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Let Your Love Flow
Im Traum ist er wieder bei ihr. Sie sitzen am Weiher vor dem Haus, schauen in die alten Weiden, deren Ruten sich über dem Wasser wiegen, ohne die Oberfläche zu berühren. Er dreht sich zu ihr, kommt näher, will sie küssen. Sie wacht auf, spürt, wie meist in diesen Nächten, die Stille, die Leere, ihr Alleinsein. Die Träume verlieren sich immer, bevor es zu einer Berührung kommt, bevor sie sich wirklich nahe sein können. Tränen steigen ihr in die Augen, sie schluchzt kurz, versucht ihre Traurigkeit aufzufangen.
Ihr kleiner Hund, der neben dem Bett liegt, hebt den Kopf. Sie legt sich auf die Seite, streckt ihren Arm aus, streicht über sein kurzes, weiches Fell, schläft wieder ein.
Johanna tritt aus dem Haus. Die Luft ist kühl und ein wenig feucht. Irgendwo hat sie gelesen, dass das Wetter in diesem Landstrich nicht gut für Asthmakranke ist. Das hat sie nicht davon abbringen können, zurückzukehren und hier ihre letzten Jahre zu verbringen.
Sie geht mit gleichmäßigen, ruhigen Schritten die Straße entlang, die an ihrem Ende in die breite Platanenallee des ehemaligen Badeortes mündet. Hier stehen imposante Gründerzeitvillen, umgeben von alten, schattenspendenden Bäumen.
Ihr Hund läuft an der Leine neben ihr. Sie spricht gern mit ihm, erzählt ihm alles, was ihr gerade durch den Kopf geht, achtet stets darauf, dass kein anderer Zuhörer in der Nähe ist.
Heute ist sie etwas früher als sonst losgegangen. Sie ist eine einsame Spaziergängerin. Im Park nimmt sie den gewohnten Weg zwischen den hohen, alten Bäumen, wendet sich den beiden von niedrigen Buchshecken eingerahmten Teichen zu, geht weiter zum Kanal, der einen Teil der Sichtachse des gesamten Parks bildet. An den Uferwegen stehen Kugelrobinien, die die strenge Symmetrie der Anlage unterstreichen. Der Himmel ist leicht bedeckt. Sie fröstelt ein wenig, hätte vielleicht doch eine wärmere Jacke nehmen sollen.
Immer noch allein, kann sie Oskar von der Leine lassen. Schnüffelnd läuft er entlang der Böschung, hält hin und wieder an, setzt seine Marke, vergewissert sich, dass sie ihm folgt.
Auf der gegenüberliegenden Seite kommt ihnen ein Mann entgegen. Er geht langsam, etwas nach vorne gebeugt. Als er näher kommt, sieht sie, dass er recht groß ist. Sie denkt, dass er ein paar Jahre älter sein muss als sie selbst, vielleicht um die siebzig. Er trägt eine dieser braunen Steppjacken mit Cordkragen und eine Kappe, die sie an eine Golfkappe erinnert.
Jeder auf seiner Seite gehen sie aneinander vorbei, sehen sich kurz an, grüßen, ohne dass der eine den Gruß des anderen hören kann.
Am Ende des Kanals wechselt sie auf die andere Seite und geht zurück. Die ebenen Schotterwege sind selbst nach Regentagen trocken. Es gibt keine Pfützen und sie kann in Ruhe alles betrachten: Sie blickt auf den Hügel weiter hinten, den der Landschaftsarchitekt in seine Planung miteinbezogen hat. Ein weißer Pavillon steht vor dem Halbkreis eines über und über mit Glyzinien bewachsenen Laubengangs. Johanna gefällt die Symmetrie und Harmonie des Parks. Sie hat das gute Gefühl, am richtigen Ort zu sein.
Der Mann hat sich auf eine Bank gesetzt. Oskar wird neugierig, rennt auf ihn zu. Sie versucht ihn zurückzurufen - wie immer, wenn er Menschen sieht, erfolglos. Sie holt die Leine aus ihrer Jackentasche und läuft zur Bank, die sie ein wenig atemlos erreicht.
Der Mann streichelt gerade den Kopf des Hundes, nimmt ihn zwischen die Hände und sagt:
„Du bist aber ein Netter.“
Zerknirscht, weil sie nicht auf Oskar geachtet hat, sagt Johanna:
„Entschuldigen Sie. Es ist immer dasselbe. Er will von allen geliebt werden und ist dann nicht mehr aufzuhalten.“
„Das macht nichts. Ich mag Hunde. Sein Fell ist sehr hell, fast blond. Ist das ein Labrador?“
„Ich glaube nicht, zumindest kein echter. Dafür ist er ein bisschen zu klein. Ich habe ihn mir aus dem Tierheim geholt“, erklärt Johanna, immer noch etwas kurzatmig.
Sie leint den Hund an, nimmt ein Taschentuch, wischt flüchtig über die Bank und setzt sich neben den Mann.
Nach vorne geneigt, um das verdrehte Halsband des Hundes zu richten, schaut sie den Mann aus den Augenwinkeln an. Ihr Blick wandert hoch zu seinem Gesicht. Sie sieht die Kerbe in seinem Kinn, verharrt, betrachtet ihn genauer.
Er hat seine Kappe abgenommen und ist damit beschäftigt, seine Brille, die wohl beschlagen ist, trocken zu putzen. Etwas ist mit seinen Augen. Er blinzelt beim Betrachten der Brillengläser, als nehme er nicht genau wahr, was er sieht.
„Ja, das Putzen hilft auch nicht viel“, stellt er fest. „Es ist der Graue Star. In der nächsten Woche wollen wir damit beginnen, die Linsen auszutauschen. Es gibt Hoffnung, dass ich dann wieder besser sehen kann.“
Johanna weiß nicht, was sie dazu sagen soll.
Ihr fällt ein, dass er schon mit dreißig unglücklich darüber war, dass sein Haar immer weniger wurde. Jetzt ist er kahl.
Gedankenversunken streichelt sie ihren Hund, der nun zu ihren Füßen liegt.
Der Mann hat Brille und Kappe wieder aufgesetzt. Sein Blick geht über den Kanal aufs gegenüberliegende Ufer. Zwei Schwäne ziehen ihre Bahn. Das Wasser ist schwarz und ruhig, nur hinter den Schwänen ist es bewegt.
„Leben Sie schon lange hier?“, beendet der Mann ihr stilles Nebeneinander.
Er schaut sie nicht an, sie spürt jedoch, dass er ihr zuhört.
„Erst seit drei Monaten.“
Johanna überlegt, was sie noch über sich sagen möchte.
„Aber ich habe hier meine Jugend verbracht.“
Sie dreht ihren Kopf etwas und schaut den Mann von der Seite an, studiert sein Profil.
Er wendet den Blick nicht, lächelt.
„Warum sind Sie zurückgekommen?“
Sie nimmt die Erklärung, die sie für sich selber gefunden hat:
„Eigentlich, weil es keinen anderen Platz gab, der für mich in Frage kam. Mir ist hier vieles vertraut. Ich kenne die Stadt, ich kenne die Menschen. Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, hierher zurückzukehren.“
Johanna macht eine kleine Pause. „Und Sie?“
Versonnen blickt er auf den Kanal.
„Ja, ich bin auch erst seit ein paar Jahren wieder hier. Es ging mir wie Ihnen. Dieser Ort gibt mir seine Ruhe. Es ist ein guter Platz fürs Altwerden.“
Sie fragt nach dem, was sie schon weiß: „Sind Sie auch hier geboren?“
Langsam wendet er seinen Kopf, schaut sie an. Sein Lächeln wird tiefer, wird zum Schmunzeln: „Ja, aber das weißt du doch, Jo.“
Ihre Stimme ist jetzt belegt, ein bisschen spröde: „Paul, …“ Sie möchte fortfahren, weiß nicht, was sie sagen soll, sieht ihn nur an.
In seinem Gesicht taucht die Verschmitztheit auf, an die sie sich so gut erinnert.
„Meinst du wirklich, ich hätte deine Stimme vergessen? Wir haben uns beide verändert, aber unsere Stimmen sind doch noch die alten. Besonders deine. Sie war immer ein bisschen dunkler als die anderer Frauen. Die verwechselt man nicht so schnell.“
Johanna ist verlegen, aufgewühlt. Ihr fällt keine Entgegnung ein. Sie wartet darauf, dass Paul weiterspricht.
Sekunden vergehen.
„Hast du Kinder?“, fragt er, nun ein wenig ernster.
„Nein. Als wir mit dem Studium fertig waren, kam der Beruf und dann glaubten wir, dass wir zu alt wären für Kinder.“ Sie denkt einen Moment über ihre eigenen Worte nach. „Vielleicht keine gute Entscheidung. Es gab eine Zeit, da habe ich die, die Kinder hatten, beneidet und fühlte mich irgendwie halb. Heute denke ich eher daran, dass ich ein freies und ungebundenes Leben hatte.“
„Ja, du hast recht. Kinder sind nicht immer ein Segen. Ich habe Glück mit meinem Sohn. Leider sehe ich ihn nur sehr selten. Er lebt in den USA und hat dort Karriere gemacht. Das macht mich natürlich stolz.“ Er unterbricht sich mit einem kleinen Seufzer. „Nichtsdestotrotz muss ich versuchen, meinen Alltag alleine zu bewältigen.“
„Ja, das geht mir auch so“, stimmt Johanna zu. „ Man lernt es, aber es ist nicht leicht.“
Beide schweigen, sehen den Schwänen zu. Der Hund zu ihren Füßen hat die Augen geschlossen, scheint zu dösen.
Johanna fühlt die Frische des Morgens, schließt den Kragen ihrer Jacke.
„Sollen wir weiter?“, fragt Paul. „Wird doch etwas ungemütlich hier.“
Sie erheben sich, auch der Hund ist wieder wach und bereit, mit ihnen zu gehen.
Nebeneinander spazierend achtet sie darauf, nicht in ihren schnelleren Schritt zu fallen. Er geht langsam, zögernd.
Beide hängen ihren Gedanken nach. Johanna spürt, dass auch seine Gedanken zurück in diesen Sommer wandern. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit und sie erinnert sich nur sehr ungenau. Es fällt ihr schwer, alles an den rechten Platz zu bringen. In ihrem Kopf erscheinen Einzelbilder. Sie weiß nicht mehr genau, in welchem Jahr sie zusammen gewesen sind. Der Sommer war heiß und schwül. Und das über lange Wochen.
Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, waren Nachbarskinder. Der Zufall wollte es, dass sie sich trafen. Beide waren in der Altstadt beschäftigt, sie in den Semesterferien in der Uni-Bibliothek, er nebenan im Amtsgericht. Sie fingen an, ihre Mittagspausen miteinander zu verbringen, fanden ein Café, das zu ihrem Lieblingstreff wurde, aßen hin und wieder in der Pizzeria an der Ecke, lagen manchmal auch nur die ganze Zeit auf der Rheinwiese und sahen den Frachtschiffen nach. Sie genossen beide diese kurze Zeit des Zusammenseins, fanden immer ein Gespräch, lachten viel miteinander, kamen sich näher und verliebten sich oder dachten, dass es so wäre. Es traf sich gut, dass die Wohnung ihrer Schwester in diesem Sommer unbewohnt war.
Johanna weiß nicht mehr genau, wie lange es ging, wann der erste von ihnen nicht mehr die Augen davor verschließen wollte, dass sie beide nicht frei waren. Sie hat vergessen, wer von ihnen die Beziehung beendete. Beiden war klar geworden, dass es so nicht weitergehen konnte. Seine Frau war schwanger.
„Wir hatten eine schöne Zeit“, unterbricht er ihre Gedanken. „Mir fällt ein, dass wir nach dem Essen immer einen Marsala getrunken haben. Fürchterliches Zeug, viel zu süß.“
„Damals hast du ihn sehr gern gemocht“, entgegnet sie mit einem kleinen Lächeln.
„Wie hieß doch gleich unser Italiener? Ich glaube, der war an der Ratinger Straße“ fährt sie fort.
Er muss nicht lange überlegen: „’Pinocchio’, daran erinnere ich mich genau.“
Sie nickt zustimmend. „Ja, jetzt fällt es mir auch wieder ein. Unser absoluter Favorit waren Spaghetti Carbonara.“
Sie kramt weiter in ihren Erinnerungen.
„Einmal hast du in Petras Wohnung versucht, sie selber zu machen. Weißt du noch? Die Eier waren leider geronnen“, sagt sie spöttisch.
„Du hast alles aufgegessen. Nur wegen des Parmesans“, kontert er schmunzelnd.
Und wieder wandern Johannas Gedanken in die Vergangenheit.
Fast widerstrebend holt sie Einzelheiten an die Oberfläche. Diffuse, widersprüchliche Gefühle begleiten ihre Gedanken.
Die heiße, stickige Dachwohnung war zu ihrem kleinen intimen Refugium geworden. Hier waren sie sich nahe, wenn auch nur für kurze Zeit.
Johanna wendet sich Paul zu:
„Weißt du noch, in welchem Jahr das war? Ich erinnere mich nur daran, dass es wochenlang tagsüber um die dreißig Grad war. Und immer diese Schwüle. Kann es sechsundsiebzig gewesen sein?“
Er denkt nach: „Ja, du hast recht, es muss sechsundsiebzig gewesen sein, ein Jahr später habe ich mein zweites Examen gemacht.“
Eine Momentaufnahme blitzt in ihr auf:
Sie sind auf dem Weg zu Petras Wohnung. Gleißende Mittagshitze, fast menschenleere Straßen, weit geöffnete Autofenster, das Radio ist voll aufgedreht.
„Erinnerst du dich, da war so ein Lied, das ständig im Radio lief?“
Sie überlegt, versucht selber eine Antwort zu finden: „War das ‚Summer in the City’?“
„Nein, glaube ich nicht, das ist eher aus den Sechzigern.“
„Ein Ohrwurm. Irgendwie passte der genau zu unserer Stimmung.“ Sie hat das Gefühl, ganz nahe dran zu sein.
Ihm fällt es ein, er bleibt stehen und summt die Melodie.
„Ja, genau. Das war’s.“ Sie bleibt ebenfalls stehen und fällt in sein Summen ein. Beide schauen sich an, halten ein, müssen lachen und gehen weiter.
„Weißt du noch, wie das hieß?“
Johanna sinnt nach: „Ich hab’ einen englischen Titel im Kopf, komm’ aber nicht drauf.“
„Ich weiß es leider auch nicht mehr. Ist ja wirklich schon sehr lange her.“
Sie sind an der Straße angelangt, die den Park durchschneidet. Die Stadt hat es in den vielen Jahren nicht geschafft, eine Umgehungsstraße anzulegen und die Geschlossenheit des Barockgartens wiederherzustellen.
Beide stehen abwartend. Sie sieht ihn an. Gary Grant. Ja, sein Kinn ist genauso eingekerbt, wie das von Gary Grant. Das hat sie immer gedacht. Daran hat sie ihn sofort wiedererkannt.
„Wo wohnst du jetzt?“, setzt Johanna das Gespräch fort.
„Hier gleich links in der Wasserburgallee. Ich habe eine kleine Parterrewohnung in einem Jugendstilhaus. Sehr bequem für meine alten Beine“, sagt er mit leichter Ironie.
Immer noch stehen sie sich gegenüber, einer versucht im Gesicht des anderen zu lesen.
Er hebt an, zögert, scheint nach den richtigen Worten zu suchen.
„Am Nachmittag gehe ich immer zu ‚Wanders’ und trinke dort einen Cappuccino.“ Wieder stockt er. „Die Sonne soll rauskommen, es wird wohl auch wärmer werden.“ Er stockt erneut, sieht sie fragend an: „Hast du schon was vor?“
Sie überlegt, ist sich nicht sicher, hat das Gefühl, vor einer Entscheidung zu stehen, gibt sich einen Ruck.
„Ja, das fände ich auch ganz schön. - Wann?“ Die eigene Stimme klingt ihr fremd.
„Gegen halb vier?“ Auch seine Stimme ist rau.
Sie strafft die Leine, will sich trennen. „Ja, dann bis heute Nachmittag.“
Unschlüssig bleibt sie stehen.
Er versucht, ihre Miene zu deuten, beugt sich zu ihr hinab, nimmt ihr Gesicht in beide Hände, sieht ihr in die Augen und gibt ihr einen sanften Kuss. Seine Kappe ist im Weg, verrutscht ein bisschen.
Sie spürt, dass sie rot wird, steht regungslos, verstört. Langsam löst sie sich.
„Bis später“, flüstert sie und macht sich auf den Weg.
Nach ein paar Schritten spürt sie seinen Blick, dreht sich noch einmal um, hebt ein wenig ungelenk die Hand, winkt, geht weiter, widersteht dem Wunsch, noch einmal zurückzuschauen.
Während sie wieder ihren gewohnten Schritt aufnimmt, verebbt ihr inneres Durcheinander allmählich und macht einer ruhigen Freude Platz.
Sie lächelt.
Die Melodie kommt zurück. Sie beginnt zu summen – sehr leise.
Jetzt fällt es ihr ein: ‚Let your love flow.’