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Lichtscheu

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15.02.2003
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Lichtscheu

Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich nicht viel vom Himmel. Ich kann mich drehen und wenden wie ich will, kann mich flach auf den Boden legen oder mich weit nach draußen lehnen bis ich mir den Hals verrenke, trotzdem erhasche ich nie mehr als hier und da mal ein kleines blaues Fetzchen im dichten Blätterwerk der Kastanie. Mächtig wie ein Berg thront der Baum im Innenhof, seine Wurzeln bohren sich ins Fundament und der Stamm reicht in den Himmel, trägt ihn. Wollte man jemandem den Umfang verdeutlichen, müsste man beide Arme weit, weit ausstrecken und sie schwenken wie ein Fluglotse, um anzuzeigen, dass da eigentlich noch ein ganzes Stück fehlt.

Und die knotigen Äste, die sich schlangenartig nach allen Seiten fortwinden, sind dicker als die dicksten Ofenrohre, sodass man sie im Bedarfsfall als Brücken über den Hof benützen könnte. An einigen Stellen drängen sie sich so nah an die Fenster heran, dass sie kurz davor sind, in die Wohnungen hineinzuwachsen.
Um dem vorzubeugen, haben sich die Leute gewaltige Astscheren zugelegt, mit denen sie diesen besonders aufdringlichen Ausläufern zusetzen. Unter ihnen gibt es allerdings auch einige, die das aus Liebe zur Umwelt strikt ablehnen oder es aus Bequemlichkeit einfach nicht tun.
Auch mein Freund, der Dichter, gehörte zu denjenigen, die einen Ast im Zimmer hatten. Der Ast diene ihm zur Inspiration, sei seine Muse, das betonte er immer wieder.

Seit er den Ast hatte, verließ er die Wohnung nur noch selten durch die Tür, meist robbte und kletterte er den Ast entlang, und wenn er den Stamm erreicht hatte, ließ er sich einfach in den Hof hinabgleiten. So eine Kletterpartie wäre viel romantischer als der Gang durch eine Tür. An mein unvermeidliches, verständnisloses Kopfschütteln hatte er sich bereits gewöhnt.
Da er direkt unter mir wohnte, hörte ich das Rascheln der Blätter und das Knacken der Zweige, wenn er die Wohnung verließ, und das trockene Scharren, wenn sein Körper über die angerauhte Rinde des Stammes in die Tiefe rutschte.
Seit ich ihn einmal auf das Geräusch angesprochen hatte, sah er zähneknirschend davon ab, den Baum mitten in der Nacht zu benutzen. Eigentlich bin ich nur ganz selten davon aufgewacht, aber das wusste er nicht und ich sagte es ihm auch nicht.
Seine Recherchen fanden ohnehin meist in den eigenen vier Wänden statt, um so mehr, seit er dort den Ast zur Inspiration hatte.

Ich besuche ihn auch jetzt noch manchmal, dann essen wir Kastanien und er zeigt mir seine Manuskripte. Obwohl die Kastanien bitter sind und eigentlich nicht schmecken, essen wir sie. Auf diese Weise müssen wir nicht viel reden, das kommt uns beiden entgegen. Wenn ich dann hin und wieder aufstehe und mich kauend vor seine mit unzähligen Zetteln bepflasterte Pinnwand stelle, ist er schon glücklich, mein Freund, der Dichter.

Auch ich verlasse das Haus nicht oft, meine Freunde nennen mich deswegen manchmal weltscheu, aber das macht mir nichts aus, allzu viele Freunde habe ich sowieso nicht und sie nennen mich auch wirklich nur ganz selten so.
Immerhin gehe ich dreimal jeden Tag in den fünften Stock, um dem blinden alten Mann sein Essen zu bringen. Eigentlich nennen sie ihn, sobald das Gespräch auf ihn kommt, den Mann mit der Maske, aber meiner Meinung nach ist er einfach ein blinder alter Mann.
Er hat kein Gesicht mehr, deshalb trägt er die Maske, sie ist sein Ersatzgesicht und lässt ihn aussehen wie Snoopy. Er erzählt den Leuten, dass er das richtige Gesicht im Krieg verloren hätte, bei einer Explosion, ein Panzer, zack und weg. Dabei wissen alle hier, dass er nie im Krieg war, dafür ist er zu jung und auch zu freundlich. In Wirklichkeit hat er sein ganzes Leben lang an einer Pommesbude gearbeitet, die nicht einmal seine eigene war.

Eines Tages hat er das Frittenfett mit dem Brennspiritus verwechselt. Seitdem sieht er auch nichts mehr. Nicht nur keinen Himmel, so wie ich, sondern auch keine Kastanien und keine Menschen. Aber wenn man ihm eine Kastanie in die Hand legt, fühlt er, dass Kastanien eine stachlige Hülle haben, und wenn die Menschen mit ihm sprechen, spürt er die Unsicherheit in ihren Stimmen. Wenn sie seine Maske sehen, sind sie erstaunt und bestürzt und wollen lachen, aber können nicht. Warum es denn ausgerechnet eine Snoopy-Maske sein müsse, fragten sie ihn und er sagte nur, die Maske sei bequem; Wie sie aussehe, sei ihm egal, was gäbe es da zu diskutieren. Also wurde er misstrauisch und mürrisch gegenüber allem, was die Leute zu ihm sagten, seine Maske wurde eine Mauer und er wurde in den Köpfen der Leute immer mehr zu Snoopy, einer Comicfigur, die kein Essen und erst recht keine Hilfe brauchte. Und sie hassten sich selbst für ihre Bequemlichkeit.

Nur mich ließ er noch zu sich, vielleicht, weil er fühlte, dass er mir im Grunde genommen egal war. Es war mir egal, dass er blind war und es war mir egal, dass er wie Snoopy aussah. Ich kicherte nicht, diskutierte nicht, bedauerte nicht. Ich war einfach der Kerl, der nichts besseres zu tun hatte, als einem blinden alten Mann dreimal täglich Essen vor die Tür zu stellen. Vielleicht war sogar er es, der Mitleid für mich empfand.
Und wirklich, ich besuchte ihn gerne, die Besuche wurden mir wichtig. Ich genoss es, einfach dazusitzen und zu wissen, dass da jemand war, der mir zuhörte, auch wenn ich gar nichts sagte. Ich las ihm die Manuskripte vor, die mir mein Freund, der Dichter, zugesteckt hatte, und gemeinsam lachten wir darüber, weil wir nichts von dem verstanden, was mein Freund schrieb, nicht ein Wort. Oder ich las ihm aus der Zeitung vor und wir lachten, wenn unter zwei verschiedenen Todesanzeigen ein und derselbe Text stand. Wir fanden immer einen Grund zum Lachen, zur Not auch zwischen den Zeilen.

Doch mitunter kam es vor, dass meine Besuche ausblieben. Das waren die Tage, an denen ich beim Rausgehen über meine Geliebte stolperte. Natürlich war ich dann im ersten Moment reichlich verblüfft, aber die Verblüfftheit war Teil unseres Spiels, wie so vieles andere auch. Trotzdem hatte ich mich nie richtig daran gewöhnt, sie so im Hausflur zu finden, klein, zusammengerollt und zerzaust wie eine Katze, die sich im Schnee verlaufen hat. Das Mädchen mit dem Muttermal, das geformt war wie Island und aussah wie ein blauer Fleck.
Was unser Spiel auszeichnete, war, dass wir am Ende immer beide gewannen. Der Ablauf war mehr oder weniger immer derselbe.
Sie legte sich am Morgen vor meine Wohnung, tat, als hätte sie die ganze Nacht dort zugebracht, und wenn ich dann die Tür öffnete, machte sie ein bekümmertes Gesicht, schluchzte und jammerte mir vor, dass ihr Freund sie übel zugerichtet hätte und sie nun nicht mehr weiter wüsste. Daraufhin machte ich ein entsetztes Gesicht und ein paar drohende Gebärden in Richtung des imaginären Freundes. Ich trug sie auf den Armen ins Badezimmer, wo ich ihr die imaginären Tränen vom Gesicht tupfte. Dann schleppte ich sie weiter ins Wohnzimmer, wo wir noch eine Weile die Hilflosen spielten und bitter auf das Schicksal schimpften. Ich fragte sie, ob sie sich nun besser fühle und sie sagte, ja, es geht schon wieder, stand auf und küsste mich. Und dann hielten wir uns fest, sehr fest. Und das Muttermal verfärbte sich dunkel. Island bei Nacht, kicherte ich. Sie kicherte nicht.

Bisweilen hätte ich ihr gerne gesagt, dass ich das Spiel im Grunde albern fände, aber uns war beiden klar, dass wir das Spiel brauchten, dass wir uns ohne das Spiel nicht küssen würden.
Auch hatte ich das undeutliche Gefühl, dass sie sich vor irgendetwas fürchtete, dass sie etwas brauchte, woran sie sich klammern konnte, worauf sie sich verlassen konnte, ein Zeichen dafür, dass sich in unserer Beziehung nichts veränderte: Ein Ritual, in dem unsere Liebe greifbar wurde. Trotzdem war ich auf der Hut, und wenn ich merkte, dass sie mich wieder auf ihre spezielle Weise ansah, mit ihrem Licht-Blick, wie ihn mein Freund, der Dichter, nannte, dann hätte ich einiges darum gegeben, zu wissen, was für kleine runde Vorstellungen sich dort in ihrem kleinen runden Kopf wohl tummeln mochten.

In dem Augenblick, als ein faustgroßer Lehmklumpen meine Fensterscheibe zerschmetterte, fand unsere Beziehung ein jähes Ende. Zumindest sah ich keine Zukunft mehr für unsere Sache, nun, da ich um den jähzornigen Freund meiner Geliebten wusste. Natürlich machte ich mir Gedanken über die Geschichten, die sie erzählt hatte und die Bestandteil unseres Spiels waren wie ihr Weinen, mein Trösten und der erste, zaghafte Kuss. Alles war perfekt. Das Spiel war perfekt. Bloß hatte sich ihr Rambofreund nicht an die Regeln gehalten, er hatte sich eingemischt und das Spiel unterbrochen mit seinem Lehmklumpen, mit seiner Eifersucht und seiner Wut.
Ich stand am Fenster und blickte durch die gezackten Überreste meiner Scheibe. Ich blickte in den Hof und sah den Freund meiner Geliebten, wie er auf den dicken Stamm der Kastanie eintrat, als wollte er den Baum umtreten, als wollte er auch den Baum in mein Fenster stürzen. Als er mich entdeckt hatte, veranstaltete er ein Riesentheater, er zappelte und brüllte, dass die Leute ihre Köpfe zu den Fenstern hinausstreckten und sein Getue stumm beäugten, ihn vielleicht im Stillen auch bewerteten, ihn an den Varietekünstlern maßen, die sie schon gesehen hatten. Ich wandte mich um, ging zu meinem Nachdenkestuhl und dachte nach. Die Gedanken in meinem Kopf wurden zu Nachtfaltern, verließen mich durch meine Ohren, fanden das Licht und verbrannten zu kleinen Aschewölkchen, die das Licht im Raum noch mehr verdunkelten.

Man mag es dem Schicksal zuschreiben, dass mein Freund, der Dichter, in eben diesem Augenblick, da ich zerschlagen auf der harten Matratze meines Bettes lag und zur Decke starrte, jenen Geistesblitz hatte, der rückblickend eine neue Phase seines Schaffens einläuten sollte. Er hatte offenbar vorgehabt, diesem Augenblick dadurch gebührenden Respekt zu zollen, dass er die gesammelten Manuskripte seiner vorhergegangen Phase vernichtete, stilecht durch Verbrennen. Ich hätte ihm gleich sagen können, dass er das besser draußen angestellt hätte, jedenfalls nicht in der Wohnung. Aber er hatte mich nicht gefragt, und so kam, was kommen musste. Das Feuer griff über und erfasste die Vorhänge oder die Möbel oder die Pinnwand, das war dann jedoch auch schon nicht mehr wichtig. Wie man den Feuerlöscher korrekt bedient, hatte man ihm leider nicht erklärt und so stand bald die ganze Wohnung lichterloh in Flammen.

Dann war da noch der Ast, der von vornherein jeden Versuch zunichte machte, das Feuer durch Schließen des Fensters zu ersticken.
Erwartungsgemäß endete die ganze Sache damit, dass mein Freund, der Dichter, bei mir oben im Wohnzimmer hockte und versuchte, das gerade Erlebte schreibenderweise zu verarbeiten. Er meinte, das hätten alle Großen so gemacht, außerdem befände er sich augenblicklich in einer inspirierten Phase. Auch wenn ihn der Verlust des Astes schmerze. Schweigend sah ich zu, wie der Rauch vorm Fenster langsam und sich kräuselnd in den Himmel stieg.

Nach einer Weile wurde es mir zu bunt mit ihm, ich musste raus, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass die Welt nicht so war, wie mein Freund, der Dichter, sie beschrieb. Ich beschloss, den Alten zu besuchen, vielleicht brachte ich in seinem Beisein ein Lächeln zustande, wenigstens ein kleines.
Ich hatte ihn offensichtlich beim Schnitzen unterbrochen. Seine Hände waren voller Knetreste und überall an seiner Hose hafteten noch die feinen Wachsspäne, die er manchmal verwendete. Auf dem Tisch standen einige angefangene Figuren. Kleine unförmige Menschenkörper, Tiergestalten und Dinge, von denen man nicht sagen konnte, was genau sie darstellten. Nach ihrer Vollendung würde er sie teuer verkaufen, über einen Agenten, wie er sich ausdrückte. Als ich das zum ersten Mal hörte, war ich mir nicht sicher, ob er mir da nicht bloß wieder eine seiner Geschichten auftischte. Aber er erklärte mir, nicht ohne Stolz, dass die Leute seine Figuren als abstrakte Kunst betrachteten, obwohl die Unförmigkeit nur daher käme, dass die Erinnerung an die Formen der Dinge in seinem Kopf oftmals über die Jahre hinweg verblasst war; außerdem könne er ja nur erfühlen, was er gerade zusammenschnitzte, kein Wunder, dass da einige Verzerrungen entstünden. Ich fragte mich, ob er hinter seiner Maske lächelte.

Die Fenster waren leicht geöffnet, sodass der Wind den scharfen Brandgeruch aus meines Freundes Wohnung sowie den zarten Duft der Kastanienblüten ins Zimmer trug. Eine Weile saßen wir so schweigend da, und ich hatte das Gefühl, dass eigentlich alles in Ordnung war. Die Texte meines Freundes hätte ohnehin niemand gelesen - durch den Brand stiegen sie nun zumindest ein paar Leuten in die Nasen. Ich fragte den Alten, ob er die Worte riechen könne, und er sagte, sie röchen nach Rauch. Wir lachten beide.

Ich berichtete ihm von dem Brand bei meinem Freund, dem Dichter, und dass der nun meine Wohnung in Beschlag genommen hätte, dass ich sozusagen literarisch verfolgt wurde. Diesmal lachte er nicht. Hatte das Gesicht dem Fenster zugewandt, als könne er den Rauch sehen, der immer noch davor aufstieg und die Scheibe mit mattglänzendem Ruß benetzte. Vermutlich hatte sich inzwischen irgendjemand dazu aufgerafft, das Feuer einzudämmen, oder aber jemand hatte die Feuerwehr gerufen. Das wenige Licht, das durch das dichte Astgewebe der Kastanie drang, wurde nun zudem durch den Rußüberzug am Fenster geschwächt, sodass im Zimmer bald vollkommene Dunkelheit herrschte. Die Nacht trug Siebenmeilenstiefel. Ich hob den Kopf und sagte in Richtung des Alten: „Wird schnell dunkel. Wenn wir Dinosaurier wären, müssten wir jetzt aussterben.“
„Macht nichts“, sagte er in einem gleichgültigen Singsang, „macht nichts.“ Und seine Hände zuckten nervös wie zwei kleine, von Krämpfen geplagte Tiere.

Eine Weile saßen wir schweigend und die Welt machte ihre üblichen kleinen Geräusche. In einer der umliegenden Wohnungen lief ein Radio, von der Musik hörte man nur die Bässe. Aus dem Hof drang Geschrei, Fenster wurden zugeschlagen, um den Rauch außerhalb der Wohnungen zu halten. Eine Motorsäge rasselte los, offenbar hatten die Leute Angst, das Feuer könne auf den Baum übergreifen; und wer einen Ast im Zimmer hatte, stutzte diesen nun eilends zurecht. Der Alte schien etwas auf dem Herzen zu haben, aber er wartete eine ganze Weile, bis er endlich mit der Sprache herausrückte. Erregt stieß er hervor: „Kommen Sie mit, ich muss Ihnen etwas zeigen.“ Seine Snoopy-Maske schien vor Aufregung zu beben, als er mich durch das Wohnzimmer zur gegenüberliegenden Wand lotste. Zuerst erkannte ich nicht viel im trüben Dämmerlicht, und als ich dann näher herantrat und sah, was er meinte, konnte ich es nicht fassen. Mein blinder Gastgeber hatte sich einen Fernseher zugelegt, ein nagelneues Gerät mit großen Lautsprechern an beiden Seiten.
Ich versuchte, meine Verwirrung so gut wie möglich zu verbergen, da ich das ungute Gefühl hatte, dass mich seine blinden Augen beobachteten und durchschauten.

„Was wollen Sie denn mit einem Fernseher?“, krächzte ich schließlich, „Sie können doch gar nicht sehen.“
Hinter der Snoopy-Maske regte sich etwas, der Alte legte den Kopf schief, streckte die Hand nach mir aus, fand mich und legte die Hand auf meine Schulter. „Aber Sie können sehen“, erwiderte er mit warmer Stimme, „und wenn Sie bereit sind, mir Ihre Augen zu leihen, werde vielleicht auch ich das eine oder andere zu Gesicht bekommen.“
Also lieh ich ihm meine Augen.

Wir begannen mit dem Kinderprogramm. Mit dem einen Ohr folgte er meinen Beschreibungen, mit dem anderen lauschte er den Klängen aus den Lautsprechern, und wenn sie sich nicht deckten, wurde er ganz fahrig und ich beeilte mich, die Zusammenhänge aufzuklären. Wir zappten wild durch die Kanäle und blieben immer wieder an der Werbung hängen.
Ich schilderte ihm wundervolle Menschen, die wundervolle Produkte zu wundervollen Preisen erwarben, beschrieb ihm die Münder lachender Frauen, die weithin sichtbare Wirkung von Waschmitteln, blendendweiße Zähne, retuschierte Kindergesicher, strahlende Augen ohne Lachfältchen, glitzernde Autos auf hitzeflimmernden Straßen, alte Menschen, die ihr Alter vergaßen und junge Menschen, die vergaßen, dass es alte Menschen gab; Ich schwärmte von leuchtenden Kleidern, Pulvern, die jeden Garten zum Erblühen brachten, von tanzenden Fischstäbchen und einer Welt, in der das Glück in Katalogen angeboten wurde.

Und der Alte fand all die Dinge wunderbar.
Er jubelte mir zu und feuerte mich an, schlug sich auf die Knie und wiegte seinen krummen alten Körper wie ein Pendel, das vor Glückseligkeit nach allen Seiten ausschlägt. Er heulte auf wie ein Wolf und keuchte außer Atem: „Das ist gut so. Machen Sie weiter, machen Sie nur immer weiter! Erzählen Sie mir, was Sie da sehen!“

Ich fuhr fort mit meinen Schilderungen, und im Stillen fragte ich mich, was mein Freund, der Dichter, davon halten würde, ob es auch ihm gefiele. Aber wie ich ihn kannte, würde er die Fernbedienung an sich reißen und auf irgendwelche Nachrichten umschalten, um uns seine Welt zu zeigen, in der die Leute ausgeblendet wurden, sobald sich in ihrem Gesicht ein Lächeln regte, eine Welt, in der zwischen dem Davor und dem Danach kein Platz mehr war.

Ich redete und redete und um uns herum wurde es so dunkel, dass ich den Alten gar nicht weinen sah. Nur die plötzliche Stille ließ mich innehalten. Er saß hinter mir und winselte leise wie ein geprügelter Hund und die Tränen liefen unter seiner Maske hervor, tropften auf sein Hemd und rannen durch die tiefen Furchen an seinem Hals. Ich starrte ihn ratlos an. „Macht nichts“, näselte er, „Macht nichts.“ Dann brach seine Stimme. Und die Maske hob und senkte sich unter seinen schweren Atemzügen.
Als er seine kräftigen Schnitzerhände langsam auf mein Gesicht zuführte, war ich wie gelähmt. Ich hinderte ihn nicht daran, mein Gesicht zu berühren, ich fühlte seine Finger auf meinem Kinn, kleine kalte Punkte auf meiner Haut.

Tastend, zaghaft und zum sofortigen Rückzug bereit wie ein scheues Tier strich die Außenseite seiner Hand über meine Schläfe, ganz langsam, als fürchtete er, mich durch eine zu rasche Bewegung zu verletzen, so, als wäre ich eine seiner Knetfiguren. Seine Hände zitterten ganz leicht und er holte noch einmal tief Luft, ehe er mühsam hervorbrachte: „Könnten Sie...würden Sie mir bitte die Maske abnehmen.“
Ich räusperte mich verlegen. „Mich stört die Maske wirklich nicht.“
„Aber mich. Bitte.“

Das Fenster war inzwischen ganz mit Ruß bedeckt, sodass wir schweigend auf dem Boden des stockdunklen Zimmers hockten und in der Finsternis trieben wie zwei Fische in einem schwarzen See. Ich ertastete sein Gesicht und nahm ihm die Maske ab. Ich vernahm einen leisen Seufzer und war mir nicht sicher, ob er nicht mir selbst entwichen war.
Der Alte ergriff meine Hände, drückte fest zu und führte sie ganz dicht an sein Gesicht heran, bis ich den Atem unter seiner Nase spürte. Ich wollte die Hand zurückziehen, wollte aufstehen, aus der Wohnung stürzen, mich in mein Bett legen und auf die Nachtfalter warten. Doch es war zu spät, seine Hände bedeckten mein Gesicht wie eine zweite Haut und meine Hände waren auf dieselbe Weise an sein vom Feuer entstelltes Gesicht gefesselt.

„So“, flüsterte er zufrieden, „Und nun werde ich Ihnen sagen, was ich fühle. Ich werde Ihnen mein Zuhause zeigen. Kümmern Sie sich nicht um die Dunkelheit, stellen Sie sich die Dunkelheit als eine Leinwand vor, Geräusche sind Ihre Farben und Erinnerungen sind die Haare ihres Pinsels. Hören sie das Fußgetrappel unten im Hof? Oder das Blättergeraschel oben in der Baumkrone? Glauben Sie mir, dieses andauernde Geraschel treibt einen in den Wahnsinn. Es ist so laut, dass Sie hier nicht viel vom Himmel hören, das schabende Geräusch, wenn die Wolkenzacken aneinander reiben, das Knistern der Sonne am Morgen, das Gesumme der Sterne in der Nacht. Alles fehlt. Hören Sie den Rauch? Wie er flüstert?“
„Ja“, sagte ich, obwohl ich gerne mehr gesagt hätte.
Und die Dunkelheit legte sich wie warmer Nebel um uns, nur die beiden schneeweißen Pupillen des Blinden leuchteten schwach wie zwei kleine runde Lichter an einem Himmel ohne Sterne.
"Los! Versuchen Sie es, verpassen Sie der Dunkelheit einen Anstrich!"
"Es ist eine Art Spiel ... nicht?"
"Ja, es ist eine Art Spiel. Ein besonderes Spiel. Man kann dabei nur verlieren ... die Angst vor der Nacht."

 

Hallo Wolkenkind!
Eine schöne Geschichte, voller Begebenheiten, die so wundervoll beschrieben sind, dass ich es gar nicht erklären kann. Du hast es sehr gut rübergebracht wie der Mann in diesem Haus lebt und der Baum auf alle soviel Einfluß hat, was man im "Alltag" gar nicht bemerken würde.
Nur das Ende hat mich enttäuscht. Ich weiß nicht welches Ende ich mir gewünscht hätte. Aber die Story hört für mich mittendrin auf...

Habe ich sehr gerne gelesen!

LG Ulrike

 

Hi Ulrike

Danke für deine rasche Antwort, hab den Schluss gleich etwas umgekrempelt ;)
Ich hatte auch das Gefühl, dass sie mittendrin endet, da hat die einschnappende Verbindung gefehlt. Hoffe, jetzt ist es besser.

P.S. Wäre ich nicht der Autor :hmm:, würde ich bemängeln, dass der Text wegen vielerlei eigentlich keine Geschichte ist, da freut es mich umso mehr, wenn er trotzdem gefällt.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo wolkenkind!

Also die Idee mit dem Ast im Zimmer gefällt mir, sowas find ich „cool“ – besonders natürlich im Winter…*brrr* :D

Mir gefällt sehr gut, wie Du die Besonderheiten der Menschen und ihre Gedanken mit Worten verstrickst und sie durch den Baum verbindest. Besonders gefallen haben mir die Stellen, wo Du schreibst, daß der Dichter eh nicht oft die Wohnung über den Ast verläßt, weil er die meisten Recherchen in den eigenen vier Wänden macht, und die, wo der Ich-Protagonist mit dem Alten vorm Fernseher sitzt, die Betrachtung der Werbung und dann das Abtasten des Gesichtes. Schön zu lesen ist aber alles, von der ersten bis zur letzten Zeile. :)

Und, ja, da hört es dann ziemlich unvermittelt auf. Ich weiß zwar nicht, was vorher der Schluß war, aber auch dieser hier ist irgendwie kein passender, meiner Meinung nach. Ich glaube, Du solltest da noch ein kleines Stück weiterschreiben. Ich hätte mir zum Beispiel erwartet, daß der Dichter und der Alte miteinander noch irgendwie verbunden werden, vielleicht auch die Freundin wieder auftaucht… Am Anfang schreibst Du, daß der Ich-Protagonist dem Alten die Texte des Dichters vorliest – vielleicht kannst Du hier einen Schluß draus machen? Vielleicht macht sich der Alte ja Gedanken über die Texte, die er ihm ja noch nie mitgeteilt hat… Irgendwie wollen die beiden einfach verbunden werden, da Du ja von beiden recht ausführlich erzählst. Es wäre natürlich am schönsten, wenn das auch noch über den Baum erfolgen würde, aber da ist es wahrscheinlich noch schwieriger, etwas zu finden, wie die Verbindung funktionieren könnte.
Eine zugegeben etwas kitschige Version wäre zum Beispiel, daß der Alte den Dichter zu einem Bestseller inspiriert. Aber bei Deinem Schreibtalent könntest Du wahrscheinlich sogar das auf eine Art bringen, daß es einem dann überhaupt nicht abgeschmackt vorkommt…

Was mich ein bisschen gestört hat, also mir ein bisschen unglaubwürdig erschien, ist, daß der Alte, der ja blind ist, offenbar den Rauch noch nicht gerochen hatte. Aber das ist nur eine Nebensächlichkeit. ;)

Ein paar kleine Anmerkungen noch:

»Mächtig wie ein Berg trohnt der Baum im Innenhof«
– thront

»Das Mädchen mit dem Muttermal«
– hier würd ich nicht „Mädchen“ sondern „Frau“ oder „junge Frau“ schreiben – auf mich hat das erst einen seltsamen Eindruck gemacht, und als dann vom prügelnden Freund die Rede war, gingen meine Gedanken in eine ganz schlimme Richtung…

»Ich trug ich sie auf den Armen ins Badezimmer«
– ein „ich“ zuviel

»wie er auf den dicken Stamm der Kastanie eintrat, als wollte den Baum umtreten,«
– als wollte er

»Und dann war da noch der Ast, der«
– würde das „Und“ streichen

»Ich hielt den Blick weiter zielsicher auf die Decke gerichtet, schwieg und sah zu, wie der Rauch vorm Fenster langsam und sich kräuselnd in den Himmel stieg.«
– hier dachte ich „also doch nicht so zielsicher auf die Decke gerichtet“, da er ja dann den Rauch vorm Fenster beobachtete – Vorschlag: Ich starrte weiter zielsicher geradeaus, schwieg …

»Hinter der Snoopy Maske regte sich etwas«
– Snoopy-Maske

»werde vielleicht auch ich das ein oder andere zu Gesicht bekommen.“«
– das eine oder andere

»um uns seine Welt zu zeigen, in der die Leute ausgeblendet wurde«
– wurden

»Er saß hinter mir und winselte leise wie ein geprügelter Hund und die Tränen liefen unter seiner Maske hervor«
– würde eins der beiden „und“ eliminieren, z.B. … geprügelter Hund. Die Tränen …

»und er holte noch einmal tief Luft, ehe mühsam hervorbrachte:«
– ehe er mühsam

»das Gesumm der Sterne in der Nacht«
– ich weiß nicht, ob Du absichtlich das e bei Gesumm(e) weggelassen hast, ich finde, es fehlt beim Lesen

»Es ist eine Art Spiel...nicht?«
– Leertaste vor und nach den drei Punkten (auch im nächsten Satz)


Falls Du den Schluß änderst, schick mir dann bitte eine PM, damit ich die Geschichte dann nicht überseh. :)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Häferl

Danke, dass du den Text noch einmal ausgebuddelt hast, eigentlich hatte ich ihn schon als Ideen-Steinbruch abgeschrieben ;)
Danke auch für das Raussuchen der Fehler, hab sie schon wegeditiert.

Freut mich, dass dir der Stil gefallen hat, das Erzählen ist mir momentan noch wichtiger als die Geschichten.
Um aus der hier eine richtige Geschichte zu machen, müsste ich erst einmal kürzen. Die Episode mit der Geliebten könnte man z.b. ersatzlos streichen, die ist nicht wirklich wichtig für die Handlung.
Allerdings gibt es schon so eine Art Schluss, wenn man denn bereit ist, ein bisschen zu suchen :)

Die Verknüpfung Dichter-blinder Mann hab ich an ein paar Stellen noch verstärkt, aber eigentlich war mir gerade dieser Gegensatz: "Einfaches Werbefernsehen - Exzentrische Künstlernatur" Verbindung genug. Zum Schluss prallen einfach die beiden Wahrnehmungen aufeinander, den Knall hab ich mir dann gespart.

Ganz davon abgesehen will ich den ohnehin spärlichen Lesern nicht noch mehr Text zumuten ;)

Liebe Grüße
Christoph

 

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