Letzter Traum
Wohin soll ich mich träumen? An eine nächtliche Bucht, das Salz des Meeres schmeckend, wenn die Gischt mir entgegen spritzt? Wo ab und zu eine Möve über meinem Kopf ihre Kreise zieht, beobachtend. Den kühlen Nachtwind in meinem Haar spürend, alleine sich der Sehnsucht nach Weite und Unendlichkeit hingebend?
Oder auf eine alte Burgruine in einer lauen Sommernacht, wo man noch die Hingabe verliebter Paare fühlen kann, die einige Stunden vorher auf diesen Pfaden gewandelt waren?
Auf einer Mauer sitzend schließe ich die Augen und höre. Ich höre gar nichts. Kein Geräusch durchbricht die Schwärze der Nacht, doch knistert es. Die Luft.
Tagtaum. Nachttraum. Alles ist Traum.
Von weitem höre ich Getrommel. Erst höre ich es in meinem Kopf, dann außerhalb, lauter und lauter. Langsam wiege ich mich im Rhythmus, noch immer mit geschlossenen Lidern. Ich traue mich nicht, sie zu öffnen, aus Angst, es höre alles auf.
Ich sehe mich selbst ein paar Schritte in den nahe gelegenen Wald gehen. Einladend lächeln die Bäume, weise grinsend und mir durch die vom Wind bewegten Äste den Weg weisend. So setze ich langsam einen Fuß vor den anderen. Das Trommeln wird lauter, der Wald dunkler. Ich bin ganz ruhig, keine Angst. Im Dunkeln habe ich immer angst. Es ist, als wäre alles nur wegen mir hier: Die Bäume, die mir zuschauen, der Weg, auf den ich sicher meine Füße setze, der Wind, der mir sanft über meine Haut streicht, leise mit meinem Kleid spielt. Ich weiß nicht, wo ich bin, weiß nicht, wohin ich gehe, weiß nicht, woher ich komme. Es kümmert mich nicht.
Zum Trommeln mischt sich ein beinahe unhörbares Glucksen, lebendig und frisch. Als wäre ich diesen Weg schon immer gegangen, erreiche ich den kleinen Bach, an dessen Ufer ich mir einen gemütlich aussehenden, bemoosten Sein aussuche und mich setze. Das kalte, kristallklare Wasser umspült meine nackten Füße, während der Mond silbrig glänzend langsam über die Baumwipfel hervorragt, um mir in übernatürlichem Licht meine Umgebung zu zeigen. Lächelnd betrachte ich das Spiel aus weiß und silber, fühle das kalte Naß und die laue Luft. Ich genieße ohne mich zu fragen, was das Ganze eigentlich soll.
Ich bin. Einfach nur sein, einfach hier, einfach jetzt. Ich bin der Wald, das Wasser, der Wind, bin ich und alles zugleich. Mit jeder Faser meines Körpers nehme ich alles in mir auf, spüre ein Gefühl, das man wohl mit Glück und Zufriedenheit beschreibt.
Es wundert mich nicht, daß plötzlich jemand neben mir sitzt. Es scheint, als habe ich gewußt, ihn zu treffen; ihn, den unbekannten und mir doch so vertrauten Menschen. Seine Trommel hatte er ins Gras gelegt, als er sich mir zuwendet. Die schwarzen Locken umkringeln sein vom Mond beleuchtetes Gesicht, als er mich mit seinem wissenden Blick anschaut. Ich sage nichts, schweige.
Wie tiefe blaue Seen ruhen seine Augen auf mir, durchdringen mich, als wollte er ganz durch mich hindurch schauen, als suche er den Kern, mein Innerstes, das ich doch selbst nicht kenne. Wir unterhalten uns. Keine Worte. Worte, wer braucht die denn schon? Unnötig sind sie, die Buchstaben, aus denen sich komplexe Gebilde, Berge aus Informationen fertigen lassen. Viel zu weltlich...
Es sind die Augen, in denen alles steht. Wie in Büchern. Je länger man hineinschaut, desto mehr versteht man.
Versinken, ertrinken, sich lösen, schweben, schwerelos schwimmend in den Augen des Anderen.
Ich weiß nicht, wie lange wir so da sitzen und es ist auch egal. Zeit. Jeder braucht sie, keiner hat sie. In diesem Moment gibt es sie nicht. Alles, was zählt ist das Sein. Es gibt nur die Gegenwart.
Er berührt mich. Nicht meinen Körper, vielleicht indirekt. Ein leiser Schauer jagt mir über den Rücken hinab, wohlig und kribbelig. Er sieht mich nur an, aber er berührt mich wie mit tausenden von Händen, als wäre er überall. Er hat sie gefunden. Das, was man wahrscheinlich als Seele bezeichnet. Hat jemals jemand meine Seele berührt?
Ich schließe die Augen, lasse geschehen, mache gar nichts, bin regungslos. Wie unter Wasser treibe ich, drehe mich wie in einem Strudel, schneller und schneller, verliere das Bewußtsein.
Als ich meine Lider langsam zu öffnen beginne, ist es, als hörte ich eine Stimme, die mir sagt, daß wir uns bald wieder sehen werden.
Noch sehe ich alles verschwommen, bis ich die Umrisse meines Bettes erkenne und merke, daß ich auf dem klapprigen Stuhl sitze, an dem Tisch, in der Mitte des Raumes. Realität. Kälte. Weiße Wände, unpersönlich. Nasse Füße auf weißem Fliesenboden.
Ich muß zurück. Hier kann ich nicht bleiben, muß weg. Es hält mich nichts mehr. Sehnsucht, sie schmerzt.
Das Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Zu diesem Laut sehe ich das Bild roter Tropfen, die mit einem leisen „tock, tock“ auf den Fliesen Muster hinterlassen. Schöne Muster. Bald sieht man nichts mehr vom weiß, nur noch rot. Warmes, blutrotes Rot auf weißem kalten Boden.
Wie eine Woge des Meeres spüre ich mich driften. Ich beginne wieder die Trommel zu hören, lächle. Wie an Fäden zieht es mich zu ihm.
Ich versinke, nehme kaum noch das Tropfen wahr. „Tock, tock“, ganz entfernt. Ich schaffe es, das letzte Mal meine Augen zu öffnen, sehe, daß die Muster sich zu einer Fläche gewandelt haben.
Bald habe ich es geschafft, bald bin ich dort...
Wenn die Wärter meine Türe aufschließen, um mir die Medikamente zu geben, bin ich bereits an meinem Ziel.
Für immer.