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Lichtblick

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26.09.2002
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Lichtblick

Lichtblick

Es war noch dunkel, als sie die Augen aufschlug. Der Wetterbericht, der gerade aus ihrem Radiowecker tönte, verhieß einen weiteren kalten, nassen Wintertag. Ihr erster Gedanke war trotzdem voller Vorfreude und noch halb im Liegen musste sie lächeln. Sie freute sich darauf, jetzt aufzustehen, ins Badezimmer zu gehen. Dann würde er wieder da sein, dieser Moment des absoluten Triumphes. Es war ihr so unbegreiflich wie hochwillkommen, eine Tatsache, die sie zeit ihres Lebens erfleht und immer wieder vergeblich angestrebt hatte.

Mit Elan schwang sie sich aus dem Bett. Noch niemals zuvor hatte sie ihren schweren Körper mit solcher Behändigkeit bewegt. Seit sie ein Kind war, litt sie unter ihrem enormen Gewicht und ihrem Aussehen. Die Hänseleien und die verachtungsvollen Blicke aller "Unauffälligen", so sollte sie alle Dünnen auf Geheiß ihrer Therapeutin nennen, waren immer so mühsam zu ertragen gewesen, nie hatte sie sich daran gewöhnt. Ihre erste Diät war vom Hausarzt ihrer Mutter angeregt worden, als sie kaum sieben Jahre alt gewesen war. Damit war ein unheilvoller Kreislauf in Gang gesetzt worden, wie sie später in der Therapie erfahren hatte. Keine Diät, keinen noch so abstrusen Essensplan hatte sie seitdem ausgelassen.

Ihr Leben hatte sich schon als Kind immer mehr auf die Dos und Dont’s ihrer Mahlzeiten reduziert. Da war nie Platz gewesen für gleichaltrige Freunde. Welches andere Kind wollte schon immer über Essen, Kalorien oder Fett reden? Wer wollte sich schon mit einem dicken und daher wohl hässlichen Kind abgeben? Wer das trotzdem versuchte, prallte mehr und mehr auf ihr tiefstes Misstrauen. Ihre Einsamkeit kompensierte sie mit heimlichem Essen, es war ihre einzige Flucht vor all diesen Reglementierungsvorschriften. Und nun, als erwachsene Frau im mittleren Alter und obwohl niemand ihr mehr Vorschriften machen konnte, war dieses heimliche Essen, dieses Herunterschlingen, dieses Vollstopfen ihrer Leere längst zu einem Automatismus geworden, der zu ihrem Leben dazugehörte wie ihre Einsamkeit.
Und doch, wie seit Jahrzehnten, bildeten ihre Gedanken beim Einschlafen jede Nacht ein Gebet, zu einem Gott oder zu was auch immer, so albern, unrealistisch und infantil es ihr auch schien: "Lass mich dünner sein, lass mich ganz normal aussehen, bitte!"

Und nun war ihr Gebet erhört worden.

Das selbstquälerische Ritual, das sie jeden Morgen auf die Waage zwang und sie jedes Mal aufs neue in einen Abgrund tiefsten Selbsthasses stürzte, hatte sich seit einigen Tagen verändert.
Sie hatte es nicht glauben wollen, hatte ihre Brille aus dem Seitenfach der Handtasche geholt und sie sorgfältig blankgerieben. Die Waage hatte ein Pfund weniger angezeigt als noch am Tag zuvor. Und das war nun jeden vergangenen Tag so gewesen! Auch heute wieder, genau ein Pfund hatte sie an Gewicht verloren!
Fröhlich die Musik aus ihrem immer dudelnden Radio mitpfeifend, ganz entgegen ihrer morgendlichen Gewohnheit, zog sie sich an und bürstete dann ihr Haar. Ihre Welt war ein Stückchen heller geworden. Das Wetter war schlecht und vor Kurzem hatten Terroristen irgendeine Bombe, die aber wohl nicht detoniert war, ins Meer vor der Nordsee abgeworfen, nichts davon konnte ihren Schwung heute Morgen bremsen. Nicht einmal die Aussicht auf die Fahrt in der übervollen, muffigen S-Bahn zu ihrem eintönigen Arbeitsalltag. Sie nahm sich vor, trotz des Regens eine Station zu Fuß zu gehen, um ihre unerwartete Abnahme noch zu unterstützen. Wie lange war sie schon nicht mehr ein Stück gelaufen! Das würde ihr gut tun. Zum Frühstück schnell noch einen Keks zum Kaffee – nein – lieber einen Apfel, sie wollte nichts riskieren. Noch kauend warf sie sich den Mantel über, das Radio würde sie wie immer laufen lassen, sie hasste die abendliche Stille der Wohnung beim Heimkommen.
Sie zog die Tür hinter sich zu und warf das klirrende Schlüsselbund in die Handtasche. Sie drehte sich in Richtung der Aufzugtür, schüttelte aber über sich selbst lächelnd den Kopf und ging die Treppe hinab.
Die Stimme des Radiosprechers, die gedämpft durch die Wohnungstür drang, hörte sie nicht mehr: " ... hat einer der wissenschaftlichen Experten nun die Vermutung geäußert, dass der von Unbekannten im Meer vor Hamburg versenkte Sprengkörper das Schwerkraftfeld der Erde nach und nach außer Kraft setzt. Erste Messungen ergaben ..."

 

Hallo susafee!

Da kommt sehr viel Positives rüber. Alles wird "leicht", nicht nur der Menschenkörper. Eine Geschichte des Überwindens, des Annehmens von äußerer Hilfe, die Motivation in sich selbst, z.B. im Gebet.
Nun denn, vorwärts - aufwärts - himmelwärts, in die Welt der Unauffälligen.

Lieben Gruß schnee.eule

 

Hi susafee,

das nicht nur körperliche, sondern auch seelische Problem, mit denen sich übergewichtige Menschen täglich aufs Neue auseinanderzusetzen haben, das hast du sehr eindrücklich in deiner Geschichte heraus gearbeitet. Die Geschichte gefällt mir sehr und ist schwungvoll und nachvollziehbar geschrieben.
Das Ende finde ich allerdings nicht gelungen. Die Pointe gleitet in den eher belustigenden Phantasy-Bereich ab, das rundet deine Geschichte leider nicht wirklich ab.
Das Thema lässt ein breites Diskussionsfeld zu und bedarf keiner Pointe, um eine Kurzgeschichte abzuschliessen.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Hallo ihr Lieben!
positiv? belustigend? Da bin ich ja ganz platt!!

Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde Schelte für die Bösartigkeit der Geschichte kriegen. Da kann man mal sehen!

Wäre der Titel "Fatale Hoffnung" gewesen, was ich zuerst vorhatte, wäre das sicher deutlicher geworden.
Schließlich funktioniert nur das Messinstrument Waage nicht richtig, die Protagonistin ist keinen Deut dünner geworden ...
macht aber zunächst wieder einen neuen Anfang (daher "Lichtblick"), wobei natürlich alles wieder zerstört wird, sobald sie selbst die "Nachrichten" hört.
Aber ich merke schon, wenn man bei einer Geschichte so viel erklären muss, stimmt was nicht.
Werde mich noch mehr anstrengen mit der nächsten ...
LieGrü von Susafee

 

Liebe Susafee !

Ich denke, du brauchst nichts zu erklären versuchen, sondern mal hinschauen was geschrieben steht, in deiner Geschichte. Sieh sie dir mal als Außenstehender an.
Dass sie nicht abgenommen hat, die Nachtrichten bezeugen es, dass sie sich nur in einem schwerelosen Zustand befindet - das könnte ein guter Hinweis für Menschen sein die sich in dieser Spirale des Eigengewichts verloren hin- und herbewegen.

Denn eigentlich besteht die ganze Problematik in einer selbstgebauten Phantasiewelt. Wenn sie sich bloß mal einreden könnte für eine Zeit, dass sie so leicht ist wie die gefühlte Schwerelosigkeit es ihr vorgaukelt. Wenn sie sich mal hineinbegeben könnte in die Leichtigkeit des Seins. Diese Möglichkeitsform als gegeben zu nehmen ist der positive Gedanke den du vermittelst, sichtlich unbewusst, aber er ist da - außer du verurteilst ihn weiter zur aufgedeckten Illusion. Lass ihn doch ein bisserl weiterleben ...

Lieben GrußSchnee.eule

 

Liebe Schnee.eule,
ja, irgendwo hast du Recht ... die Ursachen sind nebensächlich – wichtig ist, dass sich niemand aufgeben darf. Hoffnung muss immer da sein.
Sehr nachdenklich
Susafee

 

Hallo Susafee,

ich fande auch, dass hauptsächlich rüberkam, wie hoffnungsvoll und positiv sich plötzlich die Einstellung der Protagonistin geändert hat. Du hast gut rübergebracht wie wichtig das Gewicht der Protagonistein für sie ist und wie ihre Psyche davon abhängt. Ich habe mit ihr mitgelitten bzw. mich mit ihr gefreut.

Der Schluss hat mich überrascht. Er war sehr zynisch. Dass die Geschichte eine solche Wendung nimmt, finde ich o.k.. Nur hätte es nicht so absurd sein dürfen.

Trotzdem ist deine Story wirklich eine gute.

LG

PP

 

Hi Ihr alle,
meint ihr, ich sollte die Schlusspointe einfach weglassen?
LieGrü von Susafee

 

Liebe Susafee!

Auf deine allgemeine Frage: meiner Meinung nach sollte der Gedanke der Schwerelosigkeit schon erhalten bleiben, aber vielleicht findest du eine andere Form ihn einzubeziehen. Vielleicht nicht so eine Fantasy-Nachrichtengeschichte erfinden, sondern einen realen Bezug herstellen, fände ich gut.

Lieben Gruß schnee.eule

 

Hi liebe Schnee.eule,
so wirklich fantasy-mäßig finde ich die Schwerelosigkeits-Bombe eigentlich gar nicht. Vor gut einem Jahr hätte man wahrscheinlich die Geschichte von zwei gezielt in Wolkenkratzer krachende Flugzeuge auch noch als Science fiction abgetan. Leider ist wohl heutzutage nichts mehr unmöglich ...
LieGrü von Susafee

 

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