- Beitritt
- 08.11.2001
- Beiträge
- 2.833
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Leuchtturmwärterleben
Leuchtturmwärterleben
Viele Jahre, die in Wellen vor ihm lagen. Die sich in einen Rhythmus fügten, der vom Licht geformt wurde. Viele Jahre, in denen er versucht hatte, zu büßen, zu lernen. Zu verstehen.
Und nach diesen Jahren keinen Schritt weiter. Er seufzte, als er die ölige Fischkonserve von sich schob und das halb gegessene Stück Brot zurück auf den Teller rutschen ließ.
Ihre Entscheidung hatte seine Entscheidungen bedingt. Kein Kind zu wollen, konnte sie ihm nicht verzeihen. Nicht zu teilen, was sie träumten, stand zwischen ihnen. Das Leben hatte sich hineingedrängt in ihre Beziehung. All das hatte sich eingenistet, in ihrem glücklichen Lachen, seiner Stimme, einer zärtlichen Stunde und gutem Essen.
Das schlichte Leben an sich war klarer und klarer geworden, bis ihn die Erkenntnis zu erschlagen drohte, dass er nicht mehr von der Zukunft träumte, die sie einmal habe würden, sondern von der Zukunft, die sie in der Vergangenheit einmal hätten haben können.
Die Welt war vor seinen Augen abgelaufen und hatte ihn aus dem Traum herausgesogen, als gehöre er nicht dorthinein. Seine eigene Firma, aufgebaut seit damals, seine Familie, die Aufgaben, die ihn umzingelten, waren klarer hervorgetreten, als je zuvor. Er hatte sich abgewandt.
Die Entscheidung hierherzuziehen, traf er nicht. Sie war gegeben. Hier wo die Klippen sich den Wellen entgegenstemmten, als gäbe es etwas zu verteidigen, das die Mühe wert war, hatte er sich darauf eingerichtet, dass das Verstreichen von Zeit der eigentliche Sinn der Welt war.
Wellen und Gezeiten, die in Symbiose an den Felsen nagten, waren zum Maßstab des Lebens an sich geworden. Auf einer Insel, auf der außer dem Leuchtturm nichts war, als ein Anlegesteg.
Warten auf das Hereinbrechen der Dämmerung, das den Zyklus des Lichts sichtbar machte, den er über das Wasser strahlte. Auf der Galerie stehen, das pulsierende Licht im Rücken und den Horizont betrachten.
Sturmwarnungen im Radio, die von Gefahr sprechen, die in Stunden um ihn herum tobt. Nichts zerstört, weil nichts besteht. Außer dem fernen Dröhnen in den Ohren nichts hinterlässt. In jeder zweiten Woche das Schiff, das die Bestellungen bringt. Und manchmal frisches Obst. Ein Gruß zum Ablegen.
Seine Bestimmung gefunden zu haben, lässt ihn tief atmen. Hier angekommen kostete er zum ersten Mal seit Jahren das Gefühl aus, frei zu sein.
Ihr Gesicht ist nur noch blass. Ihre Stimme übertönt schon lange nicht mehr den Wind, der hier niemals schweigt. Was sie war, füllen jetzt die Wellen und das Licht. Die Gründe kennt er längst nicht mehr. Weder ihre, noch seine eigenen. Dass sie sich entschieden hat, daran denkt er noch manchmal. Dann und wann. Und daran, dass auch er sich entschieden hat. Auf seine Weise, irgendwie. Wenn nicht am Horizont ein Schiff entlangzieht.
"Papa?" Die Stimme drang über den Wind zu ihm. Aber durch den aufziehenden Nebel erreicht sie ihn nur beinahe, verweht um ihn herum. Die Jahre hier oben auf der Galerie habe ihn taub werden lassen, für Rufe von außen.
"Papa, sie warten alle. Im Wohnzimmer!" Stufe für Stufe stieg er den Turm hinab. In einer langsamen Spirale näherte er sich ihrer Stimme. Durch den Nebel gedämpft. Er würde nicht ausweichen können. "Es ist doch Euer Hochzeitstag! Mama sucht schon nach Dir."
Schemenhaft konnte er ihre Gestalt auf dem Steg ausmachen. Eine Hand zu ihm herübergestreckt. Er zwängte sich durch die Tür und trat ihr entgegen. "Ich komme, mein Schatz", hörte er sich sagen. Wie alles auch seine Stimme vom Nebel gedämpft. "Du bist ja noch gar nicht fertig!", nein, er wollte bleiben. Die Stufen wieder hinaufsteigen. Über das Wasser sehen und an die Dinge denken, die wichtig gewesen wären, in der Zukunft von früher.
Er sah an sich herunter, strich gedankenverloren über den groben Wollpullover. "Ja, Liebling, ich zieh mich schnell um." Sie nickte, verließ den Raum und er wandte sich wieder dem Turm zu, der in der beginnenden Dunkelheit seinen Strahl durch den Nebel schnitt.
Nach all den Jahren nun Goldene Hochzeit. Ihre Entscheidungen hatten sich selbst getroffen, das Leben sich verwirklicht, und am Ende blieb ein Turm im Nebel und eine Goldene Hochzeit. Liebevoll schloss er die Tür am Fuße des Turms.
Er würde erst in ein paar Stunden zurückkehren. Für eine lange Zeit. In die Zukunft, die längst Vergangenheit geworden war. Die neblige Luft zog noch einmal in seine Lungen, als er die Klippen verließ und durch die Tür in den Flur trat.