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Leuchtende Zöpfe
Leuchtende Zöpfe (vollständige Überarbeitung)
Leuchtende Zöpfe im Aramis. Nächsten Mittwoch, gleiche Zeit? Anna ahnte, dass sie gemeint war. Sie hatte geflochtenes Haar getragen, als sie dort gewesen war. Aramis. Ihr liebster Fluchtort vor der Hässlichkeit ihres Zimmers. Das Lesen der Anzeigen hatte sich gelohnt. Wenn sich schon keine nette WG fand, vielleicht ein interessanter Mann. Phantasie schien er zu haben. Leuchtende Zöpfe. Das klang poetischer als „rote Hexe vom Nebentisch“.
Im überfülltem Aramis waren Anna nur wenige Gäste aufgefallen. Jemand, der in den Inhalt seiner Aktentasche vertieft gewesen war. Ein Langhaariger, der sie vom Thekenhocker aus beobachtet hatte und eine schwache Blase zu haben schien. Ein dunkler Typ mit schweren Augenbrauen, der seinen Falafel mit Messer und Gabeln gegessen hatte.
Anna beschloss, am Mittwoch ihre Locken hochzustecken. Zum Haarewaschen hatte sie keine Zeit mehr gefunden. Etwas Parfum auf der Bürste musste reichen. Im Aramis wurde man sowieso eingeräuchert. In ihrem dünnen Samtkleid fror Anna schon auf dem Hinweg und spätestens im Gedränge zwischen all den biererhitzten, neugierigen Gesichtern bereute sie, nichts anderes angezogen zu haben. Niemand schien auf sie zu warten. Hatte man sie versetzt?
Da winkten ihr gleich zwei Männer vom Tisch in der Mitte zu. Anna fand, dass sie in ihren Holzfällerhemden verwandt aussahen, wie seltsame Brüder. Der Jüngere stand auf und lächelte schüchtern. Anna versuchte sich zu ihm durchzukämpfen, dabei ließ sie mehrere Jacken anderer Gäste auf den Boden fallen. Sie verstand nicht, warum sie immer noch nervös war.
„Schön, dass du da bist. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du wirklich kommst.“ Seine braunen Augen leuchteten. Anna fand es rührend, dass er sich Verstärkung geholt hatte. Sein Freund verfolgte belustigt ihren unbeholfenen Wortwechsel. Jetzt fiel Anna ein, dass beide zur angeheiterten Doppelkopf-Runde gehört hatten, deren Lärm sie beim Briefe Schreiben gestört hatte. Aber die kindliche Ausgelassenheit am Nebentisch hatte sie später genossen wie zu Hause das nachmittägliche Spielplatztoben.
Die Weizengläser der beiden waren fast leer. Sie mussten eine Weile gewartet haben. Dabei war Anna nicht unpünktlich gewesen. Ein wenig erstaunt hörte sie, dass von ihrem Rendezvous mehr Leute unterrichtet waren, als sie angenommen hatte. Jeder in Bentes Bekanntenkreis wusste von der „Traumfrau“.
„Unser Bente begeistert sich schnell. Ich lass euch Hübschen mal alleine.“ Bentes Freund zwinkerte Anna zum Abschied zu. Sie blickte ihm bedauernd nach.
„Was möchtest du essen?“, versuchte Bente ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. „Ich lade dich ein.“
Anna war sich nicht sicher, ob sie überhaupt Hunger hatte. Aber Bente schaute sie mit seinem Kleinjungenblick so eindringlich an, dass sie ihn nicht enttäuschen konnte. Sie studierte die Kreidetafel über der Theke, es gab sowieso nur Falafel und irgendwelche Salate. Sie überlegte, ob sie es wagen könnte, hier einen Capriciosa zu bestellen, als sich ein Arm um ihre Schultern legte, eine kameradschaftliche, etwas feuchte Berührung.
„Ein Salat ist doch viel zu wenig, Anna“, flüsterte Bente in ihr Ohr. „Und du beleidigst nicht nur den Koch, wenn du keinen Falafel bestellst.“
„Das wollen wir nicht riskieren“, gab Anna nach.
Die Falafel waren diesmal in Papier gerollt, eine andere Sorte, die sich angenehmer essen ließ. Ausgehungert machte sich Bente über sein Exemplar her und bestellte gleich ein Neues. Soße tropfte über seine spärlichen Bartstoppel, er kaute herzhaft mit offenem Mund und Anna verfolgte, wie seine schönen, weißen Zähne ins Brot schlugen. Zwischen zwei Bissen schwärmte er von Annas Zöpfen:
„Du sahst so hübsch aus an jenem Abend - oh heute natürlich auch“, fügte er schnell hinzu, dabei wäre Anna jede Einschränkung egal gewesen. Sie fragte sich mittlerweile, wie ihr schnaufendes Gegenüber einen so poetischen Anzeigentext erfinden konnte. Vielleicht hatte er ihn gar nicht selbst geschrieben?
„Ich wollte keine neue Frau kennen lernen“, unterbrach Bente ihre Überlegungen.
„Ach ja?“ Und wieso hatte er sie hierher bestellt?
„Ich habe mich verliebt.“ Bei Männern schienen gewisse Reize reibungsloser zu funktionieren, dachte Anna nicht zum ersten Mal. Manche fuhren auf kleine Ärsche ab. Andere auf blond. Oder rot. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sich dieses große, nette Kind ernsthaft in sie verliebt haben konnte.
„Ich weiss nicht, ob du es hören möchtest.“
„Doch.“
„Ich habe mich verliebt“, wiederholte Bente.
„Und?“
„In meine Mitbewohnerin.“
„In deine Mitbewohnerin?“ Anna war überrascht.
„In die Frau, die vor zwei Wochen bei mir eingezogen ist.“, präzisierte Bente unschuldig.
„Und wo ist das Problem?“, fragte Anna und bemühte sich, unbeteiligt zu klingen.
„Ich wollte mich nicht verlieben. Ich möchte meiner Freundin nicht wehtun“, sagte Bente ernst. Anna hoffte, dass er sich nicht ausheulen wollte. Lost-between-two-lovers hätte sie diesem Kind wirklich nicht zugetraut. Wenn sie ehrlich war, nicht mal eine Freundin.
„Ellen und ich sind seit neun Jahren zusammen.“
„Seit neun Jahren?“ Anna war noch nie so lange mit jemandem zusammengewesen. Für Momente wollte sie voller Boshaftigkeit fragen, ob er Ellen im Kindergarten kennen gelernt hatte.
„Wir haben uns in der Mensa getroffen. Gleich im ersten Semester. Ich scheine all meine Frauen beim Essen kennen zu lernen“, scherzte Bente und schaute sie traurig an. Anna überschlug Bentes Alter. Selbst wenn er sein Abi mit Achtzehn geschafft hatte, war er mindestens fünf Jahre älter als sie. Und er lebte mit Ellen länger zusammen, als all ihre eigenen Beziehungen zusammenaddiert.
„Ellen macht in Bonn gerade ein Praktikum“, sagte Bente und spielte mit einem Salatrest auf seinem Teller. „Sie hat mich überredet, ihr Zimmer zu vermieten. Sie wollte ausdrücklich eine Frau. Sie hat mir wohl nicht zugetraut, dass ihre Zimmerpflanzen bei mir überleben.“ Bente lächelte schief.
„Und was für eine Frau ist eingezogen?“
„Eine Mathematikerin“, antwortete er. „ Achtunddreißig Jahre alt, verheiratet, kinderlos“, nahm er Annas Fragen vorweg. „Nicht so niedlich wie du.“ Er nahm eine ihrer Locken und drehte sie um seinen Finger. Vorsichtig zog er an einer Haarklemme.
„Ich möchte so gerne deine Haare offen sehen, machst du sie für mich auf?“, bat er und löste eine weitere Strähne.
„Erzähl lieber weiter von deiner Mathematikerin“, sagte Anna und rückte ein wenig ab.
„Sie ist auch nicht so hübsch wie Ellen“, versuchte Bente Anna eifersüchtig zu machen und zog seine Hand aus ihren Haaren. Aber Anna ahnte, dass Bente tief im Inneren nicht in solchen Kategorien dachte.
Seltsamerweise wurde er selbst schön, als er von den verwirrendsten zwei Wochen seines Lebens erzählte. Seine Augen leuchteten als er von seiner plötzlichen neuen Liebe erzählte. Tamara, zehn Jahre älter als er, nur vorübergehend bei ihm eingezogen, weil sie Distanz zu ihrem Mann brauchte. Eine sehr weiblich wirkende Frau mit langen grauen Haaren und vielen Kilos um die Hüften.
Anna schämte sich für ihr schwarzes Kleid, in das Bentes Geliebte niemals hineingepaßt hätte. Was hat sie, was Ellen nicht hat, wollte Anna am liebsten fragen. Aber ihr war bewusst, dass die eigentliche Frage anders lautete.
„Wir haben es nicht mehr ausgehalten, so nah beieinander. Abends am Küchentisch. Morgens im Flur. Zu wissen, sie schläft eine Tür neben mir.“
„Und dann hast du mich gesehen“, unterbrach Anna Bente schroff.
„Ja, ich habe sogar Tamara von dir erzählt. Sie meinte, das wäre die Lösung.“
Bente hatte die Kontaktanzeige nicht einmal selbst aufgegeben, registrierte Anna enttäuscht. Sie konnte es nicht fassen. War Tamara großzügig oder raffiniert? Wollte sie Bente testen? Worum kämpfte sie, um ihre Ehe oder ihren Geliebten? Obwohl Anna nur aus Neugier auf die Anzeige reagiert hatte, ärgerte sie sich über ihre eigene dumme Rolle in diesem abgekartetem Spiel.
Bente streichelte Annas Wange. „Leuchtende Zöpfe. So etwas Schönes wäre mir selbst nie eingefallen.“