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Level Eclipse
Level Eclipse
Noch einen Mojito. Sue ließ sich in die tiefroten Polster sinken und verschwamm mit der Dunkelheit und dem Plastik, das leise quietschte. Die Musik wob sie tiefer hinein als zuvor. Sie hatte sich daran gewöhnt, dem Beat zu folgen. Noch ging ihr Atem stoßweise, aber wie immer würde sie schnell runter kommen.
Sie hatte aufgehört, die Gläser zu zählen, die Getränke zu wählen. Letztendlich war es ohnehin egal, es war alles gleich. Sie hatte es sich ganz anders vorgestellt. Als eine der Ersten, die hergekommen waren, hatte sie sich mit dem Nimbus der Freiwilligkeit umgeben. Hatte geprahlt, sie könne gehen, wann immer sie wollte. Aber das fehlende Wohin hatte diesen Vorsatz bereits von Anfang an im Keim erstickt. Der Stolz darauf hatte sich in der Dunkelheit der letzten Jahre abgenutzt, bis er nur noch matte Politur auf blasser Haut war.
Der Strohhalm gab vernehmliche Geräusche von sich. Sie hob nur kurz zwei Finger und der Barkeeper hielt die Zapfpistole in ihr Glas. Zischend füllte es sich mit trüber Flüssigkeit.
Mojito in Ewigkeit, Party als Religion, Alkohol als Priester, das Paradies mit einem Schirmchen aus Papier. Die Erlösung erwartet dich am Ende dieser Nacht. Früher war sie nicht zynisch gewesen, aber das Leben buchstäblich ohne Aussicht hatte alles zur Unkenntlichkeit verzerrt.
Sie sah dem Jungen in der schmucken Uniform nach, der zur nächsten Gruppe herübereilte, die Zapfpistole sportlich im Anschlag. Er arbeitete, also würde er am Ende seiner Schicht in den Lift steigen und ein paar Stunden Normalität einsaugen. Licht und Luft und Freiheit, die er nur durch Arbeit verdienen konnte. Sue hatte sich dagegen entschieden, als Entscheidung noch möglich war und bevor sie verstand.
Sie stieß den Strohhalm tiefer in die Flüssigkeit. Wenn sie aufhörte zu trinken, würden sich die Gedanken aus der Musik herausschälen und die Nacht übernehmen. Das wusste sie zu verhindern. Aber die grellbunten Plakate hatten damals den Weg ins Verderben zuckersüß gepflastert. Jetzt ertränkte sie die Fragen in Cocktails.
Fanfaren ertönen blechern und die Menge tuschelt aufgeregt. Auf dem Podium tritt ein Mann in Uniform an das Mikrophon und räuspert sich. Nach dem Einzug in die neue Welt, werden die neuen Regeln verkündet und Sue sieht sich vorn stehen. Direkt an der Absperrung. Die Regeln lassen nun die Wahl, so ist das in der neuen Welt, in der die Strahlung gefiltert und die Luft gereinigt wird, sodass ein Leben wieder möglich ist.
Sie hissen über dem Podium grellbunte Plakate. Level Eclipse, die Antwort auf alle Gebete. Party ohne Ende, Leben ohne Arbeit und Drinks ohne Limit. Sue springt aus der ersten Reihe hervor, geradewegs über die Absperrung und führt einen Freudentanz auf, wirft sich auf eines der Plakate, das noch am Boden liegt. Sie wälzt sich über die Palmen und die pinkfarbene Schrift. Ja, sie ist dabei. Die neue Welt hat trotz aller Skepsis jetzt schon gewonnen. Aus sengender Hitze in ein Leben voller Freiheit und Vergnügen, aus verdorrtem Niemandsland in den Garten Eden. Sie zögert keine Sekunde.
Immer mehr junge Leute rennen auf den großen Platz vor dem Lift, stimmen in den Jubelgesang mit ein. Als die Kabine sich öffnet, fühlt Sue die Gänsehaut. Entweder liegt es an der kühlen Luft, der ersten kühlen Luft ihres Lebens, oder es ist die Erwartung.
Sue rührte mit dem Strohhalm durch die trübe Menge in ihrem Glas. Dummheit wird bestraft und sie hatte sich selbst verurteilt. Die Plakate, die Reden und Fanfaren hatten dazu beigetragen, aber den Todesstoß hatte sie sich selbst versetzt. Die Fakten waren offensichtlich, von der grellen Sonne der alten Welt bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, aber sie hatte die Augen vor der Dunkelheit verschlossen, falls das überhaupt möglich war. Beim Einzug in die neue Welt hatte sie eine einzige Entscheidung zu treffen und sie hatte sich gegen die Arbeit entschieden. Keinen Gedanken daran verschwendet, dass Arbeit Sonne bedeutete und Sonne hier nicht mehr den Tod.
Level Eclipse war mehr als nur ein Club, eine Party, Level Eclipse war das Leben. Sue schauderte. Dabei war es nicht mehr als ein Warenlager. Schon seit Jahren schickten sie diejenigen hinunter, für die es keine Arbeit gab, die oben keinen Platz mehr fanden. Davon gab es mehr und mehr. Die Zeit der Palmen auf Plakaten war vorbei. Aber noch tanzten die Unermüdlichen zu den faden Rhythmen und tranken bunte Cocktails ohne Unterlass. Niemand wollte den Verfall des Garten Eden sehen, der lichtlos vor sich hinwelkte, Sue am aller wenigsten.
Während man oben schuftet, feiert die Menge in Eclipse dauerhigh und mit blasser Haut in der Dunkelheit. Kostenlos und auf Rechnung der Gesellschaft, die für sie keinen Platz verschwendet.
Was zuerst wie das Paradies wirkt, zeigt bereits nach einigen Wochen seine Dornen. In die ewige Dunkelheit verdammt, weil der Platz nicht für alle reicht. Anstelle von Luft nur recycelten Sauerstoff, anstelle von Schmetterlingen Stroboskopblitze, das Leben ist nicht gerecht. Sue hat es satt, aber lange sagt sie nichts. Freiheit ist etwas, an dem sie sich festhalten muss. Auf diese Art verbringt sie Jahre, die sie nicht zählt. Solange sie den Kopf erhoben trägt, ist sie die Prinzessin dieser Welt, eine Weile lang funktioniert das sogar.
Hinter in der großen Halle wurden Stimmen laut. Aber es klang aufgeregter, als sonst. Dieses Mal war es kein Streit um die besten Plätze am Lift. Sue hatte es aufgegeben, sich zu streiten. Es war sowieso nicht möglich, durch den Lift zu entkommen. Viele hatten es versucht, es war aussichtslos. Auch der Lufthauch, der herauswehte, machte nichts als Hunger auf mehr, er stillte die Sehnsucht kein bisschen.
Nur undeutlich konnte sie aus ihrem Polster heraus die Menge um den Aufzug herum erkennen. Die Männer in Uniformen, die den Lift bewachten, hielten die Gewehre vor der Brust und teilten die Menge. Irgendjemand kam herunter. Sie ließ sich zurücksinken. Noch ein paar Überflüssige mehr würden das Level auch nicht füllen, keinen neuen Lebenshauch bringen. In ein paar Wochen würde auch ihre Haut blass und dünn scheinen. Solange sie noch Menschen schickten, war alles beim Alten. Erst wenn es aufhörte, würde sie sich Sorgen machen müssen. Und wenn die Cocktails versiegten.
Die Männer trugen zerfetzte und dreckige Kleider, ihre Haare waren lang und zottelig. Um ihre Hände war etwas gewickelt und sie standen dicht beieinander. Es war egal, nur ein weiterer Moment in der Ewigkeit, der sie nicht berührte. Sie wandte sich ab.
Doch dann fielen Schüsse, Staub rieselte herab. Die Wache warf klirrend einen Schlüsselring in die Gruppe der Männer. "Nennt es Freiheit, wenn ihr wollt." Dann zogen sie sich schnell in den Lift zurück und schlossen die Türen.
Die Männer balgten sich knurrend und strampelnd um den Schlüsselring. Die Menge drängte näher heran. Der größte von ihnen hob seinen Kopf, und fletschte die Zähne, während er die Ketten an seinen Handgelenken rasseln ließ. Sue sog die Luft hörbar ein. Sie schickten ihre Verurteilten herunter und nun machten keinen Hehl mehr daraus.
Aus dem Lautsprecher dröhnte "Hotel California". Sue schloss die Augen, drückte sich tiefer in die Polster und sog an ihrem Drink.
Mojito in Ewigkeit, Erbarmen.