Leonie und der Traumdieb
Leonie träumte nicht mehr. Schon seit Wochen zogen die Nächte an ihr vorüber, ohne auch nur einen einzigen Traum. Sie sah keine grünen Wiesen, keine Spiele mit ihren Freunden, keine Wochenenden bei ihrer Großmutter auf dem Bauernhof. Leonie hatte einfach keine Träume mehr. Und so waren die Nächte endlos lang. Sie wälzte sich unter der Bettdecke und wartete auf den nächsten Morgen. Wo waren ihre Träume?
Leonie starrte an die Zimmerdecke. In jenem Moment schoss ein gleißend heller Strahl zu ihrem Fenster herein, und Leonie saß kerzengerade im Bett. Was konnte das bedeuten?
Im Zimmer leuchtete es matt gelb und neben ihrem Bett standen drei Gestalten. Leonie rieb sich die Augen, denn sie dachte, dass diese ihr einen Streich spielten. Doch die drei Gestalten verschwanden nicht. Eine kleine Sonne, ein Mond und ein Stern standen vor dem Bett. Sie waren quicklebendig und hatten jeder zwei Arme und zwei Beine. Ihre Gesichter strahlten Leonie freundlich an.
„Hallo, Leonie“, sagten sie wie aus einem Mund.
Leonie kroch aus dem Bett und stellte sich erstaunt vor die drei.
„Wir benötigen deine Hilfe“, sagte die Sonne, deren Strahlen Leonie wärmten und das Zimmer erleuchteten.
„Habe keine Furcht“, beruhigte der Stern die verwirrte Leonie und nahm ihre Hand.
„Wir nehmen dich mit“, flüsterte der Mond und ergriff Leonies zweite Hand.
Dann hoben sie vom Fußboden ab. Leonie verlor den Grund unter den Füßen, und im nächsten Augenblick flogen die vier zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Leonie erkannte unter sich ihr Heimatdorf, welches wie eine Eisenbahnplatte immer winziger wurde. Sonne, Mond und Stern trugen Leonie sicher durch den Nachthimmel. Leonie hatte keine Furcht, denn ihre drei gelben Freunde kicherten und lachten.
Nach einer halben Stunde, sie hatten die Erde weit hinter sich gelassen, landeten sie auf einem fremden, kleinen Planeten. Es war dunkel, und überall ragten spitze, hohe Felsen aus dem Erdboden. Leonie schaute zurück. Die Erde schimmerte wie ein blauer Fußball im Weltall.
Sonne, Mond und Stern stellten sich vor Leonie. Der Mond begann, mit sorgenvollem Blick zu erzählen.
„Dieses ist die Heimat des Traumdiebes.“
„Traumdieb?“, fragte Leonie. Sie sah in einiger Entfernung einen hohen, schwarzen Berg. Der Mond nickte traurig.
„Jawohl. Dort hinten in dem Berg wohnt er. Er hat vielen Kindern, wie auch dir, die schönen Träume gestohlen.“
„Aber wieso?“, fragte Leonie bedrückt, als sie an ihre Nächte ohne Träume dachte.
Der Stern trat vor.
„Der Traumdieb sammelt die Träume, um von ihrer Schönheit zu leben. Bald hat kein Kind mehr Träume, und eure Nächte werden langweilig.“
Leonie fragte die drei nun, was sie dagegen unternehmen sollte, und der Mond antwortete lächelnd: „Mit unserer Hilfe kannst du die Träume befreien und den Traumdieb besiegen.“
Leonie musste nicht lange überlegen. Sie wollte endlich wieder träumen.
So entschloss sie sich, Sonne, Mond und Stern zu helfen.
Sie gingen nebeneinander durch die dunkle, trostlose Landschaft auf den Berg zu. Nach einiger Zeit gelangten sie an eine Tür, durch die sie in das Innere des Berges gingen.
Dann schlichen sie durch einen langen, durch Fackeln beleuchteten Gang, dessen Wände aus schwarzem, hässlichem Fels bestanden.
„Sieh nur“, sagte die Sonne und zeigte auf einen Raum rechts des Ganges. In jenem Raum schwebten kleine, durchsichtige Seifenblasen. Leonie betrat den Raum, gefolgt von ihren drei gelben Gefährten. In den Blasen erblickte Leonie Bilder von lauter tollen Dingen. In einer Blase sah sie viel Eiscreme und einen Jungen, der darin versank und glücklich naschte. In einer weiteren Blase lief ein blondes Mädchen über eine Wiese und zog einen Papierdrachen hinter sich her. Und dann – Leonie traute ihren Augen nicht – sah sie einen ihrer eigenen Träume. Leonie war zu Besuch bei ihrer Großmutter und fütterte die Hühner im Stall.
„Hier hält der Traumdieb die Träume gefangen“, sagte die Sonne.
Tausende von Seifenblasen schwebten durch den Raum, und in diesem Moment trat aus der gegenüberliegenden Wand eine dunkle Gestalt hervor. Sie trug einen schwarzen Zylinder und einen langen Mantel, welcher auf der Erde schleifte. Das Gesicht der Gestalt war grau und starr.
„Guten Abend“, sagte die Gestalt grinsend und ging langsam durch die Traumblasen.
„Das ist der Traumdieb“, flüsterte der Stern mit sorgenvollem Blick.
„Habe ich deine Träume auch schon?“, fragte der Traumdieb hämisch und zeigte auf Leonie. Leonie nickte. „Ich benötige noch weitere Träume, damit ich davon leben kann“, sagte der Traumdieb und stieß zwei Seifenblasen auseinander. Mit seinen dunklen Augen starrte er Leonie an.
„Nein!“, rief Leonie laut und entschlossen. Sie ging einen Schritt auf den Traumdieb zu. „Sie werden keinem Kind mehr auch nur einen Traum stehlen. Dafür werde ich sorgen.“
Der Traumdieb lachte laut und hob die Hände jubelnd in die Höhe. Dann sagte er: „Mich kann niemand aufhalten. Kinder haben Angst vor mir.“
„Ich nicht“, sagte Leonie mutig und ging einen weiteren Schritt auf den Traumdieb zu.
Die Sonne trat an Leonies Seite und flüsterte ihr zu: „Drücke mich.“
Leonie schaute die süße Sonne verwundert an, nahm sie und drückte sie mit beiden Armen. Je fester Leonie drückte, desto wärmer strahlte die Sonne. Der Traumdieb schirmte sich die Augen mit dem Arm ab.
„Aaaarggghhhh! Die Sonne ist zu heiß!“, rief er und taumelte zurück.
Nun trat der Mond an die Stelle der Sonne, und Leonie musste ihn drücken. Er strahlte heller und heller, und wieder wich der Traumdieb einen Schritt zurück. Zu guter Letzt drückte Leonie den Stern, welcher wie verrückt zu funkeln begann.
Der Traumdieb stolperte, während die Wärme der Sonne, der Schein des Mondes und das Funkeln des Sternes ihn ergriffen und aus dem Raum trugen. Dann brachten sie ihn aus dem Berg hinaus und schleuderten ihn weit ins Weltall.
Die Seifenblasen zerplatzten und die befreiten Träume schwebten vom Planeten des Traumdiebes hinfort zurück zur Erde.
Leonie und ihre drei neuen Freunde liefen hinterher und schauten lächelnd zu, wie die Träume ihren Weg zu den Kindern fanden, von denen sie gestohlen wurden. Schon bald würden die Kinder wieder schöne Träume haben.
Sonne, Mond und Stern jubelten und umarmten Leonie. Sie hatten es tatsächlich geschafft, den Traumdieb zu vertreiben und die Träume befreit.
Und von diesem Tag an hatte auch Leonie wieder ihre Träume, und keine Nacht wurde mehr langweilig.
Der Traumdieb kehrte niemals zurück.