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Lethargie
Lethargie.
Für die einen Sünde, Laster oder unkreative Phase, für die anderen Zuflucht in die Abgeschiedenheit und Zeit der Selbstfindung. Letzteres traf auf Ben Hoff in jeder erdenklichen Hinsicht zu. Er hasste Menschen. Ihre schamlose Art seine Nerven zu töten. Sei es das arbeitende Volk vor seiner Wohnung, das scheinbar absichtlich zur Mittagszeit, wenn er noch den Säften imaginärer Muschis hinterherjagte, die Presslufthämmer auf den Boden rammte. Oder aber die dazu gezogene, AC/DC liebende Studentin über ihm, die er gerne mal unter sich hätte. Highway to hell, Baby!
Alles Stressoren, die seiner Schaffenskraft nicht förderlich waren.
Das Telefon klingelte Punkt sieben Uhr. Die Sonne brannte bereits wie ein Dutzend Martinis in Bens Augen (damit kannte er sich aus) und die Vögel vor seinem Fenster bliesen pünktlich dazu smogträchtige Luft durch ihre Kehlen. „Missgestalten!“ Ben streifte sich eine Strickjacke über. Die Taschentücher vom vorigen Abend klebten noch an seinen Schenkeln. Beim Hochziehen seiner Unterhose rissen sie ein beachtliches Stück der Beinbehaarung mit sich. Humpelnd schlurfte Ben über den Flur und stocherte auf den Annehmen-Knopf des Telefons ein.
„Was?“
„Liebling, bist du es?“
„Mama, wer denn sonst? Ich wohn‘ allein.“
„Ach, wie schön dich zu hören. Schatz, dein Vater und ich brauchen Hilfe.“
Den Krampf in seinem Magen bezwingend rieb Ben sich den Bauch und versuchte ein Aufstöhnen zu unterdrücken
„Ja, das ist nichts Neues... Was gibt’s denn?“
„Wir wollen für ein paar Tage in die Berge fahren, und da du zurzeit nicht schreibst, dachten wir, du könntest vielleicht auf das Haus und Flicki aufpassen?“
„Ich schreibe, Mama…nicht unbedingt in diesem Moment…ich brauche nun mal ein bisschen Zeit und Ruhe.“
„Na, dann trifft sich das doch hervorragend. Du liebst doch die Abgeschiedenheit bei uns. Womöglich bringst du ja was zu Papier.“
Sie hatte recht. Ben könnte wirklich Ruhe gebrauchen, sonst erstickt möglicherweise noch ein Bauarbeiter unter mysteriösen Umständen an einem von diesen beschissenen Spatzen auf seinem Fenster.
„Ja, okay, ich mach’ s. Aber bitte ruf‘ mich beim nächsten Mal später an. Ich war gestern mit Freunden feiern und ich bin noch nicht ganz auf der Höhe.“ Es war gelogen. Gegen fünfzehn Uhr hatte Ben seine erste Whiskyflasche geleert und um zwanzig Uhr schlief er bereits mit seiner zweiten im Arm unter dem Wohnzimmertisch. Allein, während das affektierte Gestöhne von Gina Wild durch die Wohnung dröhnte. Bens Mutter war sich der psychisch delikaten Situation ihres Sohnes bewusst, ließ es sich allerdings nicht anmerken. Sie hatte schon vor Langem die Bemühungen eingestellt, ihn zu einer Therapie zu bewegen.
„In Ordnung, Schatz. Es tut mir leid. Die Schlüssel findest du wie gewohnt in Flickis Hütte. Sei bitte morgen Abend da. Der Kühlschrank ist voll und dein Bett bezogen. Wir haben dich lieb.“
„Okay. Bis bald.“ Ben konnte noch ein ersticktes Wimmern wahrnehmen, bevor er auflegte.
Sie macht’s jedes Mal. Dieses Scheißgeheul. Kann ich gar nich‘ gebrauchen!
Er kroch aus seinen Klamotten und sprang zurück ins Bett, sich bewusst, dass schlafen für den Rest des Tages zur Rarität werden würde. „Dreckslärm!“
***
Die Fahrt war lang. Vier statt der üblichen zwei Stunden. Irgendein Idiot hatte sich während der Fahrt einen lutschen lassen und kam mit der Voraussetzung des Multitasking nicht klar. Ergebnis: Auffahrunfall mit hundertachtzig Sachen, geköpfter Liebhaber und eine erstickte Fleischliebhaberin.
Verdient.
Die letzten Kilometer führten über unwegsame Schotterstraßen und durch Nadelwälder, die finstrer waren als die Zukunft eines Tampons. Kurz vor Mitternacht erreichte Ben die Holzhütte seiner Eltern. Die Sichel des Mondes stand weit über den Baumkronen und erschien wie ein geneigtes Grinsen, das die kleine Lichtung zu erhellen versuchte. Doch mehr als diffuse Schatten, die vom Waldrand verschluckt wurden, brachte es nicht zustande. Ben parkte den Wagen und holte den Haustürschlüssel aus dem Versteck, als ihm ein Schauer über den Rücken fuhr. Etwas schleckte ihm die Hand ab, als er sie in die Hundehütte steckte.
„Flicki, du alte Natter. Lass dich streicheln!“ Der kleine Dackel war außer sich vor Freude und tanzte um Bens Beine.
„Frauchen hat wohl mit meiner Verspätung gerechnet, was?- Dein Napf ist ja noch halbvoll.“ Flicki schielte ihn mit schräggelegtem Kopf an, als versuchte er zu verstehen.
„Na ja, schlaf gut, mein Alter. Ich werd‘ mal reingehen.“
Ben kraulte Flicki noch einmal den Kopf und betrat dann die Hütte.
Herrlich. Ruhe. Genügend Platz für autoerotische Aktivitäten und wer weiß, vielleicht auch für ein paar literarische Ergüsse. Nettes Wortspiel- sollte ich notieren.
Im Kamin züngelten die letzten Flammen des Feuers vor sich hin. Ben warf ein Paar Scheite nach und machte es sich auf der Ledercouch bequem. Auf dem kleinen Ebenholztisch stand eine der Whiskyflaschen von Bens Vater, doch sie war leer. Ben erhob sich und schlurfte über den Orientteppich zur Minibar in eine der reich verzierten Hüttenecken und schenkte sich einen 18 Jahre alten Glenlivet ein. Seine Mutter meinte es wie so oft zu gut in Sachen Dekoration: Fackelständer mit Kerzen (man darf hier gerne ein gewisses Gefahrenpotenzial erkennen), Bilder von längst verstorbenen Jazzkoryphäen und weiß Gott was für Absonderlichkeiten. Aber so gut Ben diese Hütte auch kannte, ein Gemälde wollte sich partout nicht aus dem Palast seiner Erinnerungen herauskristallisieren. Es zeigte einen entsetzlich entstellten Mann: Sein Gesicht war kaum als dieses zu erkennen- riesige Tumore schienen es wie Fleischwellen zu überfallen und bedeckten zur Gänze seine Augen; er krümmte sich zu einer grotesken Haltung, bei der die eine Hand in seinem Bauch unter Flüssen von Blut verschwand und die andere offensichtlich seine Genitalien zu entfernen versuchte. Der untere Teil des Bildes war verschwommen- der Mann stand, mit einem schwarzem Samtvorhang im Rücken, im Nebel seines eigenen Blutes. „Was ist das zum Teufel?“ Ben wäre beinahe das Glas mit Whisky aus der Hand gefallen, als er das Gemälde erblickte. Das ist weder Mama' s noch Papa' s Geschmack… was hat dieser Scheiß hier verloren? Ben stellte sein Glas auf den Tisch und hob das Gemälde von der Wand. Es war nicht sonderlich schwer bei einer Größe von vierzig mal siebzig Zentimetern und doch schien die Last des Morbiden es Richtung Boden zu ziehen- Ben wollte es so schnell wie möglich verschwinden lassen. Er ging in das Schlafzimmer seiner Eltern und legte es unter deren Bett.
Da kannst du dir meinetwegen weiter den Schwanz abreißen.
Der Whisky floss in der restlichen Nacht in überschaubarem Maße. Nach dem dritten Glas verspürte Ben bereits eine erdrückende Schläfrigkeit und er klappte den Laptop, nachdem er den letzten Satz beendet hatte, zu. …die fleischgewordene Angst schien ihn aus dem Gemälde heraus anzustarren. Er kletterte aus seiner Jogginghose und blies die Fackelkerzen aus. Das kleine Feuer des Kamins schenkte dem Wohnzimmer eine behagliche Atmosphäre und Ben konnte für einen Moment die Monate des Selbstmitleides vergessen.
Bis die Augen ihn anstarrten.
Am Ende des engen Flures, der vom Wohnzimmer zu den anderen Räumlichkeiten führte, gaffte Ben etwas aus der Finsternis heraus an. Schmale grüne Augen- leicht versetzt und schräg starrend, als kämpften sie unter einer Last aus Fleisch um jeden Zentimeter Sicht. Sie wankten leicht. Kein Ton, kein Atmen, kein Kratzen. Nur das monotone Wanken der Augen. Ben verharrte hinter dem Wohnzimmertisch mit dem Kaminfeuer hinter sich. Sein Schatten reichte bis zum Ende des Flures und gewährte den Augen ein flackerndes Versteck. Ben hielt den Atem an. Wie die Hand des Mannes im Gemälde umschloss etwas in seinem Bauch die Innereien und schien sie herausreißen zu wollen. Ben hegte nie großes Verständnis für das Übernatürliche. Doch in diesem Moment verspürte er Todesängste. Er blinzelte nervös und bückte sich zu der leeren Flasche auf dem Tisch. Waffe. Wehren. Was ist das? Als Ben sie erreichte, war der Schatten, den er warf, kurz genug, um einen klareren Blick auf das Wesen im Flur erhaschen zu können. Ben löste den Griff von der Flasche. Sein Gesicht entspannte sich und formte eine Fratze des Unglaubens.
"Grablichter? Ist das euer Scheißernst?" Auf einer kleinen Kommode flackerten die elektrischen Flammen zweier Grablichter, die versetzt zueinander, die eine direkt auf dem Holz, die andere durch ein Buch erhöht, standen. Ben schwankte durch den Flur und begutachtete sie mit abfälligem Interesse. „Danke für den Herzinfarkt, ihr kleinen Wichser.“ Er schaltete sie aus und verschwand in seinem Zimmer.
Acht Quadratmeter, mehr durfte Bens altes Kinderzimmer kaum messen. Hier und da hingen noch Poster von Anime-Serien oder Rockbands und sogar das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel mit seinem Lieblingslederwürfelbecher staubte unter dem Bett ein. Ben schob sich mit samt seiner restlichen Klamotten unter die Decke und blinzelte dem Mond, der nun hinter dichten schwarzen Wolken zu verschwinden begann, zu. Das Zimmer lag in absoluter Finsternis - einer Finsternis, die Ben nur aus Wäldern bei Nacht oder den Kellern alter Häuser kannte. Weder eine Laterne von draußen, noch eine Standby-Lampe eines Fernsehers. Die Dunkelheit schien selbst das Augenlicht zu stehlen. Ben fingerte in seiner Strickjackentasche und fischte ein Handy hervor. Das Display leuchtete grell auf, als er die Sperre entfernte und ein Textprogramm öffnete.
"Bei der Totenstille kann ja keine Sau pennen. Ein, zwei Zeilen, bisschen Musik und dann good night." Monoton brummte Engel von Rammstein aus der kleinen Handybox, während Ben den Songtext niederschrieb. Es half ihm schon immer beim Einschlafen. Erst wenn die Wolken schlafen gehen... Ob als Kind oder jetzt noch als Erwachsener. Kann man uns am Himmel sehen... Damals schrieb er kleine Geschichten in ein Notizheft. Wir haben Angst und sind allein... Und heute tippte er seine Texte in ein Programm. Gott weiß, ich will kein...
"Engel sein", flüsterte jemand.
Eine Fratze tauchte im schwachen Widerschein des Displaylichts hinter dem Handy auf. So dicht, dass Ben den Atem auf seinen Fingern spüren konnte. Schwarze Schlitze aus tiefen Gruben grinsten ihn an. Haut wie ein Leichenhemd. Lippen den Egeln gleich und Zähne...keine Zähne. Maden hingen aus den leeren Fleischhöhlen, in denen die Zähne hätten stecken müssen. Ben ließ das Handy fallen. Abrupt verschlang ihn die Dunkelheit und er stürzte vom Bett. Seine Brust spannte sich unter schmerzhaften Krämpfen. Er bekam kaum Luft und tastete verzweifelt nach seinem Telefon. Er fand es ein Stück unter dem Bett und schaltete das Display an. Zitternd erleuchtete es das Zimmer. Niemand da. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über Bens Wange. Er versuchte aufzustehen. Bis ihn ein Geräusch erstarren ließ. Direkt neben ihm, unter dem Bett. Ein ihm so bekannter Klang.
Jemand würfelte.
***
Bens Kopf schien unter einem Felsen eingeklemmt zu sein- die Schmerzen trieben ihn immer wieder zu Boden und hinderten ihn daran, die Augen zu öffnen. Dennoch schaffte er es, sich mit Mühe aufzurichten und die Lider für einen Moment zu öffnen. Das Brennen in seinem Schädel erlosch für ein paar Sekunden, als er versuchte zu realisieren, wo er sich befand.
Und dann... war der Schmerz wie weggewischt, er blinzelte wild und drehte sich immer wieder im Kreis.
"Was zum... wo bin ich?" Ben stand auf einer gigantischen Plattform aus Pflastersteinen. Zwischen den Fugen flossen Bäche schwarzen Blutes, die nur wenige Meter in jede Richtung in eine endlose Tiefe stürzten. Die Plattform war kreisrund, umgeben von einem Himmel und einem Abgrund aus roten Nebeln und Wolken, die sich wie Geschwüre am Zenit zu einer Masse verbanden. Zahnräder überzogen von Rost und Moos hingen wie Monde in der Ferne und rotierten mit dem brachialen industriellen Klang einer Fabrik. Bens Ohren pochten und er konnte sich nicht erklären, wie diese Räder existieren konnten. Ihre Größe war abnorm, gar surreal- jedes Rad schien die Ausmaße eines Berges zu übertreffen. Doch das interessierte ihn schon bald nicht mehr. Ben lief die Plattform ab und blickte stets in die Unendlichkeit des Nichts. Ihm wurde schwindelig. Er begriff nicht, wo er sich befand.
Träume ich? Als er sich umdrehte, entdeckte er etwas Ungewöhnliches- geradezu Unmögliches. Ben ging darauf zu, er fühlte sich illusioniert, er schritt wie auf einem Teppich aus Fleisch, und Angst drohte ihn zu paralysieren. Ein Rechteck schwebte wie durch Magie über dem Boden. Ben trat so dicht wie möglich davor und erstarrte. Er blickte durch das Quadrat in das Wohnzimmer seiner Eltern. Im Kamin brannte ein Feuer, die Scheite knackten, seine Eltern standen etwas entfernt und starrten ihn an. Jemand befand sich bei ihnen.
***
"Keine Sorge, Frau Hoff, alles hat wie erwartet funktioniert." Brummte die Frau in sonorem Bariton, strich eine ergraute Strähne hinter das Ohr und fischte eine Zigarette aus ihrer Anzugtasche. Ohne zu fragen zündete sie sie an und nahm einen tiefen Zug.
Elisabeth Hoff blickte ein wenig traurig aber auch hoffnungsvoll unter ihren faltigen Lidern hervor. "Und der Dämon...hat ihn nun?", fragte sie die gedrungene Dame, die sie mit einem zornigen Blick bedachte. "Selbstverständlich hat er ihn. Sie zweifeln doch hoffentlich nicht die Kompetenz der Kirche an? Unsere Möglichkeiten beschränken sich schon lange nicht mehr auf die archaischen Mittel wie vor ein paar Jahrzehnten. Wir haben gelernt, das Böse zu akzeptieren und darüber hinaus es sogar für unsere Zwecke zu nutzen. Glauben Sie mir, Frau Hoff, ihren Sohn wird es nun besser ergehen. Man wird ihn von seinen Sünden reinigen."
Elisabeth wischte sich mit einem Stofftaschentuch die Tränen aus den Augen. "Und der Dämon?"
"Hat seinen Auftrag erfüllt", antwortete die Frau postwendend. "Ben hat seinen Platz im Gemälde eingenommen. Wenn die Zeit reif ist, wird auch er das Bild wieder verlassen dürfen- so wie es der Dämon, die nun geläuterte Seele, es getan hat. Er wird sich seines Lebens als würdig erweisen müssen. Vor dem Dämon brauchen Sie sich also nicht zu fürchten." Die Dame drückte die Zigarette in ihrer leeren Zigarettenschachtel aus und gab erst Frau und dann Herrn Hoff die Hand. "Sie haben das Richtige getan. Sie hören von uns. Auf bald." Das Ehepaar schloss die Hüttentür nachdem die Dame in ihrem schwarzen Mercedes verschwunden war. Ein leichter Nebel vom Zigarettenrauch waberte noch im Wohnzimmer und umgarnte das Bild von Ben fast zärtlich. Auf einer Plattform in einer grotesk- surrealen Welt blickte er seinen Eltern entgegen. Elisabeth meinte, ein Lächeln hätte für einen kurzen Moment seine Lippen umspielt. Aber das war wohl nur Einbildung.