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Liberation
Leise und vorsichtig schließt er der Tür zum Badezimmer von Innen ab. Die Badewanne füllt sich mit Wasser, dessen Temperatur sich perfekt am Grenzpunkt zwischen angenehmer Hitze und leichtem Schmerz befindet. Seine Hände und Füße sind kalt und schwitzen leicht. Normalerweise ein Zeichen von Nervosität, doch nervös ist er nicht mehr. Kann er nicht mehr sein. Er fühlt sich ausgebrannt, doch empfindet er einen inneren Frieden, wie – er durchforscht sein Gedächtnis nach vergleichbaren Zuständen – er ihn noch nie verspürt hat. Doch, da es gab da ein paar Situationen, welche ihm eine Vorstellung von Seelenfrieden bescherten, doch nicht vergleichbar, sie waren flüchtig, verebbten jedesmal und hinterließen ein Gefühl des Mangels und die Frage, warum es kein permanenter Zustand sein kann, warum er so vergänglich ist, warum die Stimmung so zerbrechlich sein muss. Ein kleiner Stein löst abermals die Lawine aus und verschüttet das gewonnen geglaubte Selbstgefühl, je mehr er festhält, desto schneller entgleitet es ihm, rinnt durch die Finger und hinterlässt eine Ahnung, eine bittere Erinnerung an schönere Zeiten, die nicht zurückkommen können, an ein besseres Ich, verloren in der Asche des Feuers, dass einst in ihm brannte. Das Rad dreht sich immer nur vorwärts. Er fragt sich, wie schon so oft in der Vergangenheit, warum er nicht fühlen kann wie andere, nicht sein kann wie sie oder wie er sie zumindest in seiner Phantasie sah, nicht fähig war teilzunehmen am Wunder des Lebens. Dass es ein Wunder ist, weiß er. In den wenigen klaren Momenten seines Lebens, die ihm vergönnt waren, vom Licht erhellt und der Nebel von eiskaltem Lufthauch gelichtet, wenn ihm ein kristallklarer Blick auf die allumfassende Existenz möglich war, wusste er, dass die Schöpfung unbeschreiblich war, die schiere Gegenwart von Materie, die im stetigen Austausch von Energie mit ihrer Umwelt sich selbst erhält und über Äonen die Fähigkeit erlangte, sich seiner selbst bewusst zu werden. Es ist trivial und doch, auf einer anderen Ebene, die die tiefer liegt eine nicht zu beschreibende Tatsache, die der menschliche Verstand zu fassen nicht im Stande ist. Schaut man zum Mond, weiß man intellektuell von seiner Beschaffenheit als Himmelskörper, es ist nicht einmal unbedingt weiter interessant, doch vergegenwärtigt man sich diesen Umstand, dass ein gigantisches Objekt, dessen Ausmaße das reale Fassungsvermögen übersteigt, direkt da oben ist, so weit entfernt, dass kaum ein Mensch ihn jemals erreichen wird, so gerät der geneigte Beobachte ins Staunen. Er sieht nicht mit seinem Verstand, er tut dies auf gefühlsmäßiger Ebene und versteht, dass es Nichts zu verstehen gibt. Es muss kein gigantischer Himmelskörper sein, der diese Stimmung hervorruft, es reicht oft auch der Blick auf einfachere Dinge, auf einen Baum, eine Blume, ein Insekt, einen Stein. Es ist völlig gleich, denn das Wunder steckt in allem was ist. Alles ist wunderbar. Man muss es nur erkennen.
Er weiß um diese Gefühle, doch kann er sie seinem Gedächtnis nur in Form von abstrakten Worten, von emotionslosen Erinnerungen entnehmen, er erinnert sich, aber er spürt es nicht mehr. Das Bild ist ausgebleicht. Die Wanne ist gefüllt. Er zieht seine Kleidung aus und betrachtet sich ein letztes Mal, bevor die Wärme des Wassers ihn heimsuchen kann, sein Spiegelbild. Sein Erscheinungsbild hat ihn seit jeher zwiegespalten, er wusste nie, ob er sein Äußeres positiv oder negativ bewerten sollte. Erst spät hatte er herausgefunden, dass seine Attraktivität und seine Selbstwahrnehmung maßgeblich von seinem inneren Befinden abhängen. Ein Zusammenspiel aus Zufriedenheit mit sich selbst und der Energie, die dadurch in Fluss gerät, bewirken eine Ausstrahlung, die von dem von der Gesellschaft vorgegebene Ideal abweichende optische Defizite gut zu kaschieren imstande war. Zu einem großen Teil kommt Schönheit eben doch von Innen, auch wenn das äußere dem Ganzen einen gewissen Rahmen setzt, so zumindest in unserer konditionierten Wahrnehmung. Ihm blickt ein hagerer junger Mann von 25 Jahren entgegen, drahtig. Seinem Knochenbau konnte man entnehmen, dass aus ihm einmal mehr werden sollte, doch ein gediegener Appetit und die wenige sportliche Betätigung in seinem Leben ließen dies nicht zu. Lange Gliedmaßen, dicke Knie, große, jedoch schmale Hände. Der Begriff „Akademikerhände“ wurde schon als passender dafür verwendet. Er ist schmal, aber nicht dürr, der geringe Körperumfang bewirkt eine Definition der mageren Muskeln, die er als angenehm, fast schon ästhetisch empfand. Trotzdem zeigt er ungern seinen nackten Oberkörper; helle, ungebräunte Haut zeichnet den Umriss eines T-Shirts ab. Es ist Ende Sommer. Auf dem oberen Rücken befindet sich die unregelmäßige Struktur einer von Akne gezeichneter Körperoberfläche, regelmäßig tauchen tiefliegende, entzündete Pickel auf die er abgrundtief hasst, jedoch gleichzeitig froh ist, dass er sie an diesen Stellen zumindest verdecken kann. Ihm blicken große, melancholische blaue Augen entgegen, schläfrig und matt, mit langen Wimpern, die auch einer Frau gut gestanden hätten. Überhaupt hat er ein recht androgynes Erscheinungsbild. Sein Mund ist voll, sinnlich, die Mundwinkel leicht nach unten gerichtet. Er hat hohe Wangenknochen, die Wangen sind nicht voll, aber auch nicht ganz eingefallen. Die Nase groß und durch einen schon länger zurückliegenden Bruch leicht schief, was aber nicht sofort auffällt. Seine Haut recht fahl und bei einem Blick aus der Nähe unrein; selten gab es Zeiten in seinem Leben, in welchen nicht wenigstens ein Pickel irgendwo in seinem Gesicht zu finden war. Er hat die Ursache ihres Auftretens nie gänzlich herausfinden oder beseitigen können. Die Stirn ist hoch, wird jedoch von borstigem, dichtem, aschblonden bis braunem, lockigem Haar verdeckt, das in einer Art Tolle bis fast in sein Gesicht hineinhängt. Kleine Geheimratsecken haben sich schon gebildet, doch zu dem Zeitpunkt nicht der Rede wert. Mit Gesichtsbehaarung wurde er nicht gesegnet, auch wenn er sich einen Bart so sehr gewünscht hatte, nur ein kleiner Flaum verdunkelt Kinn und den Bereich über der Oberlippe. Damit hatte er sich irgendwann abgefunden. Im Allgemeinen würde man ihn nicht auf 25 Jahre schätzen, eher Jünger, der Rekord liegt bei 17. Wenn er lacht, sieht man allerdings an ersten sich bildenden Falten, dass das Leben doch seine Spuren an ihm hinterlassen hat, dass er gleichzeitig nie richtig ausgewachsen und doch vorzeitig gealtert ist.
Er presst die Lippen zusammen, nickt seinem Spiegelbild zu, ein Akt der stillen Anerkennung für die Zähigkeit dieser Person, die ihr Leben lang die meiste Zeit mit sich selbst im Krieg gewesen ist und im Begriff war zu verlieren, aufzugeben, sich schließlich fallen zu lassen und wendet sich ab, will endlich die Wärme des Wassers spüren, das seinen Körper wohlig umschließt. Zurück in den Uterus, entspannen und alles von sich abfallen lassen. Es brennt zunächst, doch bald stellt sich ein körperliches Wohlgefühl ein, alle Muskeln werden weich, die Augenlider sinken auf Halbmast, fast schon stöhnend atmet er im Augenblick des Hineingleitens aus, als entledige er sich damit gleichzeitig jeglicher Spannung die er in seinem Leben angesammelt hat. Es ist ein angenehmes Gefühl. Alles soll so komfortabel wie nur möglich sein, um in den vollen Genuss dessen zu kommen, was er lange schon vorbereitet hatte, im Geiste so oft durchgespielt, so viele Möglichkeiten in Erwägung gezogen und sich letztendlich für diese entschieden hat, da sie ihm als die angenehmste erschien. Er schaut zur Seite. Auf dem Rand der Badewanne, in einer Vertiefung, die als Ablage für Badeutensilien dient, erblickt er das Werkzeug, dass ihm für seinen Zweck dienlich sein soll. Eine Ahnung von Freude bahnt sich durch die allgegenwärtige Taubheit und blitzt für einen Moment in seinem Bauch auf. Purer Hedonismus ohne schlechtes Gewissen, irgendwie fühlt er, dass er sich das verdient hat.
Ein letztes Mal bevor er zur Tat schreitet geht er in sich, schließt die Augen und erinnert sich an dem Menschen, der er war und geworden ist. Ein vielversprechendes fröhliches Kind, hochintelligent, lernbegierig, mit vielseitigem Interesse und Potenzial entwickelt sich nach und nach zu einem introvertierten Träumer, der seinen Illusionen erliegt und seine mannigfaltigen Möglichkeiten im Fluss der Zeit an sich vorbeigleiten lässt. Eine dicke Knospe im Blumenbeet, die niemals vollständig aufgeht, sondern sich nur halb öffnet und um sich herum betrachtet, wie das Feld erblüht, und daran zugrunde geht. Reue und Scham bestimmen sein Leben, die Selbstverachtung dominiert und die Hoffnung auf Veränderung, die nicht eintritt, ist die letzte, immer schwächer werdende Kraft, die ihn antreibt. Er war es Leid, die Augen immerzu auf einen unbestimmten Punkt am Horizont der Zukunft zu richten, wohlwissend, dass er ihn niemals erreichen konnte.
Irgendwann hatte er für sich den Schluss gezogen, dass für jeden Menschen ein gewisser Grundlevel an Lebensglück und –qualität vorgesehen sein muss und man sich immer alternierend um diese Basis bewegte. Das Auf und Ab des Lebens erlebt jeder, doch der Mittelpunkt befindet sich auf verschiedenen Niveaus. Diese stehen mehr oder weniger fest, sollten sie änderbar sein, dann deutlich leichter nach unten als nach oben, was nur den wenigsten wirklich gelingt.
Sein Grundlevel fing zunächst gar nicht einmal so niedrig an, denkt er sich, doch hat er sich im Verlauf seines Lebens stark nach unten bewegt, so stark, dass seine luftigsten Höhen immer noch unter dem dessen lagen, was er als grundlegend menschenwürdiges Normalglück bezeichnete. Eine Sackgasse, die seine gesamte Energie verschlingen würde, aus diesem Zustand wieder herauszukommen.
Am Ende dieses Gedankenganges öffnet er die Augen mit wissendem und abgeklärtem Blick, jeglicher Zweifel ist gewichen. Er greift neben sich zu dem Tütchen und öffnet es, nimmt die zwei Gegenstände heraus. Ein kleines Braunglasfläschchen, welches ein paar Mililiter einer klaren Flüssigkeit enthält, in welcher er, sorgfältig abgemessen, 130 Miligramm Methadon Hydrochlorid, einem opioiden Pharmazeutikum, welches normalerweise zur Substitution von Schwerstabhängigen verwendet wird, aufgelöst hat, und eine Spritze, eine sehr schmale mit winziger Nadel, die ca. 3 Mililiter fassen konnte. Die Idee kam nicht von ungefähr, denn diese Prozedur hatte er schon öfter durchgeführt. Er ist mit der Abfolge vertraut, auch wenn es schon einige Zeit her ist, seit er es zuletzt getan hatte.
Jetzt jedoch sollte es das letzte Mal sein.
Vorsichtig öffnet er den Schraubverschluss des Braunglasfäschchens und legt ihn auf den Rand der Badewanne, nimmt die Spritze und hält die Nadel in die klare Flüssigkeit, hält sie etwas umständlich in einer Hand und drückt mit dem Daumen den Kolben fast bis zum Anschlag nach oben. Die gesamte Flüssigkeit befindet sich nun in diesem kleinen Zylinder. Für einen kurzen Augenblick wird ihm die Macht, die er in der Hand hält, die in dieser winzigen Menge Substanz enthalten ist bewusst und erfährt einen Hauch der Faszination, die ihn nochmals staunen lässt, diesmal jedoch nicht über die Existenz selbst, sondern über ihre Fragilität, denn was er hier sah, würde sie unwiderruflich auslöschen. Es besaß eine düstere Schönheit, die letztendliche Erlösung einfach so in materieller Form vor sich halten zu können, so klein und doch so wirkungsvoll, so trivial und doch gleichzeitig in seiner Eleganz fast unwiderstehlich. Um die Flüssigkeit innerhalb der Spritze von Blasen zu befreien dreht sie mit der Spitze nach oben, schnippt einige Male mit dem Zeigefinger dagegen und presst die überschüssige Luft aus ihr heraus.
Die Wärme des Badewassers hat den Vorteil, dass die Gefäße sich weiten; die Venen an seinem Arm treten deutlich hervor und es war nicht schwer die dickste, die er finden konnte zu treffen. Die Nadel dringt durch die Haut, ein kaum spürbarer Schmerz, tiefer, bis sie auf einen zweiten Widerstand trifft, der kurz darauf nachgibt. Dies ist das Zeichen dafür, dass er an der richtigen Stelle ist. Um sich Gewissheit zu schaffen zieht er den Kolben leicht nach oben. Die kleine, dunkelrote Blutfontäne, die in die Flüssigkeit eindringt und sich mit ihr vermischt, gibt ihm die Bestätigung. Ein geradezu malerischer Anblick, wie die Essenz des Lebens sich mit dem tödlichen Gift erstmalig berührt, küsst, ineinander übergeht und eins wird. Die Nadel steckt in der Vene. Kurz vor dem Punkt, an dem es kein Zurück gibt hält er inne und schaut nach Innen. Doch da ist Nichts, kein Zweifel, keine Angst. Er hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, ist ganz langsam, Stück für Stück gestorben und wandelt nun als Toter unter den Lebenden. Dies ist nun nur noch der Abschluss, der ihm die Integrität seines Befindens bewahrt.
Er atmet ein und hält die Luft an. Die Zeit steht still. Er ist vollkommen ruhig, fühlt die langsamen Schläge seines Herzens, die Wärme des Wassers, die Feuchtigkeit der Luft, riecht den Duft des Badewassers, hört das leise Hintergrundrauschen des Windes, der draußen durch die Blätter der Bäume weht, das Ticken seiner Armbanduhr. Alle Eindrücke sind voll da, gleichzeitig, in einer unwahrscheinlichen Intensität. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er selbst voll da, hier und jetzt mitten in diesem Moment.
Er drückt ab.