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Lichter
Der Wohnblock ragte bleigrau in den Nachthimmel. Licht fiel vereinzelt aus den Fenstern. Auf dem Bürgersteig war es dunkel, denn Laternen gab es nicht. Neben der Eingangstür prangte die 24 auf einem weiß leuchtenden Würfel. Lena blieb stehen. Hier war sie richtig.
Sie atmete durch und hoffte, das flaue Gefühl loszuwerden, das sie begleitete, seitdem sie aus dem Bus gestiegen war. Die Hecken vor dem Bau waren ungepflegt und rissige Betonplatten führten zur Tür. Es stank nach vergammelten Essensresten. Lenas Lippen fühlten sich trocken an. Als könnten sie reißen, wenn sie den Mund zu weit öffnete.
Über den Klingelschildern hing eine einsame Glühbirne. Sie flackerte. Lena beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. „Heine“, murmelte sie, während sie die Namen betrachtete.
Die Eingangstür quietschte. Bevor sich Lena umdrehen konnte, hörte sie: „Suchste wen?“ Ein Mann trat aus dem Wohnblock. Er trug einen Trainingsanzug. In der linken Hand hielt er einen Müllsack, in seinem Mundwinkel hing eine Zigarette.
Lena räusperte sich. „Ich … ich möchte zu Heine.“
„Hm.“ Er zog an der Kippe, nahm sich Zeit. Lena ließ er dabei nicht aus den Augen, als nähme er ihr Aussehen in sich auf wie den Rauch. Dann blies er Qualm aus seiner Nase und sagte: „Dritter Stock.“ Die Zigarette wackelte auf und ab, während er sprach. Asche fiel auf seine Jacke.
„Vielen Dank“, sagte Lena.
Der Mann blieb in der Tür stehen. Nur seine Augen bewegten sich unablässig, begutachteten Lenas Körper. Sein Blick verharrte kurz an den Brüsten, an der Hüfte. Lena fragte: „Darf ich vorbei?“
„Was hält dich auf?“ Er rührte sich nicht.
Seitwärts schob sie sich an dem Mann vorbei. Sein Atem stank nach Bier, aus dem Müllsack drang der Geruch von faulem Fleisch. Lenas Oberschenkel streifte den Schritt des Mannes. Zufrieden zog er an der Kippe. Die Glut tauchte seine Nasenspitze in rötliches Licht. „Wat willsten bei der Heine, Süße? Komm doch zu mir. Dann machen wir's uns gemütlich, hm?“
Erst als Lena den Treppenabsatz erreicht hatte, sagte sie leise, nur für sich: „Nein danke.“
Lena ging hinauf in den dritten Stock ging. Ihre Schritte hallten durch das Treppenhaus, als wollte das Geräusch den Bewohnern mitteilen, dass jemand käme, der hier nicht hergehörte. Lena glaubte, beobachtet zu werden. Augen, die durch Türspione spähten. Lena ging schneller. Das Lachen einer Frau ertönte hinter einer Tür, irgendwo spielte Musik.
Lena klingelte bei Heine. Ein Schild hing an der Tür, darauf eine Igelfamilie und der Schriftzug Willkommen. „Komme schon.“ Es polterte, dann ging die Tür auf. „Hey. Bist ja früh.“ Melanie wirkte gehetzt, doch sie lächelte. „Komm rein.“
Schuhe standen ungeordnet im Flur, auf einem Schrank lagen Papiere, Schlüssel und ein Schal. Melanie trug nur Unterwäsche. „Sorry, hab die Zeit vergessen. Muss mir fix was anziehen. Setz dich doch in die Küche.“ Sie rannte durch den Flur. Ein Tattoo überzog ihren Rücken. Ein blattloser Baum mit verschnörkelten Ästen, die wie Schlangen wirkten. Melanie zeigte Lena die Küche, dann verschwand sie, rief noch: „Nur fünf Minuten.“
Lena setzte sich auf einen Holzstuhl. Das Geräusch vorbeifahrender Autos drang durch das geöffnete Fenster. Geschirr stapelte sich in der Spüle, ein Spruch zierte die Wand über dem Esstisch: Live, laugh, love.
Nach zehn Minuten betrat Melanie den Raum. „Willst was trinken?“ Sie trug ein knappes Top, ein schwarzes. Und Minirock, es war schließlich Sommer.
„Kaffee wäre nicht schlecht.“
„Kaffee?“ Melanie schnaubte. „Komm, kriegst 'n Bier. Heute wird gefeiert.“ Bevor Lena etwas sagen konnte, nahm Melanie zwei kalte Becks aus dem Kühlschrank und öffnete sie mit einem Feuerzeug. „Bitt' schön.“ Melanie gab Lena eine Flasche und sagte: „Auf das überstandene erste Semester.“ Die Flaschenhälse klirrten, als sie gegeneinanderstießen.
Sie tranken und warteten und schwiegen. Nach ein paar Minuten sah Melanie auf ihr Smartphone. „Jule kommt zu spät. Typisch.“
Lena fuhr mit den Fingerspitzen über die kühle Bierflasche. „Wird sicher gleich klingeln.“
„Hoffentlich.“ Melanie nahm einen kräftigen Schluck. „Schreibst du noch an deinem Roman? Hab dich nie gefragt, worum es eigentlich geht.“
Lenas Wangen wurden warm. „Ich … also … Ich habe in letzter Zeit kaum geschrieben. Die Prüfungen und so.“
„Ja, versteh ich.“ Melanie drehte die Flasche in ihren Händen. „Also, worum geht es?“
„Weiß nicht. Ich ändere viel.“ Sie zupfte sich am Ohrläppchen. „Ich sag's dir, wenn ich mich festgelegt habe, ja?“
„Klar.“
Zeit verging. Lena nippte am Bier. Der Geschmack war ungewohnt und bitter und sie wollte das Gesicht verziehen, aber tat es nicht. Melanie starrte auf den Boden vor ihren Füßen. Der Raum war still und ohne Bewegung, wie ein Standbild. Lena glaubte, es würde sich erst ändern, wenn sie ein Thema fände, über das sie mit Melanie reden könnte. Ihr fiel nichts ein.
Als es klingelte, hatte Lena das Gefühl, jegliche Feierstimmung aus Melanie rausgelangweilt zu haben; doch beim Ertönen das metallenen Summens rief Melanie: „Wuhuu, Partytime.“ Sie leerte das Bier in einem Zug, wackelte dabei mit dem Hintern. „Auf geht's, faules Söckchen. Jetz' wird richtig gesoffen.“
Gemeinsam fuhren sie aus der Stadt. Jule saß am Steuer, während Melanie am Radio rumspielte. Sie klickte durch Dutzende Songs, meist Deutsches. Mark Forster und Andreas Bourani, gelegentlich auch Rap. Dann erklangen harte Bässe und Melanies Finger verharrte und sie wippte mit dem Kopf zum Takt. „Das is' geil“, sagte sie und drehte die Lautstärke auf.
Lena saß auf der Rückbank und die Bassrolle im Kofferraum brachte den Sitz zum Vibrieren. „Wo fahren wir noch gleich hin?“, fragte sie. Keiner antwortete. Sie presste die Lippen zusammen, dann wiederholte sie, diesmal lauter: „Wo fahren wir hin?“
Jule sah in den Rückspiegel und ihre Blicke trafen sich. „In so ein Kaff, zwanzig Minuten von hier. Artem … du kennst doch Artem?“
„Sicher“, sagte Lena zu Jules halbem Gesicht im Spiegel.
„Seine Eltern haben da 'ne Scheune.“
„Alle Jungs sind da“, sagte Melanie. „Da geht heut was.“ Das nächste Lied begann, es war schneller, mit noch mehr Bass. Die Fensterscheiben zitterten. Melanie drehte leiser und fragte: „Julchen, hast du was zu trinken dabei? Vorglühen muss sein.“
„Unter deinem Sitz.“
Melanie beugte sich vor, der Sicherheitsgurt spannte. Dann tastete sie umher und sagte mit gepresster Stimme: „Ah.“ Sie zog eine Flasche Batida de Coco hervor. „Das gute Zeug.“ Sie schraubte den Verschluss auf, nahm einen Hieb und fragte Lena: „Auch was?“
Lena winkte ab. „Ich mag den Geschmack nicht.“
„Blöd.“ Melanie nahm wieder einen Schluck. „Sag, hast du Gummis dabei?“
„Was?“
„Kondome.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Haste?“
„Bin doch kein Kerl.“
„Hey, wenn ich Bock habe, dann brauch ich's auch. Stell dir vor, du bist geil am Rummachen und der Typ hat keine Kondome dabei.“
Jule lachte. „Wenn es darum geht, denkst du echt an alles.“
Melanie knuffte gegen ihre Schulter. „Musst du grad sagen.“
„Eine feste Beziehung kann ich haben, wenn ich alt und runzelig bin.“
„Also in drei Jahren“, sagte Melanie.
Jules Lächeln verschwand. „Scheiße, musste das jetzt sein? Machst mich ganz depressiv mit so 'nem Gelaber.“
Melanie hob die Hände. „Sorry. Kann ja nicht wissen, dass du da gleich so abgehst. War nur'n Witz, okay?“
Jule steckte sich eine Kippe in den Mund. „Whatever.“ Sie reckte ihren Kopf in Melanies Richtung, ohne die Straße aus den Augen zu lassen, und Melanie zündete die Zigarette an.
„Kommen wirklich alle?“, fragte Lena.
„Das hat Artem jedenfalls behauptet“, sagte Jule, während sie das Fenster runterließ. Der Rauch zog ab und eine milde Brise wehte ins Auto und durchwirbelte Lenas Haare.
Melanie sagte: „Weißt du, was das bedeutet?“
„Was?“, fragte Lena.
„Fabian wird auch da sein.“ Melanie und Jule wechselten einen raschen Blick und beide grinsten.
Lena sah aus dem Fenster. Das Scheinwerferlicht erhellte die Leitplanke, hinter ihr war nur Dunkelheit. „Fabian auch?“
Kurz vor den ersten Prüfungen hatte sich Lena zum ersten Mal mit Fabian unterhalten. Sie war an diesem Tag über den Campus geschlendert und hatte einen Platz gesucht, an dem sie ungestört lernen konnte. Viele der Bänke, auf denen sie sonst saß, waren besetzt. Studenten unterhielten sich und lachten oder waren in Büchern und Notizen vertieft. Stimmen schallten über das Gelände, herangetragen von der Sommerbrise, der ersten des Jahres. Die Sonne stand über einer Buche, die einen langen Schatten auf den Rasen warf. Hier war es kühl, weniger schweißtreibend.
Lena setzte sich unter den Baum auf das trockene Gras, schlug ihr Buch auf und begann, sich Gleichungen und Formeln einzuprägen. Wie lange sie dort saß und lernte, darauf achtete Lena nicht; die Prüfung war nah und sie wollte lernen, bis sie den Stoff beherrschte. Langsam bekam sie Kopfschmerzen.
„Differentialrechnung ist echt ätzend, oder?“
Sie sah auf, in das Gesicht eines jungen Mannes. Es kam ihr vertraut vor. „Ja, ätzend“, sagte sie.
„Will mir einfach nicht in den Kopf.“ Er ließ seine Tasche auf den Boden fallen und setzte sich mit einem Stöhnen neben Lena. Dann streckte er seine Hand aus. „Fabian. Wir sind im selben Studiengang, richtig?“
„Ja, stimmt. Du sitzt immer ganz hinten, nicht?“ Sie schüttelte seine Hand. Sie war warm und weich, schwitzte gar nicht. Es fühlte sich angenehm an.
Fabian lächelte. „Und du ganz vorne. Also, du bist?“
Sie überlegte kurz, was er damit meinte, sagte schließlich: „Oh … ich heiße Lena.“
„Sehr erfreut, Lena.“ Er zog ein Buch aus seiner Tasche, das gleiche, das Lena in den Händen hielt. „Stört es dich, wenn ich hier lerne? Die anderen guten Plätze sind besetzt, und hey, vielleicht können wir uns gegenseitig ein bisschen helfen.“
„Nee, stört mich nicht.“
„Nice.“ Er schlug das Buch auf.
Nach einigen Minuten, in denen sie schweigend gelesen hatten, sagte er: „Schon komisch, oder?“
„Hm?“
„Da studieren wir ein halbes Jahr gemeinsam, trotzdem reden wir heute zum ersten Mal miteinander.“
„Ja, schon krass.“
„Ein bisschen vermisse ich ja die Schule. Da war man …“ Er sah in die Ferne, zu den Fenstern des Fakultätsgebäudes, die im Sonnenlicht schimmerten. „Man war nicht so anonym. Ich mein', viele kennen nicht mal unsere Namen, es juckt die auch gar nicht.“
„Das gehört wohl dazu“, sagte Lena. „Zum Leben, meine ich.“
„Ja, schon der alte Schiller hat's gewusst. Es kämpft jeder seine Schlacht allein.“
„Du liest Schiller?“ Lena blickte ihm direkt in die Augen und sie glaubte, rot zu werden, also sah sie auf die Falte zwischen seinen Augenbrauen und da verschwand das Gefühl.
„Nicht wirklich“, sagte Fabian. „Ist einfach vom Abi hängengeblieben.“
„Ich lese ihn gerne. Er inspiriert mich, wenn ich schrei…“ Lena verstummte. Melanie und Jule hatten sie auch ausgefragt, als ihr rausgerutscht war, dass sie schreibe; und als Lena ihre Fragen beantwortete und die beiden sich ansahen und grinsten, war ihr heiß geworden und Schweiß hatte sich unter ihren Armen ausgebreitet und ihre Hände wurden feucht.
„Er inspiriert dich?“, fragte Fabian. „Schreibst du etwa?“
„Ein bisschen.“
„Und was? So Kurzgeschichten?“
„Zurzeit … also ich arbeite an einem Roman.“
Fabian pfiff. „Worum geht es?“
Lena zupfte einen Grashalm aus dem Boden und zerrieb ihn zwischen den Fingern. „Das sag ich dir, wenn ich es genauer weiß. Also die Details und so.“
„Das ist dir sehr wichtig, hm?“
„Das wollte ich schon lange machen, ja.“
„Verstehe.“ Er sah an Lena vorbei, als würde er an etwas denken, vielleicht an einen Traum, den er mal hatte. Dann zuckte er mit den Schultern und widmete sich dem Lehrbuch. Beim Lesen murmelte er etwas und machte sich mit einem Bleistift Notizen an den Seitenrändern.
Als die Sonne langsam unterging und die Gräser und Blätter in Orange tauchte, verstummten die Stimmen auf dem Campus allmählich und Fabian fragte: „Wenn du so gerne schreibst, warum studierst du dann Maschinenbau?“
Lena öffnete den Mund, doch sagte nichts. Erst als Fabian die Frage wiederholte, antwortete sie. „Nun … mein Vater.“ Sie glaubte nicht, dass Fabian mit dem Kopf schütteln oder lachen oder ein dummes Mädchen in ihr sehen würde. Nein, er würde verstehen. „Mein Vater wollte das so. Er hat gesagt, nach dem Studium ist mir ein gut bezahlter Job sicher. Das sei wichtiger als irgendwelche Fantasien über Romanschreiberei.“
Fabian klappte das Buch zu und betrachtete einen Raben, der im Gras herumpickte. „Mein Vater wollte, dass ich Jura studiere.“
„Warum hast du das nicht getan?“
„Weil ich nicht wollte.“ Der Rabe flog davon und Fabians Blick wanderte umher, als müsste er einen neuen Fixpunkt finden. Er sah in den Himmel, dann zu den länger werdenden Schatten der Bäume und Bänke. „Nun, langsam wird's echt spät. Ich mach mich auf.“ Er packte seine Sachen zusammen und erhob sich und blickte auf Lena herab. „Lernst du häufiger hier?“, fragte er. Sie nickte, er lächelte. „Dann sehen wir uns mal wieder, hoffe ich.“
Verstärker waren im Raum verteilt und überall lagen Kabel, über die man stolpern konnte. Zigarettenrauch waberte unter der Decke der Scheune. Scheinwerfer beleuchteten die Feiernden mit grellem Licht, ihre Schatten zeichneten sich scharf auf dem Betonboden ab, bewegten sich hin und her zum Klang der Musik.
Lena stand in einer halbdunklen Ecke und beobachtete Melanie. Sie tanzte inmitten des Raumes und ihre Haare klebten auf der schweißnassen Stirn. Wie sie sich bewegte und wie sie lächelte. Als wäre ihr alles egal, als zähle nur der Moment und der nächste Beat, und die Aufmerksamkeit all der Männer war für sie so unsichtbar wie die Luft, die sie atmete. Wie gerne würde Lena mit ihr tanzen und den Moment vergessen. Aber sie konnte nicht, wollte sich nicht vorstellen, von fremden Männern gemustert zu werden. Sie dachte an den Typen, den sie vor Melanies Haustür getroffen hatte, und ein Schauer des Ekels durchfuhr sie und sie zuckte unwillkürlich mit den Fingern.
Jemand hielt ihr ein geöffnetes Bier hin. „Trinkst du was mit mir?“ Es war Fabian. Er trug ein rosafarbenes Hemd und kurze Hosen mit Karomuster und sein Bart betonte das kantiges Gesicht. Er sah gut aus.
Lena nahm das Bier. „Klar.“ Sie stießen an. „Gefällt dir die Party?“, fragte sie.
„Ja.“ Er sah ihr in die Augen, als gäbe es auf der Party nichts Interessanteres. „Aber jetzt gefällt sie mir noch besser.“
Lena wollte sich abwenden, doch sie hielt den Blickkontakt und schmunzelte. In ihrem Bauch wurde es warm und es kribbelte angenehm.
Zu zweit verließen sie die Scheune. Lena torkelte an Fabians Seite über den angrenzenden Acker, hin zu den Bäumen am Horizont. Während ihres Gesprächs hatte Fabian regelmäßig Bier gebracht, und Lena trank es, weil ihr die Unterhaltung dann leichter fiel. Sie wusste nicht, wie viele Biere es gewesen waren, aber irgendwann drehte sich alles und Fabians Stimme wurde undeutlich und in ihrem Magen grummelte es. Als die Leute besoffener wurden, hatte Fabian gefragt, ob sie einen kurzen Spaziergang mit ihm machen wolle. „Du bist etwas blass. Siehst aus, als könntest du frische Luft vertragen“, hatte er gesagt.
Lena stolperte einige Male über Dreckklumpen, während sie über den Acker gingen, aber sie fiel nicht hin, denn Fabian hielt sie sanft am Oberarm fest, wenn sie schwankte. Sie erreichten den Waldesrand. Der Partylärm war kaum noch hörbar. Fabian nahm Lenas Hand und wortlos gingen sie in den Wald.
Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Fabian zog sein Handy aus der Hosentasche und nutzte es als Taschenlampe. Weißes Licht erhellte die Bäume und die Wurzeln, die aus dem Boden ragten, als wollten sie Lena ein Bein stellen. Es war still, nicht mal Grillen zirpten. Nur die Blätter der Birken und Eichen rauschten im Wind und Äste knackten unter ihren Füßen, als Fabian und Lena tiefer in das Dickicht spazierten.
Nach wenigen Minuten stießen sie auf eine Eisenbahnschiene, die sich wie ein umgefallener Zaun durch den Wald schlängelte. Grasbüschel sprossen zwischen den Bahnschwellen. Hier fuhr schon lange kein Zug mehr. „Ein schöner Platz, findest du nicht?“, fragte Fabian. Er setzte sich hin und klopfte auf den Boden neben sich. „Komm.“
Lena nahm neben ihm Platz und gemeinsam genossen sie die Stille und das Licht des Halbmondes, das durch die Baumkronen drang und die Schienen schimmern ließ. Die Waldluft tat Lena gut, und ihre Umgebung wackelte etwas weniger. Dafür verkrampfte ihr Magen und ihr Kopf schmerzte, als würde etwas von innen gegen ihre Schädeldecke hämmern. Sie atmete durch den Mund langsam ein und aus.
Dann spürte sie Fabians Hand auf ihrem Oberschenkel und er rückte näher an sie heran. „Ich hab' dich sehr gern, weißt du“, sagte er.
„Ich … ich dich auch“, sagte sie.
Seine Augen leuchteten im Mondlicht. Er streichelte mit den Fingerspitzen über Lenas Wange und beugte sich vor. Ihre Lippen berührten sich, ganz sanft und weich, und seine Nase strich über ihre. Lena erwiderte den Kuss und ließ sich auf den Waldboden sinken, ohne ihre Lippen von seinen zu lösen. Fabian legte sich auf sie. Er küsste ihren Hals, während Lena in den Himmel blickte, zu den Ästen und Sternen. Sein Bart kitzelte auf ihrer Haut und Lena kicherte. Dann spürte sie sein Glied, das heiß gegen ihren Schritt drückte und härter wurde, und Lena musste an den Typen denken, dem sie vor wenigen Stunden vor Melanies Wohnung begegnet war. Sie musste an den Müll denken und an den Gestank von Asche und faulem Fleisch.
Fabian küsste Lena erneut, und da bemerkte sie, dass der Geruch von Alkohol in seinem Atem mitschwang und sein Speichel nach schalem Bier schmeckte. Ihr Magen verkrampfte sich wieder, so stark, dass Galle in Lenas Speiseröhre stieg.
Fabian erhob sich und öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Lena sagte: „Nicht.“
Fabian hielt inne. „Was?“
Lena setzte sich auf. Gras hing in ihren Haaren und klebte auf ihrer Haut. Überall juckte es, als wäre ihr Körper voller Ameisen. „Nicht hier … nicht heute. Ich … mir geht's nicht so gut.“
„Was soll'n das jetzt? Erst machste mich geil und jetzt sagste sowas?“
Lenas Kopf dröhnte und Fabians Stimme klang so schrill, dass es schmerzte. „Bin zu besoffen, und ich hatte da heute ein Erlebnis … also, das beschäftigt mich noch. Sorry.“
„Sorry? Mehr hast du jetzt nicht mehr zu sagen?“
„Ich mag dich wirklich sehr, ja?“ Sie berührte sein Knie. „Ein andermal gerne, okay?“
Er trat einen Schritt zurück, sodass Lena ihn nicht mehr anfassen konnte. „Ein andermal wird es nicht geben.“
Seine Nasenflügel bebten und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Lena erstarrte, wagte nicht mal zu atmen. Hier draußen waren sie allein, und niemand würde ihre Schreie hören, schon gar nicht bei der lauten Musik in der Scheune. Nichts hinderte Fabian daran, sich zu nehmen, was er wollte.
Fabian schüttelte den Kopf und machte die Hose zu. „Is' doch scheiße, echt.“ Er ging zu den Schienen und trat gegen einen Stein, der mit einem Klirren gegen das Metall knallte. Dann steckte er seine Hände in die Hosentaschen und atmete tief ein. „Ich werde nächstes Semester Jura studieren.“
„Ich dachte, das wolltest du nicht?“ Lena sprach leise, um ihn nicht wieder wütend zu machen.
„Mein Vater.“ Fabians Stimme klang nachdenklich. „Er sieht mich an, als wäre ich ein Fremder. Nein, eigentlich noch schlimmer. Als wäre ich eine einzige Enttäuschung. Ich halte das nicht mehr aus.“
„Wirst du umziehen?“
„Ja.“
„Wohin?“
„Weit weg.“ Er ging zu den Zweigen, die sie umgeknickt hatten, als sie hergekommen waren.
„Wir können ja trotzdem in Kontakt bleiben. Über What's-App oder so.“ Bevor sie es aussprach, wusste Lena schon, dass sie sich nicht melden würde. Und Fabian würde sie anschreiben, anfangs regelmäßig und dann immer seltener, bis er sich schließlich jemanden suchen würde, mit dem er tatsächlich zusammen sein konnte.
„Ja, das wäre schön“, sagte er. Dann verschwand er im Gebüsch und ließ Lena allein vor den Bahnschienen zurück.
Lena rührte sich nicht, sah vor ihre Füße, lauschte der Stille. Sogar der Wind war verschwunden und mit ihm das Rauschen des Waldes. Erst jetzt bemerkte Lena, dass ihre Hände zitterten. Sie hatte gehofft, dass sie mit Fabian zusammenkommen könnte. Nun fühlte sie sich dumm und naiv. Wie ein Kleinkind. Hatte sie sich überhaupt in Fabian verliebt? Oder liebte sie bloß die Vorstellung, eine glückliche Beziehung zu führen?
Sie winkelte die Beine an, umschlang sie mit den Armen und vergrub ihr Gesicht darin. Leise weinte sie und ihre Knie wurden feucht von den Tränen.
Sie saßen wieder im Auto und machten sich auf den Heimweg. Die Musik im Radio war leise. Ein Klavier ertönte und ein Mann sang langsam und mit tiefer Stimme über verflossene Liebe. Jule sah in den Rückspiegel. „Lena, ist alles in Ordnung?“
Sie legte den Kopf schief und schmiegte ihre Wange an die Rückbank. „Bin nur müde und betrunken. Das is' alles.“
„Sicher? Ich habe Fabian vorhin gesehen. Er war ziemlich fertig. Und deine Klamotten waren dreckig, als du wiedergekommen bist. Er hat doch nicht etwa …“
„Nein, nein. Alles gut.“
Melanie saß mit angewinkelten Beinen auf dem Beifahrersitz. „Mädels, fah'n wa zu mir nach Hause un' sauf'n weiter, o'er wie?“
Jule sagte: „Du hattest genug, meinste nicht?“
„Da geht nowas. Kommt, könnt au' bei mir pennen.“ Sie hob den Zeigefinger. „Müssen nur aufpass'n auf'n Arsch im Erdgeschoss. Der lauert, sag ich.“
Lena fragte: „Lauert?“
„Na, der guckt halt. Wenn 'ne Hübsche kommt, bringt der Müll aus. Sonst nicht.“ Sie schloss die Augen und kuschelte sich in ihren Sitz. „Nur, wenn 'ne Hübsche kommt.“ Sie kicherte. „Wichst sich bestimmt einen auf mein Facebook-Profil, der Hodenkobold.“
„Der was?“, fragte Jule.
Lena lächelte. Sie löste den Sicherheitsgurt und legte sich längs auf die Rückbank und ließ ihren Blick über die beige Innenverkleidung des Autos schweifen. Der ganze Abend erschien ihr so unwirklich. Als hätte sie die Geschichte von einer Freundin gehört und nicht selbst erlebt. Sie fragte: „Wollt ihr noch wissen, worum es in meinem Roman geht?“
Jule sagte: „Klar.“
„Hm“, machte Melanie.
„Ist eher 'ne Geschichte für Kinder. Und ein bisschen kitschig.“
Jule bog auf die Autobahn. „Nun erzähl schon.“
„Also, es geht um ein Glühwürmchen, das sein Leuchten verloren hat.“
Melanie rollte sich enger zusammen und schmatzte und fragte: „Wie kommt man denn auf'n Glühwurm?“
„Willst du's nicht hören, oder was?“, fragte Lena. Als niemand antwortete, fuhr sie fort. „Es hat sich lange nicht getraut zu leuchten, weil es Angst hatte, nicht so schön leuchten zu können wie die anderen Glühwürmchen. Und eines Tages hat es das Leuchten dann vergessen.“
„Leuchten die nicht automatisch?“, fragte Jule. „Wusste nicht, dass die sich das aussuchen können.“
„Mensch, das issen Roman“, sagte Melanie. „Hör doch einfach ma' zu.“
Lena sagte: „Die leuchten für die Paarsuche und so. Hab ich recherchiert. Na, jedenfalls leuchtet sie nicht mehr und findet so keine Glühwürmchenmänner und ist ganz allein. Lange Zeit. Aber sie hat noch Freunde und gemeinsam versuchen sie, das Leuchten wiederzufinden, versuchen alles Mögliche halt, reisen sogar weit weg. Einmal werden sie von einem Jungen gefangen und er steckt sie in ein Konservenglas. Aber der Junge ist ungeschickt und lässt das Glas fallen und die Würmchen kommen frei.“
„Wie endet die Geschichte?“, fragte Jule.
„Weiß ich noch nicht.“
„Blöd“, murmelte Melanie.
Lenas Magen grummelte wieder und diesmal stieg die Galle noch höher. „Ka… kannst du schnell rechts ranfahren?“
„Hey, kotz mir nicht ins Auto.“ Jule bremste hart.
Die Autobahn war leer, als Lena zur Leitplanke rannte, um in die Büsche zu kotzen. Sie schaffte es nicht. Auf halbem Wege beugte sie sich nach vorne und ein Schwall bräunlicher Kotze brach aus ihr heraus und klatschte auf den Asphalt. Und auf ihre Schuhe. „Fuck.“ Ihre Augen tränten und ein säuerlicher Geschmack legte sich auf die Zunge. Die Zähne fühlten sich rau an.
Jule stieg aus dem Auto und blieb vor der braunen Pfütze stehen. „Schöne Scheiße. Hey, Mel. Ich hab noch einen Müllsack im Kofferraum, bring den mal her. Und du“, sie zeigte auf Lena, „du setzt dich hin. Ich muss dir die Schuhe ausziehen. Und wehe du kotzt mich an, dann lass ich dich hier, das schwöre ich.“
Lena saß auf der Leitplanke, die sich in ihren Hintern bohrte, aber es tat kaum weh. Jule versuchte, die Schuhe von Lenas Füßen zu ziehen, ohne die Kotze anfassen zu müssen. Als etwas auf ihren Daumen tropfte, verzog sie das Gesicht und würgte. „Nächstes Mal fahr ich nicht, soviel ist sicher.“
Melanie streichelte müde über Lenas Rücken. „Lass Lenchen doch. Morgen hat se Strafe genug.“
Jule seufzte. „Ich will einfach nur noch pennen.“
Lena sah sich um. Die Lichter der Stadt durchbrachen die Dunkelheit jenseits der Autobahn. Helle und dunkle, weiße und gelbe und blaue. Aber nur zusammen erhellten sie die Nacht, erstrahlten im Einklang mit dem Mond und den Sternen, stärker als ein einzelnes Licht es könnte. „Mein Romanende“, sagte Lena. „Ich glaube, ich hab da eine Idee.“