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Level 6
Finished: Level 5 - Das Land der Drachen
35 Spieler
1 Leben
98 Punkte
10 Powerriegel
1 Powerpilz
Start Level 6 - Die große Fahrt
***
Der kleine Junge traute seinen Augen nicht, als der lang herbeigesehnte Jingle ertönte. Endlich waren sie ihrem Ziel einen Schritt näher. So viele Nächte hatte der fünfjährige Knabe mit seinem Vater durchgespielt, um das Level zu knacken. Der Junge gähnte vor Erschöpfung, als er aus seinen verwobenen Gedanken über Koopas, Drachen und Schlösser gerissen wurde.
„Ich bin wirklich stolz auf dich, mein Sohn“, sagte der glatzköpfige Vater, dessen Körper mit zahlreichen Tattoos geschmückt war.
„Zur Belohnung teilen wir uns jetzt einen Powerriegel und ich esse den letzten Pilz, weil besonders ich als Spieler 1 bei Kräften bleiben muss. Die Energie brauchen wir für Level 6. Level 6 ist nämlich besonders hart. Wir gehen auf große Fahrt.“
Der Mann aß einen Pilz, ging auf die Knie und begab sich auf die Augenhöhe des Kindes. Er kramte aus der Tasche seiner befleckten Jeans einen kleinen alten Schokoriegel, dessen Inhalt zerbröckelt war, hervor und gab dem Jungen ein Stück ab.
„Hier. Iss! Der gibt dir eine Extraportion Energie. Es wird leider lange nichts mehr zu essen geben. Aber wenn wir Level 8, das Land der Königin, geschafft haben, dann gibt es so viele Riegel, wie du dir nur erträumen kannst. Es ist ganz wichtig, dass du jetz bei Level 6 sehr gut aufpasst. Viele Spieler sind hier schon gescheitert. Aber uns passiert das nicht. Wir sind gut vorbereitet.“
Der Mann umarmte liebevoll seinen kleinen zerbrechlich wirkenden Sohn. Man merkte, dass beide eine besondere Aura umgab, die aus Vertrauen und Liebe bestand.
Der Junge lächelte erschöpft, aber fröhlich. Der Mann umarmte den Jungen ganz vorsichtig und küsste mehrmals seinen Kopf. Dieser setzte sich kurze Zeit später auf den Boden und schloss entkräftet seine Augen.
„Oh nein. Nicht einschlafen!“
„Papa, aber ich bin doch müde. Ich will ins Bett. Lass mich doch bitte schlafen!“
„Ins Bett? Kurz vor Level 6? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du musst jetzt konzentriert sein. Gleich geht es weiter. Eine Aktion müssen wir noch ausführen. Danach können wir den Spielstand abspeichern. Wir wollen doch Level 8 erreichen: Das Land der Königin. Jetzt halte dich an die Regeln, damit wir das Spiel gewinnen. Wir haben doch schon so viele Levels geschafft. Du bist der jüngste Spieler aller Zeiten, der in diesem Spiel so erfolgreich war. Willst du das wirklich aufgeben? Alle Spielpunkte wären verloren! Sieh doch! Wie ich es dir versprochen habe: In Level 6 sind alle deine Fußballidole anwesend. Sie sind aber auch gleichzeitig deine Konkurrenten, bis auf Müller. Dort drüben. Sie wollen ebenso in das Land der Königin. Bis jetzt läuft doch alles nach Plan. Du darfst den Plan nicht außer Augen lassen. Ich weiß, was ich tue.“
Der Mann drückte den Jungen liebevoll und streichelte seine Wangen. Dieser schaute sich um. In der Tat waren sie alle da. Alle, die sein Vater versprochen hatte. Müller, Neuer, Messi, Ronaldo, Bale, Neymar und viele andere. Er kannte sie aus dem Fernsehen und aus Computerspielen. Nun waren sie unmittelbar in seiner Nähe. Sie sahen etwas anders aus, als er es gewohnt war, aber aufgrund seiner Müdigkeit dachte der Junge darüber nicht allzu lange darüber nach. Er rieb sich die Augen. Nur einige Spieler trugen kein Trikot. Der Junge freute sich mit offen stehendem Mund und umarmte glücklich seinen Vater.
„Bist du bereit, mein Sohn?“
Der Junge nickte.
„Dann starten wir mit Level 6.“
„Ja! Ich gebe nicht auf!“
Der Vater betätigte die Play-Funktion seines Handys und der Videospieljingle ertönte erneut. Beide schauten auf Müller, welcher sich gerade ein intensives Duell mit Messi geliefert hatte. Die anderen Spieler tummelten sich um die beiden, so dass Müller und Messi für einen Moment nicht zu sehen waren. Danach war Messi verschwunden und Müller machte eine Ansage an alle anwesenden Spieler.
„Ich bin nun der neue Chef. Ahmad wollte uns betrügen und uns nicht nach Lampedusa bringen, obwohl wir ihn dafür bezahlt haben. Er wollte uns in das falsche Land bringen und dachte, wir merken das nicht!“
Die anderen Männer klatschten und jubelten. Der Junge blickte sich um. Messi war nicht mehr zu sehen. Müller zwinkerte dem Jungen und seinem Vater zu. Er war der einzige neben seinem Vater, der sich die ganze Zeit um den Jungen zu kümmern schien. Müller wandte sich an den glatzköpfigen Mann und übergab ihm einen roten Gegenstand. Der Vater nahm diesen entgegen und sprach zu seinem Sohn.
„So. Gleich geht’s los. Hier, zieh diese Zauberweste an. Sie ist magisch und hilft dir dabei, dass wir schnell und sicher ankommen. Damit kannst du sogar schwimmen. Bist du bereit für Level 6? Sind Energieriegel und Zauberweste aktiviert, Soldat?“
Der Junge nickte.
„Aber Papa? Wo ist denn deine Weste?“
„Hier in dem Level sind nicht so viele Westen versteckt. Einige der anderen haben schon welche gefunden. Aber keine Sorge, ich bin doch groß. Ich schrumpfe höchstens auf deine Größe, wenn ich geschwächt werde. Hauptsache du bist geschützt. Du bist klein.“
Der Mann öffnete seinen Rucksack, der bis zum Rand gefüllt war.
„Siehst du?! Hier sind jetzt keine Westen und auch keine Pilze mehr drin. Nur noch Zaubertrikots für die Fußballer, damit du sie besser erkennst und einige Powerriegel. Wir müssen in Level 6 vorsichtig mit unserer Energie umgehen.“
Der Vater drückte noch einmal auf das Display seines Smartphones. Der Jingle ertönte erneut.
„In Ordnung, Müller! Bring uns in das Land der Königin! Level 6 kann beginnen“, rief der Vater.
Der Vater nahm seinen Sohn für einen Moment zu Seite und flüsterte in sein Ohr.
„Und du, halt dich bitte an Müller. Ich kenne ihn schon etwas länger. Er hat mit mir schon viele Spiele gegen den Drachenkönig gespielt und er ist sehr clever. Er spielt in unserem Team und er wird dir helfen, falls mir etwas zustößt. Nur ihm darfst du vertrauen. Er hat auch unsere Route geplant und mich hier her bestellt, weil er noch freie Plätze für uns hatte. Die normalen Routen wären für uns zu gefährlich gewesen, weil uns der Drachenkönig dort gefunden hätte. Müller und ich gehören zu seinen stärksten Gegnern und deshalb hat er uns verfolgt. Aber diese Route scheint der Drachenkönig nicht zu kennen. Also vertraue bitte Müller. Er gehört zu den wenigen, die gut Englisch sprechen. Das kann noch von Vorteil für uns sein. Verstehst du?“
Der Junge schaute den Vater etwas zögerlich an und nickte.
„Aber mach dir keine Sorge, wenn du dich an alle Regeln hältst, wird dir nichts passieren. Bis jetzt läuft alles nach Plan, oder? “
Für einen Moment schaute der Vater besorgt auf die Rettungsweste des Jungen.
„Und selbst wenn mir was passiert, darfst du nicht aufgeben. Denn das Spiel ist so ausgelegt, dass es reicht, wenn einer von uns beiden überlebt. Wenn diese Person dann das Land der Königin erreicht, dann sind Mama, du und ich wieder vereint. Wirst du also alles geben, nie deinen Mut verlieren und fröhlich weiterkämpfen, egal was in diesem Spiel passiert?“
„Ja, Papa!“, sagte der Sohn mit einem kleinen Lächeln.
***
Ein paar Stunden waren vergangen. Der Junge merkte nicht, wie Ronaldo und Neymar ihn und seinen Vater mit runzelnder Stirn anschauten, als er Neuer nach einem Autogramm fragte. Neuer blickte den Jungen irritiert an, signierte aber auf dem Shirt des Jungen. Neymar zog demonstrativ sein Trikot aus und warf es auf den Boden.
„Hey, du Möchtegern- Scofield! Du schaust wohl zu viel Fernsehen! Willst du deinem Sohn nicht bald mal die Wahrheit sagen? Wie lange soll das ganze Spiel eigentlich noch weitergehen? Wir sind auf der Flucht und nicht auf einer Kreuzfahrt. So toll ist das Land gar nicht. Ich war vor ein paar Jahren auch schon einmal da und man hat mich wieder nach Aleppo geschickt. Und ich lese gerade, dass der Zaun in Österreich immer höher und größer wird. Viele kommen gar nicht mehr rein!“, rief Neymar, der nun etwas auf seinem Smartphone las.
„Papa, von einem Zaun hast du doch nie etwas gesagt!“, seufzte der Sohn nervös.
Der Vater bückte sich zu seinem Sohn herunter und drückte ihn fest an sich.
„Hei! Neymar hat doch gar keine Ahnung. Er hat sich die Spielregeln vorher nicht genau angeguckt! Es gibt keinen Zaun! Oh Mann, er wird sowas von verlieren, der arme Trottel“, sagte der Vater mit einem beruhigenden Lächeln.
Der Vater legte seinen Zeigefinger auf seine Lippen und begab sich schnell in Richtung des immer weiter rufenden Neymars. Er gab ihm vorsichtig einen Geldschein, schrie ihn kurz an und kehrte zu seinem Sohn zurück. Widerwillig zog Neymar daraufhin das Trikot wieder an.
„Papa, warum gibst du Neymar unsere Punkte? Wir hatten doch fast schon 100!“
„Ganz einfach, mein Junge. Das Überleben in diesem Level, aber auch in Level 7 und 8 hängt davon ab, dass wir alle heil durchkommen, auch wenn sie unsere Konkurrenten sind. Wir müssen zusammenarbeiten wie Mario und Luigi. Wenn einer hier einen Fehler macht, könnten wir beide unsere Leben verlieren. Deshalb musste ich ihn mit unseren Punkten stärken.“
„Achso!“, sagte der Junge. „Aber was meint er damit, dass es im Land der Königin gar nicht so toll ist?“
„Lass dir nichts einreden! Er will nur, dass wir vorher aufgeben, damit er es nicht mit uns teilen muss. Das Land der Königin ist wunderbar. Ich war auch schon einmal da und ich weiß, dass er lügt.“
Der Junge schaute sich auf dem Boot noch einmal genau um.
„Warum sehen die Spieler eigentlich anders aus als im Fernsehen?“
„Das ist doch klar. Weil sie vom Drachenkönig verzaubert wurden.“
„Kommen daher auch die Streifen in deinem Gesicht?! War das auch der Drachenkönig, der dich im Verlies verzaubert hat?“
Der Junge starrte auf die zahlreichen Narben des Mannes am Hals und im Gesicht. Dieser lächelte mit Tränen in den Augen den Jungen an und streichelte seine wuscheligen Haare, um ihn zu beruhigen.
„Ja.“
***
Nach zwei Tagen in Level 6 wachte der Junge im Gummiboot auf. Es war bereits dunkel und die blitzenden Sterne am Himmel sowie der Vollmond wurden langsam von Wolken bedeckt. Der Junge sprang in die Luft. Er hüpfte mehrmals auf und ab. Mit seinen Armen streckte er sich nach den Sternen, die allmählich verschwanden. Das Boot begann zu wackeln. Der Junge zog an der Jacke des Vaters, der immer noch schlief.
„Papa! Ich komme nicht heran. Ich bin zu klein! Du musst das machen. Wir brauchen doch die Energie. Komm schon! Wach auf! Mit den Sternen sind wir unbesiegbar und die Cheep- Cheeps, Bloopers, Urchins, Koopa- Schildkröten und die Skelettfische, die sich im Wasser befinden, können uns alle nichts anhaben. Wir sind damit schneller und können sogar weiter schwimmen. Komm schon, Papa!“
Der Vater wachte langsam auf. Die Wellen wurden immer stärker und schüttelten das Gummiboot kräftig durch. Die meisten Mitstreiter wirkten müde und hungrig. Sie saßen eng zusammengepfercht nebeneinander. Ein Großteil von ihnen wachte auf. Der Junge zählte mit seinen Fingern die anderen Menschen auf dem Boot. Es waren ausschließlich Männer.
„31, 32… plus einer. Ich glaube, es sind 33.“
„Papa, wollen wir den anderen nicht ein paar Riegel abgeben? Es freut sich doch gar keiner mehr, dass wir bald in Level 7 sind. Alle sind so traurig“, sagte der Junge ganz aufgeregt.
Der Mann wischte sich leicht verschlafen durch seinen Dreitagebart. Er blickte sich vorsichtig um und schaute in die angespannten Gesichter der anderen Männer.
„Psst! Nicht so laut. Du weckst noch die Monsterfische im Wasser. Wir müssen leise sein! Die Riegel brauchen wir für uns und du weißt doch, dass die Sterne nach kurzer Zeit ihre Wirkung verlieren. Wir wären dann langsamer als das Boot und total nass und irgendwann würden wir ertrinken. Bleib bitte im Boot.“
Neymar war aufgewacht und hatte dem Jungen aufmerksam zugehört. Er packte mit seinen ausgezehrten Armen die Hand des Mannes.
„Wie?! Ihr habt noch Essen im Rucksack?! Wir hungern und du gibst uns nichts ab? Seit Tagen spielen wir bei deiner Scharade mit und du hintergehst uns?!“
Neymar griff den Rucksack des Mannes und zog ein paar Fußballtrikots sowie zwei Powerriegel und etwas Geld aus ihm heraus. Sofort stürzten sich einige Männer auf das Geld und die Trikots. Sie zogen ihre zerlöcherten Trikots aus und die neuen, sauberen an. Die anderen prügelten sich um die zerbrochenen Riegel und schlangen die kleinen Krümel hinunter.
„Ronaldo, stopp! Auf deinem neuen Trikot steht Bale! Das geht nicht! Das ist das falsche Trikot! Zieh das richtige an!“, rief der Junge einem der Mitspieler zu.
Seine Worte wurden ignoriert. Der Vater stand auf und versuchte sich zu verteidigen. Die tosenden Wellen wurden stärker und das Boot geriet ins Wanken.
„Setzt euch wieder hin, ihr Idioten! Sonst kentern wir alle!“, rief Müller.
Ronaldo kam Neymar zur Hilfe und schlug mit seiner Faust auf den Vater ein. Dieser wehrte sich.
„Bitte, Bitte! Haltet euch an die Spielregeln! Ich habe euch Punkte abgegeben und ihr habt mir versprochen uns zu helfen!“, schrie der Vater, während er hektisch Blickkontakt zu seinem Sohn suchte.
„Das ist kein Spiel. Das ist das nackte Überleben, du Schwein! Wir sind nicht fünf Jahre alt, wie dein Sohn. Gib uns was zu essen! Gib die anderen Riegel her! Sofort!“
Der Junge versuchte, seinem Vater zu helfen, doch er wurde durch die rechte Faust Neymars zu Boden geschlagen. In diesem Moment standen immer mehr Männer auf und brachten das Boot aus dem Gleichgewicht. Einige fielen ins Wasser. Der Wellengang wurde noch stärker. Der Junge blickte auf seinen Vater, der gerade den Rucksack von Neymar und Ronaldo zurückerobert hatte. Er lächelte dem Jungen zu und streckte den Daumen in die Luft. In diesem Moment näherte sich Neymar von hinten. Er trug einen Gegenstand in seiner Hand, der im Mondschein kurz aufblitzte. Der Junge rief nach seinem Vater. Eine große Welle erfasste das Boot und warf den Jungen erneut zu Boden. Als er völlig durchnässt aufstand und sich umblickte, waren nur noch Müller, Bale, Ronaldo sowie zwei ältere bärtige Männer, die kein Trikot trugen, an Bord.
„Papa, Papa!“, rief der Junge und lehnte sich suchend aus dem Boot.
Der Vater war nicht zu sehen. In diesem Moment schossen zwei Hände aus dem Wasser und schnappten nach ihm. Müller zog den Jungen zurück in die Mitte des Bootes. Es war Neymar, der sich an das Boot klammerte. Mehrere Männer trieben hilflos im Wasser und versuchten wieder in das Boot zu steigen.
„Das Boot ist für maximal 14 Menschen gebaut worden. Es ist eh ein Wunder, dass es noch ganz ist. Das hält es nicht mehr lange aus! Es kippt gleich um.“, brüllte Müller.
Viel eher sprach er zu sich selbst als zu dem Jungen, der hilflos neben ihm stand. Müller erinnerte den Jungen optisch an seinen Vater, bevor dieser von Soldaten des Drachenkönigs gefangen worden war und ohne Haare zurückkehrte.
Müller nahm ein Paddel und schlug so lange auf die Hände der Männer ein, bis sich keiner mehr von außen an das Boot klammerte. Danach begab er sich zum Steuerhebel und das Boot fuhr langsam von der Unfallstelle weg. Die Schreie der Männer im Wasser waren trotz des Wellengangs noch zu hören.
„Halt! Nein! Was ist mit Papa?“, schrie der Junge und weinte. Er zerrte an dem Trikot von Müller, der den Jungen leicht wegstieß.
„Dein Papa wartet wie deine Mama im Land der Königin auf dich. Du kennst doch die Regeln. Wir müssen weiter, sonst kippt das Boot um und auch du verlierst ein Leben. Halte durch! Wir sind übrig geblieben. Wenn wir alle Level durchgespielt haben, dann seid ihr wieder vereint. Weißt du noch?“
Der Junge nickte zögerlich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann umarmte er mit einer Hand den Jungen, während Müller mit der anderen den Steuerhebel bediente. Auf dem Boden lag der Rucksack des Vaters. Müller bückte sich und kramte einen Riegel aus ihm hervor.
„Hier. Sieh doch. Wir haben noch Powerriegel. Iss! Die werden dich stärken, damit du die Mission beenden kannst!“
***
Zwei Tage waren vergangen, als das Boot sich in der Nähe des Festlandes befand und sanft auf dem ruhigen Wasser trieb. Der Motor funktionierte nicht mehr. Die Männer waren hungrig und müde. Keiner von ihnen war mehr in der Lage, zu paddeln. Bis auf den Jungen schliefen alle und schonten ihre Kräfte. Der Junge blickte auf den schlafenden Müller, dessen Gesicht ebenso so viele Narben hatte wie das seines Vaters, als er aus dem Verlies des Drachenkönigs zurückgekehrt war und anschließend mit seiner Frau und seinem Sohn floh.
Plötzlich hörte der Junge ein Bellen. Er erschrak. Es wurde lauter. Das Bellen erinnerte ihn an die Monsterhunde aus dem Land des Drachen, die ihn und seinen Vater auf der Flucht gejagt und seine Mutter gebissen hatten. Er erinnerte sich kurz an sie, wie sie mit Blut überströmt am Boden lag und nicht mehr atmete und sein Vater ihn von ihrem schlafenden Körper wegzog.
„ Mama ist schon im Land der Königin. Sie schläft und wartet darauf, dass wir sie dort aufwecken. Aber sie kann leider nicht mehr mit uns mitspielen. Wir sind ein Spieler weniger.“
Das waren die Worte des Vaters.
Langsam kam das Bellen näher. Er hielt sich die Hände vor das Gesicht. Ein schwarzer Labrador schwamm gemütlich neben dem Boot her. Der Junge nahm langsam eine Hand herunter und schaute auf den Hund.
„Dieser Hund sieht doch gar nicht so böse aus. Der ist viel lieber als die Drachenhunde!“, dachte sich der Junge.
Er erblickte einen angebissenen roten Apfel im Wasser, der neben dem Hund trieb. Mit ganzer Kraft streckte er sich aus dem Boot und griff nach dem Apfel, den der Hund zu verschmähen schien. Wie aus dem Nichts hörte der Junge eine Stimme, die er nicht verstand.
„Halt! Das ist mein Apfel, du kleiner, dreckiger Dieb. Der ist für meinen Hund gedacht. Nicht für euch! Haut ab! Ihr gehört hier nicht her.“
Der Junge erblickte einen jungen Mann mit dunkler Haut und schwarzen Haaren, der auf einem orangenen, modern aussehenden Paddelboot daher trieb und wild gestikulierte. Fröhlich winkte er dem jungen Mann zu und griff nach dem Apfel. Im selben Augenblick erspähte er das Festland. Der Junge verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Als er wieder aufgetaucht war, griff er nach dem Apfel und biss genüsslich in die Frucht, die mit Hundespeichel bedeckt war, hinein.
„Das gibt Energie für die letzten Levels. Die brauche ich!“, dachte sich der Junge.
Während er schwamm, wandte er sich leicht von dem Hund, ab. Der Labrador schwamm zurück zu seinem Herrchen. Dieses zog den Hund mühelos in sein Paddelboot. Es schien so einfach. Der Junge dachte an seinen Vater und blickte traurig auf die Szene. Er bemerkte das weiße Poloshirt des Mannes sowie dessen funkelnde silberne Armbanduhr. Der junge Mann schaute mit zahlreichen Stirnfalten auf den Jungen, welcher zurück in sein Boot klettern wollte.
Müller hatte die Situation beobachtet. Sein weißes Trikot war mittlerweile zerrissen und voller brauner Flecken. Als er die Hand des Jungen packte, um ihn ins Boot zu hieven, ergriff eine riesige Strandwelle beide Boote.
Alle Insassen wurden ins Wasser geschleudert. Einer der älteren Männer fiel auf den Jungen und drückte ihn nach unten. Sein Kopf knallte auf den Boden. Der Junge wedelte panisch mit seinen Händen umher, als er unter Wasser keine Luft bekam. Nach langen Momenten packte eine weiße Hand den linken Arm des Jungen und zog ihn an die Wasseroberfläche. Das Salzwasser brannte in seinen Augen. Der Junge strampelte aufgeregt umher, ehe er merkte, dass er in der Lage war zu stehen. Überall am Strand erkannte er leicht verschwommen Männer in Uniformen, die die Spieler aus dem Wasser zogen und ihnen halfen.
„Hab keine Angst! Das ist die Garde der Königin. Bald wird alles gut!“, sagte Müller mit einem aufgesetzten Lächeln.
Müller hatte ein aufgeplatztes Kinn und humpelte leicht. Er befand sich direkt neben dem Jungen und wurde von zwei Gardisten gestützt. Der Junge schaute sich weiter um.
Er sah einen großen weißen Mann in Uniform, der neben ihm stand, ihn freundlich anlächelte und seine Haare streichelte. Der Junge verstand die Sprache des Gardisten nicht. Dennoch freute er sich, endlich aus dem Wasser zu sein.
***
An der Promenade des Strandes erhielt der Junge von dem Gardisten trockene Kleidung und eine Kugel Schokoladeneis im Hörnchen, das er dankend annahm. Im selben Moment ging der junge Mann aus dem anderen Boot an ihnen vorbei. Er wurde von zwei Gardisten abgeführt und schrie erneut auf Englisch, das der Junge nicht verstand. Der Labrador lief neben seinem Herrchen her und bellte aufgeregt.
„Ihr scheiß Rassisten, ich bin kein syrischer Flüchtling, nur weil ich eine dunkle Haut habe und ihnen ähnlich sehe. Lasst mich los! Ich habe Geld. Ich habe eure westliche Kultur. Ich bin einer von euch. Lasst mich los!“
Der Junge schaute irritiert auf den jungen Mann, der mit den Gardisten auf Englisch redete und anschließend losgelassen wurde. Der Junge wandte sich zu Müller.
„Ich verstehe kein Wort. Wieso regt er sich so auf? Muss er von vorne anfangen, weil er all seine Leben verloren hat? Und ich habe noch eine Frage! Hast du nicht eigentlich blonde Haare und viel viel hellere Haut? Wurdest du etwa auch vom Drachenkönig verzaubert, wie Papa gesagt hat?“, fragte der Junge als er die schwarzen Haare und den Rauschebart von Müller fixierte.
Müller befand sich ungefähr im selben Alter wie der Vater des Jungen. Müller schien leicht genervt, doch als er in die großen Kulleraugen des Jungen sah, antwortete er ihm.
„Ähm. Ja, habe ich, aber in Level 6 ist vieles anders. Da ändern sich auch die Farben der Spieler. Dein Vater hat vergessen, dir das zu sagen. Außerdem hat er dir eine Regel verschwiegen. Dumme Hunde dürfen nicht ins Land der Königin. Deshalb regt der Mann sich auch so auf. Sieh ihn dir und den Hund doch genau an!“
Müller lachte lauthals und zwinkerte dem Jungen, der einen kleinen Kiosk erblickt hatte, zu. Im selben Moment schaute Müller wie versteinert aufs Meer.
„Das kann doch nicht wahr sein! Wie lange soll das Spiel denn noch weiter gehen?!“, rief er, als er plötzlich weitere Boote in der Ferne erspähte. Müller wirkte nervös, als er die anderen Mitspieler sah. Er sprach mit den Gardisten in derselben Sprache wie der Mann aus dem Paddelboot. Der Junge verstand erneut nicht, was die Erwachsenen sagten. Danach riss Müller sich kurz von den Gardisten los und streichelte und küsste demonstrativ den Jungen.
„Das hier ist mein Sohn, mein geliebter Sohn. Er ist doch noch so jung. Lassen Sie ihn bitte bei mir! Wir müssen schnell weiter. Weg von hier. Bitte! Er ist doch so schwach und er braucht mich. Wir sollten vor den anderen hier weggebracht werden. Ich habe ein Kind dabei. Zählt das denn nichts?“, sagte er in der englischen Sprache.
Müller küsste den Jungen erneut und umarmte ihn, während er weiterhin besorgt auf die anderen Boote und die neuen Mitspieler starrte. Der Junge blickte auf Müller.
„Müller, ich kann doch kein Englisch. Warum weinst du denn? Nur noch ein Level, Müller! Nur noch eins. Dann ist das Spiel um. Bloß nicht aufgeben! Nicht jetzt!“
„Junge, du unterschätzt Italiens Regierung und den langen Weg nach...“
Der Junge schaute Müller irritiert an.
„Öhm , ich meine du unterschätzt Level 7. Das, was nun auf uns alle zukommt, wird sehr schwierig! Das haben so viele vor uns unterschätzt.“
Müller schaute den Jungen mit einem angestrengten Lächeln an.
„Halt dich einfach an Papas Plan! Dann schaffen wir das!“
Müller drehte sich zu einem Gardisten, um etwas mit ihm zu besprechen. Der Junge nutzte die Gelegenheit und rannte ein paar Meter aufgeregt zum Kiosk weiter, wo er eine aktuelle Tageszeitung fand. Auf der Titelseite befand sich ein Bild einer älteren Dame, die ihre Hände mit der Innenfläche so vor dem Bauch hielt, dass sie eine Raute ergaben. Der Junge strahlte über beiden Ohren. Zwei ältere, korpulente Herren standen an dem Kiosk und aßen ein Wassereis. Sie trugen beide eng anliegende beige Käppis und jeweils einen Brustbeutel, der an ihren schwitzenden, weißen Oberkörpern klebte. In ihren bis zu den Waden hochgezogenen weißen Socken in braunen Sandalen blickten sie auf den Jungen. Dieser hüpfte immer intensiver auf und ab. Die beiden Männer sahen sich an und zogen ihre Augenbrauen hoch. Danach entfernten sie sich von dem Kiosk und hielten angestrengt ihre Brustbeutel fest. Andere Touristen sahen den Jungen stirnrunzelnd an. Müller näherte sich dem Jungen, der ihm fröhlich zurief.
„Da ist sie! Die Königin! So wie Papa es gesagt hat. Sie muss hier sein! Wir haben es bald geschafft, Müller. Papa hat für alles gesorgt. Du bist bei mir und wir sind nicht mehr allzu weit entfernt, so wie Papa es gesagt hat. Level 7 kann beginnen!“