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Lichtlos
Sie steht seit einer Weile vor dem Schrank mit den Klamotten. Unsicher streicht ihre Hand immer wieder über Pullover, T-Shirts, Hemden und Hosen. Immer wieder verweilt ihre Hand für kurze Augenblicke an Nähten und Knöpfen.
Sie steht mit geschlossenen Augen vor dem Schrank und weint.
Die Tür öffnet sich und eine Frau tritt herein.
„Ist alles ok bei dir?“, fragt sie das Mädchen.
„Ja, ich weiß nur nicht was ich anziehen soll. Geht das zusammen?“, fragend streckt sie der Frau ein giftgrünes Top und eine schwarze Hose entgegen.
„Willst du wirklich das grüne Top? Ich würde das weiße nehmen.“
„Das weiße“, murmelt sie und fährt wieder mit ihrer Hand über den Stapel Klamotten.
„Das hier?“
„Nein, nein das weiße.“
„Also das?“
„Eins drüber, ja genau das.“
Das Mädchen nimmt das weiße Top aus dem Schrank. Sie dreht sich zu der Frau, die nach ihrer Mutter klingt und lächelt ihr zu.
„Ich komme gleich.“
„Gut. Wenn etwas ist dann melde dich, ich bin gleich nebenan“, antwortet die Frau und verlässt den Raum.
Das Mädchen ist ein wenig vom Schrank zurückgetreten. Sie lächelt nicht mehr. Sie dreht das Top mehrmals in ihren Händen bevor sie es überstreift.
"Geh nicht zu dicht heran", hatten ihr die anderen Feen gesagt, doch sie hörte nicht auf sie. Sie konnte es einfach nicht. Viel zu spannend war das was sie da vor sich sah. Dieses Licht, dieses unbekannte und spannende Licht. Wie magisch zog sie es an.
Auf einmal war es dunkel. Überrascht starrte sie in die Richtung, wo es vor wenigen Sekunden noch so wunderbar hell gewesen war. Auf einmal ganz still. Fast so als wäre die Erde stehen geblieben.
Stehen geblieben, für einen kurzen Moment, und nur damit sie sich mit einem lauten Knall, einem grelleren Licht und einer gigantischen Druckwelle wieder in Bewegung setzten konnte. So etwas hatte sie noch nie im Leben gesehen.
Viel zu spät erkannte die kleine Fee die Gefahr, die da auf sie zurollte und sich immer größer vor ihr aufbäumte. Angst überkam sie. Sie drehte sich um, da packte die Welle ihr Bein. Schmerz durchfuhr sie. Sie begann zu Schreien.
Und mit diesem Schrei wachte sie auf.
Die Wiese, der Wald, das Kraftwerk, alles war verschwunden. Es war stockfinster um sie herum. Und gerade diese Finsternis machte ihr am meisten Angst.
Sie schrie und hörte auch nicht auf, als ihre Mutter und eine Schwester gelaufen kamen.
„Ich kann nichts sehen. Ich kann nichts sehen.“
Ihre Mutter nimmt sie in den Arm.
„Ich kann nichts sehen. Ich sehe nichts.“
„Ich weiß, Schatz.“
„Ich sehe nichts. …"
„Kind, das Top ist falsch rum“, sagt die Frau, die so klingt wie ihre Mutter, während sie am Küchenschrank steht und nach dem Salz sucht.
„Kann nicht sein. Ich hab doch extra auf die Merkmale geachtet“, antwortet das Mädchen irritiert und betastet mit den Händen ihr Oberteil.
Sie berühren den Aufhänger. Tränen schießen ihr ins Gesicht.
„Ach Kind, das lernst du schon noch“, sagt die Frau und will das Mädchen tröstend in den Arm nehmen.
Das Mädchen schubst sie weg und flieht aus dem Zimmer. Dabei stößt sie gegen einen Stuhl, gerät ins Wanken und fällt.
„Lass mich, lass mich in Ruhe! Lasst mich einfach alle in Ruhe!“, schreit sie die Frau an, die so klingt wie ihre Mutter, als diese versucht ihr aufzuhelfen.
Stundenlang steht sie jetzt schon vor dem Fenster. Sie blickt hindurch, doch sie nimmt nichts wahr, von dem was da draußen geschieht. Sie ist in ihrer eigenen dunklen Welt. Immer und immer wieder wirft sie in ihren Gedanken den Knaller. Der Knaller, der nicht explodiert sondern nur komisch leuchtet.
Immer und immer wieder versucht sie sich festzuhalten, versucht sie zu verhindern, dass sie zu dem Knaller geht.
Immer wieder hört sie sich sagen:
„Schau mal Mama jetzt ist er aus.“
Sieht sich den Knaller aufheben.
Und immer wieder sieht sie das Licht, hört den Knall und spürt den Schmerz.
Sie steht vor dem Fenster und schaut nach draußen. Schnee fällt vom Himmel, doch sie sieht es nicht. Sie sieht nichts. Sie ist blind.