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Lesen schadet der Gesundheit
Das letzte halbe Jahr war ich immer mehr auf meine Brille angewiesen. War sie sonst nur zum Autofahren notwendig gewesen, brauchte ich sie jetzt auch im Kino, zum Fernsehen, auch zum Einkaufen, wenn ich nicht gerade auswendig wusste, wo welches Produkt zu finden war. Etwas wehmütig sah ich auf den roten Kringel, der auch ohne Brille deutlich auf dem Kalenderblatt prangte und mit der „40“ drohte.
Mein Optiker kratzte sich wissend die Bartstoppeln. „Ach, was erzählen Sie mir! Erst sind’s die Augen, dann der Rücken, dann die Nieren, dann das Herz. Aber dann ist’s sowieso vorbei. Naja, ach so, Ihr Sehtest, da ist’s schon etwas schlimmer g‘worden. Gehn’s doch mal zum Augenarzt, nur um sicher zu gehen.“
Der Augenarzt lächelte freundlich. „Na, alles nicht so schlimm. Ein bischen mehr Verkrümmung, aber mit der richtigen Brille ist das kein Problem. Bald 40? Jaja, wissen Sie, medizinisch gesehen geht’s mit 30 schon wieder abwärts. Ich kann Ihnen sagen…“
Ich erwiderte pflichtschuldigst das Lächeln.
Der Augenarzt nahm ein Rezept von einem Stapel und füllte es mit Zahlenwerten und Kreuzen. Und ganz beiläufig, mit einem Unterton, der mir erst im Nachhinein als lauernd auffiel, fragte er: „Sie lesen wohl viel?“
Ich bejahte und machte von meiner Begeisterung keinen Hehl.
Das Rezept landete im Schredder. „Dann muss ich Ihnen ein Privatrezept ausstellen. Und natürlich auch eine private Rechnung.“ Und noch bevor ich protestieren konnte: „Tja, das ist eine Vorlage der Kassen. Lesen schadet nachweislich den Augen, deshalb sind Sie für Ihre Augenfehler selbst verantwortlich. Das kam groß in den Medien, das müssen Sie doch gehört … oder gelesen haben.“
Mein Buchhändler jammerte: „Unverschämt, das. Die Kassen streichen blind zusammen. Sportler bekommen nichts mehr bei Sportverletzungen, wer Musik hört, muss für etwaige Hörschäden selbst aufkommen, und Leser bekommen keinerlei Sehhilfen mehr. Wo soll das nur enden!“
Ich war etwas erstaunt über den Preis, den er mir für meine Bücher nannte. Nach einem Blick auf die Rechnung sagte ich: „Da muss ein Irrtum sein, Sie haben 19 Prozent Mehrwertsteuer berechnet.“
Er winkte ab. „Die steuerliche Begünstigung für Bücher ist längst abgeschafft. Haben Sie das denn nicht in den Medien gehört? Oder gelesen?“
Vielleicht einen Monat später hatte ich einen leichten Auffahrunfall. Nichts Schlimmes, und die Frau, die in mich hineingerast war, vergoss mehr Tränen als es wert war. Ich hatte allerdings leichte Nackenbeschwerden, deshalb ging ich zum Arzt.
„Ja, ein leichtes Schleudertrauma“, bestätigte er. „Ich verschreibe Ihnen etwas.“ Er nahm ein Diktiergerät und sprach seine Verordnung hinein. So ganz nebenbei fragte er mich: „Sie lesen wohl viel?“
Ich verneinte.
Tags drauf fand ich einen ungewöhnlich dicken Brief in der Post. Kein Absender, nicht mal ein Empfänger, auf dem Brief war lediglich ein Strichcode. Eine unbeschriftete Karte war darin, als ich sie öffnete, erklang eine etwas belegte, aber nicht unhöfliche Stimme: „Dies ist eine Nachricht Ihrer Krankenkasse. Die Leistungen Ihres Orthopäden werden nicht übernommen, da Sie falsche Angaben gemacht haben. Zudem erhalten Sie eine Verwarnung. Sollten sich Vorkommnisse wie diese wiederholen, sind wir berechtigt, Sie aus unserer Vertragspflicht zu nehmen.“
Ich rief bei der Kasse an und nannte das einen schlechten Scherz. Ob ich denn im Ernst glaubte, bekam ich als Antwort, dass ich Massagen für mein Privatvergnügen erhalten würde. Ich protestierte und verwies auf den Unfall. Man lachte mich aus und sagte, der Arzt hätte festgestellt, dass die Beschwerden ebenso gut vom vielen Lesen kommen könnten. Dass es der Unfall war und nicht Haltungsschäden vom Halten schwerer Bücher, das müsste ich erst beweisen.
Wütend warf ich den Hörer von mir.
Mein Buchhändler begrüßte mich freudig. „Gott sei Dank sind Sie hier! Ich glaubte schon, heute kommt gar niemand.“
Irritiert aber erfreut über die Begrüßung nickte ich ihm zu. „Ein ungewöhnliches Cover“, sagte ich zu einem ausgelegten Buch. Ein weißer Streifen war darauf geklebt mit dicken schwarzen Buchstaben: LESEN SCHADET DEN AUGEN.
Erst dann sah ich, dass auch andere Bücher ähnlich beschriftet waren. Ich rieb mir ungläubig die Augen. LESEN FÜHRT ZU VERSPANNUNGEN stand da. LESEN HINDERT SIE AN SPORTLICHEN BETÄTIGUNGEN. LESEN VERENGT DEN KARPALTUNNEL.
Ich fand das Buch, das ich suchte. Robinson Crusoe; ich wollte es meinem Patenkind schenken. LESEN FÜHRT ZU VEREINSAMUNG stand da. Ich ließ das Buch liegen.
Wie weltfremd war ich geworden? Politik hatte mich nie besonders interessiert, vom Tagesgeschehen wusste ich nicht besonders viel. Hatte ich versäumt mitzukämpfen, als hirnlose Politiker das Lesen diffamierten und sich die intellektuelle Bevölkerung dagegen empörte? Denn was anderes als Empörung konnte die Reaktion auf solche Lügen übers Lesen sein?
Ich rannte zu einem Kiosk und verlangte eine Tageszeitung. Man wies auf ein Regal voller CDs. „Ich sagte, ich will Zeitungen!“ brüllte ich wütend. Verdutzt sagte der Verkäufer: „Aber das sind sie doch!“
Ich hörte mir die Zeitung an. Sie war klug gemacht. Statt zu zitieren hörte man die jeweilige Aussage original von der entsprechenden Person. Eine halbe Bundestagsdebatte über den Bau eines Helikopterlandeplatzes vor dem Bundestag lag mitgeschnitten vor.
Vom Lesen: nichts.
Ich machte eine Vortragsreise ins Ausland. Drei Monate reiste ich durch China, wo ich mit meinem schlechten Englisch chinesischen Studenten etwas über die europäische Revolution der Aufklärung erzählte. Wie falsch das alles in dieser fremden Sprache klang.
Wieder in Deutschland gelandet fragte man mich am Zoll, ob ich etwas zu verzollen hätte. Ich verneinte. Man durchsuchte mein Gepäck und fand ein dünnes Faltblatt mit Informationen zur chinesischen Mauer, das ich bei einem Besuch dort mitgenommen hatte.
Es landete sofort im Schredder. „Soso, also nichts zu verzollen, sagten Sie? Das wird Konsequenzen haben! Sie sind ja schon als auffällig registriert!“
Ich war den Tränen nahe.
Computer und Zubehör waren in den Schaufenstern meines Bücherladens ausgestellt. Ich wollte schon enttäuscht abdrehen, als ich ein Schild sah, das mit den Worten „Buchecke“ auf eine dunkle Ecke wies. Ein etwas bulliger Mensch stand dort; er machte mehr den Eindruck eines Aufsehers als eines Verkäufers.
Ich blätterte in einem Buch, das keinen Titel trug. Es waren nur Bilder darin. Das nächste genau so. Alle.
Ganz versteckt in einem engen Regal fand ich ein paar Hörbücher. Sie waren schwindelerregend teuer. LESEN SCHADET DER PHYSISCHEN UND PSYCHISCHEN GESUNDHEIT war auf einem Cover gedruckt. LESEN FÜHRT ZUR VÖLLIGEN ERBLINDUNG. Und: LESEN ZERSTÖRT DEN FREIEN INTELLEKT.
„Suchen Sie was?“, fragte der bullige Typ. Nie zuvor hatte ich diese Worte drohender gehört. „Ja, ein bestimmtes Buch, und zwar Fahrenheit 451 von Ray Bradbury.“
Er sah mich misstrauisch an und hielt mir ein Mikrofon vor die Nase. „Wiederholen!“
Wie auf einen Befehl sprach ich den Titel und Autoren ins Mikrofon. Als Antwort piepste es unangenehm.
„Index“, sagte der Mann.
„Wie bitte?“, fragte ich.
„Der Titel steht auf dem Index, und in deine Akte ist ein Vermerk mehr gekommen. Und jetzt scher dich weg!“
Auf der Straße erkannte ich den alten Buchhändler. Er ging gekrümmt wie bei einem Rückenleiden. Er sah mich und wandte sich schnell um, als wollte er flüchten. Ich holte ihn sofort ein. Es dauerte lange, bis er sich von mir auf etwas zu trinken einladen ließ. Es dauerte weitere fünf Schnäpse, bis er mir wirklich vertraute.
„Ich weiß, wo es noch Bücher gibt. Echte. Ungeschnittene. Ohne Bilder. Sie haben doch genug Geld?“
Er nannte mir eine Adresse.
Es war ein Sexshop, finster und stickig. Ich druckste etwas vor der molligen Verkäuferin herum. „Bumsen links, Oral und Anal rechts, Fetisch gleich daneben.“ Sie beäugte mich belustigt. „Gays gleich dort hinterm Vorhang.“
„Nein, ähm, vielen Dank, aber ich suche … ich habe gehört, dass … Sie hätten Bücher …“
„Magazine sind gleich dort drüben“, rief sie da hastig und mit überlauter Stimme. „Titten und Ärsche, Monstertitten, Lederdominas, Sie wollen doch bestimmt Lederdominas?“
„Nein, entschuldigen Sie, ich suche keine Dominas, ich suche …“
„Doch, doch, genau das suchen Sie, glauben Sie mir! Schauen Sie doch mal rein, es wird Ihnen gefallen!“
Sie drückte mir ein Magazin in die Hand, auf der eine in Schwarz gezwängte Frau mit Schlange um den Hals und Peitsche in der Hand auf einem zusammengekauerten Mann posierte. Ich schlug es auf.
Zwischen Bildern, die mir die Nackenhaare sträuben ließen, entdeckte ich eine eng bedruckte Liste. Sie fiel mir eigentlich nur deshalb auf, weil es die ersten Buchstaben waren, die ich seit langem erblickte.
Ich fand den gesuchten Titel „Fahrenheit“ nach längerem, weil ich wegen der Dunkelheit und den schlechten Augen das Magazin ganz nah an die Nase halten musste. „So ein geiler alter Bock“, hörte ich einen Kunden sagen.
„Das da bräuchte ich“, sagte ich der Frau und zeigte darauf.
„Kerzenwachs und Branding!“, rief sie laut, und dann ganz leise in mein Ohr. „Ein viel zu heißer Titel. Brandgefährlich. Eine Woche Lieferzeit und nur gegen Vorbezahlung.“
Ich bezahlte. Sie drückte mir ein Lesben-Magazin in die Hand, das ich beim Herausgehen schwenken sollte. Als Alibi.
Eine Woche später erschien ich wieder im Laden. Die Frau sah etwas anders aus als sonst. Sie machte einen leicht gehetzten Eindruck, dachte ich viel zu spät.
„Meine Bestellung ist da?“, fragte ich.
Sie nickte stumm und schob mir eine braune Papiertüte entgegen. Ich zog ein zerfleddertes Taschenbuch heraus. „Genau das habe ich gesucht!“, rief ich erfreut. Da erst sah ich die Tränen in ihren Augen. Hinter Vorhängen, die mir bis dato noch nicht mal aufgefallen waren, stürmten uniformierte Menschen auf mich ein und zogen mir einen Sack über den Kopf.
Zwei Wochen später wurden mir die Rechte vorgespielt.
Ich erzählte meine Geschichte dem Mikrofon auf dem Tisch. Letzte Woche bekam ich eine Anfrage, ob man meine Geschichte in der Zeitung verwenden dürfe. Ich stimmte erfreut zu. Endlich würde meine Geschichte bekannt, endlich würden die Missstände aufgedeckt.
Gestern erhielt ich die Zeitungs-CD. Bevor ich meine Stimme hörte, war da mit strenger Stimme gesprochen:
„Es folgt der Bericht eines unheilbaren Verbrechers, ein lebender Beweis für die schädliche Einwirkung geschriebenen Gedankengutes auf die psychische Gesundheit unserer Gesellschaft.“