das hatte sie doch so nicht gewollt. „Du bringst ihn ja noch um!“ hört sie die schrille Stimme ihrer Mutter, die sich beim Sprechen fast überschlägt. Erneut quellen dicke Tränen wie ein unaufhörlicher Fluß ihre Wangen hinunter. Ganz fest umschlingt sie ihren Körper und presst die Hände zu Fäusten. Alles tut ihr weh. Sie hat es ja gewusst, jetzt muss ihr Bruder wirklich sterben. Ganz plötzlich ist es still. Sie hört Schritte auf dem Flur und das Wimmern ihres Bruders. Vorsichtig löst sie ihre Umarmung und verschränkt die kleinen Hände zum Gebet. Sie dankt Gott dafür, dass es vorbei ist. Aber was, wenn es noch nicht vorbei ist? Ihr wird vor Aufregung ganz furchtbar übel, denn bestimmt ist sie jetzt dran. Einfach deshalb, weil es sonst auch immer so ist. Vielleicht wollen die Eltern sichergehen, dass es auf jeden Fall den Richtigen trifft. Fürchterliche Angst überkommt sie. Solche Haue überlebt sie niemals. Den Kopf auf die Brust gezogen, die Augen so fest geschlossen wie sie nur kann, liegt sie wie ein winziger Igel kaum mehr sichtbar unter der riesigen daunengefüllten Bettdecke und hält den Atem an. Wenn der Vater jetzt kommt, findet er sie vielleicht gar nicht. Das Licht auf dem Flur erlischt. Dunkelheit und Stille senken sich nieder. Erst nach einer kleinen Ewigkeit wagt sie es, ihren Körper in eine etwas bequemere Stellung zu bringen. Die Eltern scheinen sie vergessen zu haben. Im Stillen spricht sie zu Gott. Ihre Großmutter hat sie das gelehrt. „Gott“, hat sie gesagt, „ist für alle Menschen da und hört Dir immer zu.“ Sie bittet ihn ganz inständig um Verzeihung. Irgendwann, sie bemerkt es nicht mehr, ist sie darüber eingeschlafen.

Immer wieder verfolgt Maria derselbe Traum. Schon seit Jahren geht das so. Nachts wacht sie schreiend auf, die Hände wie zur Abwehr erhoben und aus ihrem Mund ertönt jedes Mal ein lautes und vehementes „Nein“. Erstaunlicherweise ist ihr Blick dabei stets zur Tür gerichtet, selbst dann, wenn sie gar nicht zu Hause schläft. Sie hat keine Ahnung, wen oder was sie abwehrt. Aber es scheint sehr wichtig zu sein, sonst würde der Traum nicht ständig wiederkehren. Maria kann sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal gut geschlafen hat. Meistens wacht sie ganz verkrampft auf, die Hände zu Fäusten geballt und zusammengerollt wie ein Igel. Hin und wieder hat sie auch diesen verrückten Traum von einer sich aufblähenden Bettdecke unter der sie zu ersticken droht. Besonders wenn es draußen kälter wird. An diese Art Bettdecken kann sie sich allerdings noch gut erinnern. Als Kind hatte sie so eine mit Daunen gefüllte Decke, die wie ein drohender Berg über einem lag. Sie sollte einen in den Wintermonaten warm halten, damit ihre Eltern nicht so viel heizen mussten. Aber es war trotzdem kalt gewesen. Draußen ist es jetzt auch kalt, bald würde der Winter kommen. Maria haßt die kalten und dunklen Wintermonate. Obwohl sie nur einschlafen kann, wenn es ganz dunkel im Raum ist und ihr der Winter da ja entgegen käme. Kein noch so kleiner Lichtstrahl darf den Raum auch nur ansatzweise erhellen, schon liegt sie wach und wälzt sich von der einen Seite zur anderen. Ihr Mann ist davon genervt, genauso wie von ihren Albträumen, von denen sie heimgesucht wird. Ständig verlangt er, dass sie mit dem nächtlichen Geschrei aufhören soll. Wenn das so einfach wäre. Sicher, es tut ihr leid, dass er dann wach wird, aber ihr Mitleid mit ihm hält sich in Grenzen, schließlich verhält er sich ihr gegenüber oft genug wie ein gefühlloses Ekel. Sie fragt sich in letzter Zeit sowieso immer öfter, warum sie es noch mit ihm aushält. Vielleicht, überlegt sie kurz, ist es an der Zeit, sich nach einer eigenen Wohnung umzusehen. Mechanisch räumt sie die Reste des Frühstücks vom Tisch. Es fiele ihm nicht im Traum ein, ihr dabei zu helfen. Mit den Erledigungen des Alltags läßt er sie nur zu gerne allein. Obwohl sie, genauso wie er, arbeiten geht. Sein Verhalten ärgert sie maßlos. Tagtäglich fallen ihr immer wieder neue Schimpfnamen für ihn ein, wenn er nicht da ist und es nicht hört. Ihre Frustration kennt mittlerweile keine Grenzen mehr. Insgeheim fragt sie sich, ob er schon immer so gewesen war. Maria verharrt in der Bewegung. Krampfhaft versucht sie sich daran zu erinnern, wann er je anders gewesen war. Oder was anders gewesen war. Resigniert schiebt sie sein Handy beiseite. Es ist typisch für ihn alles und jedes irgendwo liegen zu lassen und sich dann darüber aufzuregen, dass er es ganz bestimmt verloren hat, während er danach sucht. Das Handy surrt.
Es ist zwar nicht ihres, aber sie greift trotzdem danach. Sie haben nie Geheimnisse voreinander gehabt. Das mag der Fehler gewesen sein, schießt es ihr durch den Kopf, als er unversehens in der Küche auftaucht und ihre Hand vehement wegschlägt. Er reißt das Handy an sich. „Das geht dich gar nichts an“ zischt er ihr zu und verläßt eilig den Raum. Sie braucht keinen einzigen Moment, um zu begreifen, was hier gerade vor sich geht. Sie ist sich sogar ziemlich sicher, wer ihm da eine Nachricht geschickt hat. Ohne nachzudenken eilt sie ihm hinterher. Sie ist nicht wütend, eher neugierig, und möchte ihren Verdacht einfach nur bestätigt wissen. Er hat das Haus verlassen, allerdings ohne Jacke und Schuhe, daher wird er wohl gleich wieder da sein. Sinnierend steht sie am Fenster und starrt nach draußen. Sie hätte ihm das gar nicht zugetraut. Er sieht weder gut aus noch hat er Geld. Sicher, er konnte ein lieber Kerl sein, aber eine Augenweide ist er mit seinem starken Übergewicht nun gerade nicht. Es scheint ihr wie eine kleine Ewigkeit, bis er wieder zurück ist. Er scheint sehr nervös. Einen Augenblick weidet sie sich an dem Anblick ihres verzweifelt wirkenden Mannes, dann stellt sie ihn unumwunden zur Rede.

Sie hat mit allem gerechnet, nur nicht mit dieser Reaktion. Auf ihre Frage nach einem möglichen Verhältnis mit einer anderen Frau hat er sich mit einem wütenden Schrei auf sie gestürzt. Mit einem Ruck schleudert er sie auf das Sofa und wirft sich über sie. Seine Hände liegen wie Schraubstöcke um ihre Oberarme und sie versucht sich mit aller Kraft herauszuwinden. Er drückt sie mit der Wucht seines gesamten Körpergewichts in das weiche nachgiebige Polstermöbel und macht Anstalten sich auf sie zu legen, während sie ihren schlanken Körper geschickt mal zur einen dann zur anderen Seite biegt, sodaß er sein Ziel jedes Mal verfehlt. Abrupt gibt er auf. Sein Gesicht ist hochrot, sein Körper schweißnass. Langsam, fast wie in Zeitlupe, scheint er zu sich zu kommen. Seine Hände lösen sich von ihr und sein starrer Blick, mit dem er sie die ganze Zeit fixiert hat, weicht der Erkenntnis und dem Entsetzen. Vorsichtig klettert er von ihr herunter und setzt sich auf die Kante des Sofas zu ihren Füßen. Vornübergebeugt, das Gesicht in den Händen verborgen, fängt er an zu wimmern. Maria liegt regungslos auf dem Sofa und starrt die Decke an. Sie hört, wie er beteuert, dass es ihm leid tut. Seine weinerliche Stimme zerrt an ihren Nerven. Sie wird ihn rausschmeißen. Nicht weil sie ihm böse ist. Denn hatte er tatsächlich die Absicht besessen, sie zu vergewaltigen, so hatte er sich reichlich ungeschickt angestellt. Der Versuch rührt sie schon fast. Jeder Respekt und jedes Vertrauen zwischen ihnen scheint jedoch mit diesem Moment unwiderruflich ausgelöscht. Maria hat keine Lust darüber nachzudenken oder mit ihm zu reden. Er soll einfach nur gehen. Er bettelt sie an, sie möge ihm doch zuhören und es wäre doch nur, weil sie so wenig Sex miteinander gehabt hätten in der letzten Zeit. Sie schreit ihn an, er solle sofort ausziehen. Er wehrt sich. Fasst nach ihren Händen. Sie flippt aus, stößt ihn grob von sich. Eine halbe Ewigkeit scheint es zu dauern, bis er Einsicht zeigt. Wie ein geprügelter Hund gibt er schlussendlich nach und packt notgedrungen ein paar Sachen ein, um sich dann endlich davonzuschleichen. Es gibt dem Ende ihrer Beziehung eine reichlich unschöne Note. Es ist ihr egal. Hauptsache er ist fort und kommt nicht wieder. In dieser Nacht schläft sie seit langer Zeit wieder einmal allein in ihrem Bett. Und in dieser Nacht bekommt der immer wiederkehrende Traum nach langer Zeit ein Gesicht.

Das kleine Mädchen sitzt mit ihrem Bruder auf dem Bett ihrer Eltern. Sie ist ungefähr acht Jahre alt und ihr Bruder ganze vier Jahre älter. Sie hat ein hübsches fast herzförmiges Gesicht, ganz große runde, dunkelbraune Augen und herzförmige volle Lippen. Ihr Haar glänzt seidig und fällt in goldbraunen Wellen bis auf die Schultern. Ein wirklich hübsches Kind. Sie bewundert ihren Bruder mit der Hingabe kleiner Schwestern. Er hat die Aufgabe, auf sie aufzupassen, während ihre Eltern sich einmal in der Woche mit Freunden treffen. Von Natur aus neugierig, hat er diese Heftchen im Nachtschrank seines Vaters gefunden und sie nun auf dem Bett ausgebreitet. Darin sind lauter nackte Frauen mit großen Brüsten und auch nackte Männer, die lauter komische Dinge miteinander tun. Ihr Bruder findet das offensichtlich toll. Darum findet sie es auch toll. Er hat sie zu sich gerufen und ihr ganz enthusiastisch den Inhalt der Hefte gezeigt. Seine Augen glänzen und er ist ganz aufgeregt, als er ihr in verschwörerischem Ton vorschlägt, das was die Erwachsenen da in den Heftchen tun, doch einfach nachzuspielen. „Mama und Papa spielen“ tauft er das Ritual, welches nun regelmäßg einmal wöchentlich stattfindet. Außer die Eltern gehen ausnahmsweise mal nicht weg. Das Spiel gefällt dem Mädchen nicht so besonders gut. Sie muß ganz komische Sachen mit ihrem Bruder machen und immer will er, dass sie dabei nackt sind und sie sein Ding anfasst. Sie fürchtet sich immer mehr davor mit ihrem Bruder alleine zu sein und hofft jede Woche erneut, ihre Eltern würden dieses eine Mal nicht weggehen. Er hat ihr nämlich gesagt, sie dürfe es den Eltern auf keinen Fall verraten, dann bekämen sie beide Ärger und jede Menge Prügel. Also musste es ja etwas ganz Schlimmes sein, was sie da spielten und Prügel bekamen sie auch so schon genug, davon wollte sie nicht noch mehr. Sie will, dass es aufhört, aber zu den Eltern kann sie wegen der Prügel nicht gehen. Jeden Abend, wenn sie im Bett liegt und ihre Mutter sie zugedeckt hat, bittet sie Gott darum, ihr zu helfen, damit es einfach so aufhört. Aber der hört ihr wohl gar nicht zu, denn es hört überhaupt nicht auf. Immer wieder will der Bruder mit ihr etwas Neues ausprobieren. Und immer wieder gibt es neue Heftchen. Bald ist sie der Überzeugung, dass Gott sie entweder nicht leiden kann und ihr deswegen nicht zuhört oder aber es gibt ihn vielleicht gar nicht. Ihre Großmutter könnte sich ja auch geirrt haben, die war schließlich schon ganz alt und die Mutter hat schon oft gesagt, da wird man vergesslich und komisch. Beim letzten Mal hat der Bruder sie da unten angefasst, an ihrer Scheide. Seitdem ist ihr Wunsch, dass es endlich aufhört, noch viel größer als sonst. Wenn sie aber nicht zu den Eltern gehen kann, muss sie ihren Bruder darum bitten. Bisher hat er ihr ja noch nie wehgetan, aber sie wußte, dass er schon anderen Kindern wehgetan hatte. Deswegen bekam er dann auch dolle Ärger mit dem Vater und eine ordentliche Tracht Prügel. Aber so richtig böse war der Vater gar nicht wirklich gewesen, so als wäre er auch ein bisschen stolz auf seinen Sohn. Jedenfalls hatte die Mutter das mal zu ihrer Freundin am Telefon gesagt und dabei ganz besorgt geklungen. Irgendwem muss sie es sagen, wenn es aufhören soll. Ihr Bruder ist jedenfalls nicht so kräftig wie ihre Mutter oder ihr Vater und wenn er ihr wehtut, dann bestimmt nicht so schlimm wie die beiden es könnten. Mit dieser Überlegung verabschiedet sie sich von den Eltern und nimmt sie ganz fest in den Arm, als die zu iher wöchentlichen Verabredung aufbrechen.

So richtig weiß sie nicht, wie es dazu gekommen war. Ihre Eltern waren wie immer zu den Freunden gegangen und sie sah mit ihrem Bruder im Wohnzimmer einen Film im Fernsehen. Plötzlich war es ihr so herausgerutscht. Sie sagte so etwas in der Art, dass sie keine Lust mehr habe mit ihm „Mama und Papa“ zu spielen. Dann hatte er plötzlich über ihr gelegen und musste ihr mit voller Wucht mehrere Male ins Gesicht geschlagen haben. Daran erinnert sie sich allerdings nur schemenhaft, so als wäre das schon ganz lange Zeit her oder eigentlich so, als wäre ihr das gar nicht selber passiert. Schließlich hockt sie in der Dusche und spült sich klebrige Reste einer klaren Flüssigkeit mit der Fußdusche aus dem Mund. Er hat gesagt, sie soll das so machen. Sie fühlt sich komisch, irgendwie als wäre sie gar nicht wirklich da. Ihre Unterlippe ist dick und blau, viel dicker als sonst, tut aber gar nicht weh. Ihr ganzes Gesicht scheint irgendwie aufgequollen, so als hätte sie stundenlang geweint. Obwohl sie sich auch nicht daran erinnern kann, geweint zu haben. Es fühlt sich im Grunde sogar so an, als wäre es gar nicht ihr Gesicht. Sie erinnert sich, als sie allein im Krankenhaus gelegen hat, so mit vier Jahren, da fühlte sie sich auch einmal so. Ganz taub und schwindelig. Angeblich hat man ihr da die Mandeln weggenommen. Manchmal fühlten sich auch ihre Zehen so an, wenn sie im Winter lange draußen im Schnee spielte. Die Kälte machte sie dann ganz taub und man spürte sie gar nicht mehr. Als hätte man überhaupt keine Zehen. Später tat es dann höllisch weh, wenn die Füße wieder warm wurden. Ihre Mutter sagte immer, dass läge an der Zirkulation des Blutes. Wie aus weiter Ferne hört sie ihren Bruder auf sie einreden. Er beteuert, dass es ihm leid tut und dass er das nicht gewollt hat. Er bettelt darum, dass sie nichts den Eltern verraten wird. Aber auch das bekommt sie nicht richtig mit. Irgendwann muss er sie ins Bett gebracht haben. Sie weiß nicht mehr, wie sie hinein gekommen ist und ob sie schon geschlafen oder einfach nur erstarrt darin gelegen hat. Die Zimmertür öffnet sich. Das Licht des Flurs ergießt sich in den Raum. Ihre Mutter beugt sich über sie und fängt an zu schreien. Im nächsten Moment findet sie sich in der Küche wieder. Ihre Eltern sitzen ihr auf der anderen Seite des Tisches gegenüber. Sie sitzt auf dem Stuhl, auf dem sie auch sonst immer sitzt, wenn sie gemeinsam essen. Nur das es jetzt nichts zu Essen gibt. Dafür ist es auch viel zu spät. Und sie hat auch gar keinen Hunger. Das grelle Licht der Deckenlampe tut in ihren Augen weh. Sie friert in dem etwas zu kurz geratenen Nachthemd. Ihr Vater ist wütend und stellt ständig irgendwelche Fragen. Er will gar nicht wissen, warum ihre Lippe so aussieht oder ihr Gesicht, er will nur wissen warum ihr Bruder das mit ihr gemacht hat. Es kommt ihr nicht in den Sinn zu lügen. Sie soll sagen, fällt ihr wieder ein, sie ist die Kellertreppe heruntergefallen. Aber der Vater scheint ja schon längst zu wissen, dass da was Komisches passiert ist und das es mit ihrem Bruder zu tun hat. Bestimmt sind sie deswegen auch ganz wütend auf sie, irgendetwas muss auch sie verkehrt gemacht haben, sonst würden sie sie ja nicht so anschreien. Es ist wohl besser, denkt sie eingeschüchtert, ich sage die Wahrheit. Und dann schildert sie, wie sie das Geschlechtsteil ihres Bruders in ihren Mund genommen und das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen.

Schweißgebadet wacht Maria auf. Sie fühlt sich gehetzt. Ihre weitaufgerissenen Augen suchen das Licht. Mit der linken Hand tastet sie wild fuchtelnd nach der Lampe, die ihren Platz irgendwo auf dem verdammten Nachttisch hat. Endlich erhellt sich der Raum. Sie ist allein. Einen Moment lang muss sie sich orientieren. Ihren Oberkörper aufgerichtet lehnt Maria sich mit dem Kopf an das Kopfende ihres Bettes. Tränen strömen über ihr Gesicht. Sie hört sich schluchzen. Krümmt sich nach vorne. Schreit. Schlägt mit den Fäusten auf ihre Bettdecke ein. Es dauert eine ganze Weile, bevor sie sich beruhigen kann. Die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, wiegt sie sich hin und her. Das Entsetzen weicht einer unendlichen Trauer. Immer wieder sagt sie sich, dass es vorbei ist. Wie lange sie schon so dahockt und sich wiegt kann sie gar nicht mehr sagen. Irgendwann läßt der Schmerz nach. Ganz allmählich entspannt sie sich. Ihre Augen brennen. Es ist kaum mehr möglich mit ihnen etwas zu sehen. Das Oberteil ihres Pyjamas und die Bettdecke sind übersät von Tränen und Rotz. Völlige Erschöpfung legt sich über ihre Gliedmaßen. Sie horcht in die Stille. Mit letzter Kraft quält sie sich aus dem Bett und schleicht leise hinaus auf den Flur. Die Tür des Nebenzimmers ist nur angelehnt, wie immer in der Nacht, und läßt sich behutsam ganz geräuschlos öffnen. Ihre verklebten, verquollenen Augen spähen in die Dunkelheit. Sehen kann sie nichts, aber hören. Gleichmäßige Atemgeräusche dringen an ihr Ohr. Hier schläft ihre kleine Tochter. Tief und fest. Sie ist jetzt acht Jahre alt.

Erleichtert atmet sie auf. Vorsichtig zieht sie die Tür zurück in die vorherige Position. Ihre nackten Füße sind eisig kalt auf dem gefließtem Fußboden. Sie lächelt. Es wird ein schönes Gefühl sein, wenn sie sich unter der Bettdecke erwärmen und das Blut wieder in ihnen zirkuliert.

 

Hallo Ad Absurdia

Es gibt Themen, die einem regelmässig begegnen: Missbrauch ist eines davon. Über solche Themen wurde so oft geschrieben, dass es schwierig wird, einen neuen Aspekt dazu zu finden. Muss man das immer?, fragst du jetzt vielleicht, und die Antwort darauf ist: Nein, muss man nicht. Man kann auch ausgetretene Pfade nochmal beschreiten, und sei es nur zum Zwecke einer Schreibübung. Aber ich finde, man muss einen Fokus setzen. Was will man eigentlich über den Missbrauch erzählen? Die Tat selbst? Ihre Verarbeitung? Den Umgang des inzwischen erwachsenen Menschen mit dem Täter? Die Vertuschung? Die Rolle derer, die davon wussten, und nur zugesehen haben? Einen solchen Fokus vermisse ich in der Geschichte. Bis auf die Tat selbst - geschrieben aus der Perspektive eines kleinen Mädchens - erfahren wir eigentlich nichts, und dann bleibt mir das Ganze zu sehr an der Oberfläche.

Den Auftakt deiner Geschichte finde ich überaus gelungen. Diese Szene, wie das kleine Mädchen im Bett liegt (man sieht sie richtig vor sich, die grossen, aufgerissenen Augen) und vor der Tür die Schreie ihres Bruders hört, wie er von den Eltern bestraft wird, das hat was. Auch ihre Angst dann, sie könnte die Nächste sein - und das alles noch ohne, dass man als Leser weiss, um was es eigentlich geht - das hat mir sehr gut gefallen.

Im zweiten Absatz machst du dann einen weiten Sprung in die Zukunft und bringst mit ihrem Mann eine Figur in die Geschichte, die es mMn nicht braucht. Du eröffnest hier einen zweiten Erzählstrang, der vom ersten eher ablenkt, anstatt ihn zu betonen. Im Nachhinein ist klar, es geht darum, dass Maria den Sex mit ihm verweigert, weil unterschwellig in ihr die Erinnerungen an ihren Bruder schlummern. Aber immerhin haben sie ein gemeinsames Kind, also hatten sie mal ein Sexualleben. Hier finde ich, solltest du konsequenter sein: Wenn ich den Abschnitt lese, habe ich eine Frau vor Augen, die nach vielen Ehejahren keine Lust mehr hat, und das ist durchaus nicht aussergewöhnlich und muss auch nicht mit früherem Missbrauch zusammenhängen. Wenn du den Missbrauch betonen willst, solltest du das gestörte Verhältnis zur Sexualität allgemeiner zur Sprache bringen. Auch dass sie den Mann nach der versuchten Vergewaltigung (?), wenn es deine war, aus dem Haus wirft, deutet nicht auf ihren Missbrauch hin. Also du siehst, was mich so ein bisschen stört: Ich sehe den Zusammenhang zwischen dem Absatz und dem Rest der Geschichte nicht, oder anders: Er passt für mich nicht so recht rein. Dass du diesen Sprung in die Zukunft machst und die Auswirkungen des Missbrauchs auf die erwachsene Frau beschreiben willst, finde ich eine gute Idee: Nur sehe ich die Auswirkungen nicht, da sie sich in meinen Augen nicht anders verhält wie eine "normale" Frau, die als Kind nicht missbraucht wurde.

Der Rest der Geschichte beschränkt sich dann eigentlich darauf, die Tat selbst zu beschreiben. Du beschreibst sie aus der Sicht des Mädchens, verwendest auch teilweise eine kindlich-naive Sprache, was man durchaus machen kann. Der Täter, also ihr Bruder, bleibt bei alldem ziemlich blass. Man kann sich ausmalen, dass er vermutlich zunächst wirklich nur die Bilder aus den Zeitschriften "ausprobieren" wollte und dann daran Gefallen gefunden hat. Das Mädchen hat keine Ahung, um was es geht - hier frage ich mich, wie alt sie sind, du schreibst, es seien vier Jahre zwischen ihnen. 14 und 10? 12 und 8? Wenn ich an heutige Kinder denke, erscheint mir das Verhalten der beiden schwer nachvollziehbar, aber gut, heutzutage beginnt Aufklärung ja beinahe schon im Kindergarten, oder zumindest wird schon in sehr frühen Jahren der eigene Körper und die Sexualität thematisiert, wenn es auch nicht unbedingt so direkt beim Namen genannt wird. Vor dreissig Jahren war das natürlich noch anders.

Was mir dann noch fehlt, habe ich ja zu Beginn schon geschrieben: Was ist denn eigentlich aus dem Bruder geworden? Was geschah nach der Bestrafung durch die Eltern? Wie hat sich das Verhältnis der Geschwister entwickelt? An dieser Stelle, wo es eigentlich interessant wird, blendet die Geschichte aus. Es bleibt dann eigentlich bei der reinen Beschreibung der Tat, und das finde ich zu wenig.

Vom Stil her fand ich es flüssig geschrieben und gut zu lesen. Ich würde mir wünschen, dass du etwas mehr Dialoge in die Geschichte bringen würdest, das würde sie für mich lebendiger machen. Du verwendest sehr oft die indirekte Rede, wenig Absätze, das lässt den Text immer wie einen grossen Block erscheinen. Dialoge würden ihn optisch und stilistisch auflockern, aber vielleicht machst du das ja absichtlich, so als eine Art Stil-Merkmal.

Bei der Sprache musst du mit den Zeiten achtgeben, die sind manchmal durcheinandergekommen (Details gleich dazu). Auch musst du darauf acht geben, dass wenn du aus der Perspektive eines Kindes schreibst, diese konsequent einhalten musst. Auch das passt nicht immer ganz. Hier mal die detaillierte Liste:

Die kleinen Hände sind zu Fäusten geballt, sodaß es wehtut.

sodass

„Gott“, hat sie gesagt, „ist für alle Menschen da und hört Dir immer zu.“

du / dir als Anrede klein schreiben.

Irgendwann, sie bemerkt es nicht mehr, ist sie darüber eingeschlafen.

Ich würde den Mittelteil streichen - man bemerkt es nie, wenn man einschläft.

Erstaunlicherweise ist ihr Blick dabei stets zur Tür gerichtet, selbst dann, wenn sie gar nicht zu Hause schläft.

Ich finde das etwas unglücklick formuliert - wenn sie nicht zu Hause schläft, gibt es ja trotzdem eine Tür, zu der sie blicken kann.

Maria haßt die kalten und dunklen Wintermonate.

hasst

Insgeheim fragt sie sich, ob er schon immer so gewesen war.

Du erzählst im Präsens und beschreibst hier die Vergangenheit - also keine Notwendigkeit fürs Plusquamperfekt.

Maria verharrt in der Bewegung. Krampfhaft versucht sie sich daran zu erinnern, wann er je anders gewesen war.

Hier genauso.

Sie ist ungefähr acht Jahre alt und ihr Bruder ganze vier Jahre älter. Sie hat ein hübsches fast herzförmiges Gesicht, ganz große runde, dunkelbraune Augen und herzförmige volle Lippen.

Auch wenn es hier die Sprache eines Kindes ist, würde ich es mit dem "ganz" nicht übertreiben. Das kommt später nochmal.

Sie bewundert ihren Bruder mit der Hingabe kleiner Schwestern.

"... mit der Hingabe einer kleinen Schwester" finde ich besser.

Darin sind lauter nackte Frauen mit großen Brüsten und auch nackte Männer, die lauter komische Dinge miteinander tun.

Was oben für das "ganz" galt, gilt hier für die "lauter".

Ihr Bruder findet das offensichtlich toll. Darum findet sie es auch toll. Er hat sie zu sich gerufen und ihr ganz enthusiastisch den Inhalt der Hefte gezeigt.

Merkst du es? Enthusiastisch fällt da völlig aus der verwendeten Sprache raus, da es nicht zum Wortschatz eines Kindes gehört.

Seine Augen glänzen und er ist ganz aufgeregt, als er ihr in verschwörerischem Ton vorschlägt, das was die Erwachsenen da in den Heftchen tun, doch einfach nachzuspielen.

Bin da gestolpert, vermutlich, weil ein Komma nach dem "das" fehlt.

Bisher hat er ihr ja noch nie wehgetan, aber sie wußte, dass er schon anderen Kindern wehgetan hatte.

Auch hier kommst du irgendwie mit den Zeiten durcheinander - "... aber sie wusste, dass er ..." ist auf einmal im Präteritium, der Rest im Präsens. Besser wäre hier dann: "... aber sie weiss, dass er schon anderen Kindern wehgetan hat."

Ihre Mutter sagte immer, dass läge an der Zirkulation des Blutes.

sagte immer, das liege

Nur das es jetzt nichts zu Essen gibt.

dass

und das es mit ihrem Bruder zu tun hat.

dass

Ja, soviel mal dazu. Ich würde jetzt nicht sagen, dass das Lesen keinen Spass gemacht hat, ich habs gern gelesen und fand die Geschichte auch kurzweilig. Aber du könntest ihr noch mehr Feuer geben, wenn du jetzt noch tiefer gehst und nicht nur den Missbrauch beschreibst, sondern auch noch ausführlicher die Konsequenzen für die einzelnen Personen.

Grüsse,
Schwups

 

Hallo Schwups, vielen Dank für die konstruktive Kritik. Selbst beim mehrmaligen Lesen fallen einem solche Details gar nicht ins Auge, aber jetzt wo Du es sagst. Missbrauchgeschichten gibt es viele, ich frage nicht nach dem Warum, aber diese hier war keine Schreibübung. Es tat weh, es als ausgetretenen Pfad beschrieben zu sehen. Es ist eine wahre Geschichte. Ob ich tatsächlich mehr ins Detail gehen könnte, eine andere Frage. Vielleicht war es doch zu mutig, sie hier einzustellen, ich war neugierig, wie ich mit der Kritik umgehen würde. Vielleicht ist das auch ein Grund für den etwas wackeligen Stil.

 

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