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Licht, gut und billig
Nachdem sein Vater mitsamt seiner Kumpels verschwunden war, nahm Jorge das Buch von dem kleinen Kästchen, das an der Wand hängte. Ein Freund seines Vaters hatte es ein paar Minuten zuvor aus dem Kuvert gepackt und dort platziert. Er hatte es so platziert, dass das Titelbild gut sichtbar war und der rote Einband mit dem knallig gelben breiten Balken weckte sofort die Neugierde in Jorge.
Bevor er das Buch in die Hände genommen hatte, zeigte das Titelbild ein lustiges Fangenspiel zwischen einem lachenden Erwachsenen und einem ebenso glücklich wirkenden Kind. Doch jetzt, als Jorge - das Buch in den Händen - das Motiv genauer betrachtete, sah er, dass der Erwachsene scharfe Zähne und einen irren Blick hatte – also ganz und gar nicht lustig war – und das Kind schien eher panisch vor Angst davonzulaufen, als vergnügt zu spielen. „Stephen King für Kinder“ sagte die schwarze Schrift am gelben Balken, der sich über den gesamten Buchrücken erstreckte. „Vielleicht doch nicht so geeignet zum Einschlafen“, dachte Jorge bei sich, „dann eben ein bisschen fernsehen“. Und so schaltete er den alten Röhrenapparat ein und machte es sich auf dem Sofa davor bequem. Er sah sich zehn Teile seiner Lieblingsserie an, die jedoch so stark gekürzt waren, dass der Inhalt für Jorge total verwirrend war und er vor Anstrengung in einen Halbschlaf verfiel. Dass sich sein Kopf in das Haupt eines Pferdes verwandelte, schien ihn dabei nicht zu stören. Auch als ein Eimer mit silberner Farbe über sein Haupt gegossen wurde und dieses bis zum Kragen seines Hemdes einfärbte, regte er sich nicht. Alles war wie selbstverständlich für ihn.
Inzwischen saß er auch nicht mehr auf der grünen Couch in der Wohnung seines Vaters, sondern stand auf einem niedrigen Betonsockel am Eingang des kleinen Stadtparks. Jetzt streckte er beide Arme aus, weit nach links und nach rechts, und schon konnte er spüren, wie sie langsam versteinerten, genauso wie sein restlicher Körper. Eine unsichtbare Kraft drehte an seinen Händen und bog die Daumen aufwärts.
Jorges Geist verließ seinen Körper und konnte diesen nun von außen betrachten. „Was für eine hässliche Statue“ dachte er. Das war wohl auch die Ansicht mancher der Parkbesucher und es dauert nicht lange, bis am nächsten Morgen die Stadtverwaltung eingeschaltet wurde. Niemand konnte sich erklären, woher diese geschmacklose Statue mit dem silbernen Pferdekopf herkam, doch für alle war klar, dass sie wegmusste.
Etwa um die selbe Zeit – also während im kleinen Stadtpark der Frage nach dem woher und wohin der Statue nachgegangen wurde – besuchte Frau Dr. Foster den nahegelegenen Supermarkt, um sich die Zutaten für das Mittagessen zu besorgen. Der Markt war mittelgroß und knallig in seiner Aufmachung und bot die Waren zu sehr günstigen Preisen an. Kaum hatte Frau Dr. Foster die automatischen Schiebetüren am Eingang passiert, fiel ihr Blick auf einen Warenständer aus Metall. Darin lagen Schachteln mit einer Länge von cirka 30 Zentimetern, die etwa nur halb so breit und hoch waren. Die am Ständer befestigte, grellgelbe Produkttafel besagte: „Licht - gut und billig“.
Auf der Verpackung war ein Mädchen zu sehen, welches auf einer Wiese stand und in der Hand ein nach oben gerichtetes, längliches Etwas hielt. Aus diesem Etwas sprühten Lichtstrahlen hervor und tauchten den restlichen Teil der Verpackung in zartes Gelb. Das Mädchen auf der Verpackung lächelte. Frau Dr. Foster war verwundert, „Vermutlich etwas solarbetriebenes“, dachte sie bei sich und langte zu, „das werde ich mir heute Abend genauer ansehen.“
Im Laufe des nächsten Tages wurde eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Frau Dr. Foster war nicht in der Schule erschienen und auch telefonisch konnte sie nicht erreicht werden. Die verständigte Tochter fuhr vergebens zur Wohnung ihrer Mutter. Sie war es auch, welche die Polizei verständigte.
In letzter Zeit verschwinden so viele Leute. Spurlos.