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Leo liest
Buchenweg, Platanenweg, Kirschweg. Hier musste es sein. „Das letzte Haus in der Straße“, hatte sie gesagt. Kai betrachtete die mit Wein und Efeu zugewachsenen Mauern, den verwilderten Garten. Hier also wohnte Leo. Der Star ihrer Fußballmannschaft. Torschützenkönig der Liga.
Seit fünf Jahren spielten sie zusammen Fußball. Damals waren sie acht Jahre alt gewesen und in den ersten Wochen hatte keiner etwas bemerkt. Bis zu dem Tag, als ein Spiel zu einer wahren Schlammschlacht ausgeartet war. Der Trainer hatte sie unter die Dusche gescheucht, alle. Die Jungen standen wie vom Donner gerührt, als Leo nackt in den Duschraum kam. Sie hatte etwas verlegen gegrinst und dann gesagt: „Also so groß ist der Unterschied auch nicht.“ Leo war das einzige Mädchen beim FC 09.
Den Satz ‚So groß ist der Unterschied auch nicht’, bekam seitdem jeder Spieler einer gegnerischen Mannschaft zu hören, der eine blöde Bemerkung darüber abließ, dass beim FC ein Mädchen die Tore schoss. Wobei sich elf Augenpaare auf die Hosen des Unglücklichen richteten. Das hatte noch jeden Lästerer zum Schweigen gebracht.
Eigentlich hatte Leo vorgeschlagen, sich bei Kai zum gemeinsamen Lernen zu treffen. Schließlich war sie es, die Hilfe in Mathe brauchte. Aber er hatte behauptet, dass es bei ihm zu laut sei. Das war eine glatte Lüge, die ihm aber leicht über die Lippen gekommen war.
Leo war tough. Obwohl sie ein Mädchen war, ging sie keiner Rauferei aus dem Weg. Sie hatte sogar mal eine Rote Karte kassiert, weil sie einem gegnerischen Spieler zwischen die Beine getreten hatte. Sie tat es damals mit einem Schulterzucken ab: „Er hat mich beleidigt.“ Was er genau gesagt hatte, behielt sie für sich.
Leo jammerte auch nie rum, wenn sie gefoult wurde. Und weinen hatte er sie noch nie gesehen. Was sollte sie von ihm denken, wenn sie die ganzen Kinder- und Jugendbücher sah. Fantasyromane, Science-Fiction, Märchen, Enid Blyton bis zum Abwinken. Nein, dann schon besser eine Stunde Bus fahren.
Vor der Tür von Leos Haus saß eine schwarz-weiße Katze und maunzte ihn an. Kai suchte nach einem Klingelknopf und fand ihn schließlich mitten auf der Tür. Er drückte darauf und ein schriller Ton hallte durch das Haus. Nichts rührte sich. Er klingelte ein zweites und ein drittes Mal. Als er gerade wieder den Finger auf dem Knopf hatte, wurde die Tür aufgerissen. Ihm gegenüber stand ein großgewachsener Mann, der in der rechten Hand einen altmodischen, grünen Telefonapparat hielt, dessen Hörer er zwischen Schulter und Kopf eingeklemmt hatte. „Einen Moment“, sagte er in den Hörer. Dann brüllte er in das Treppenhaus: „Leo, dein Besuch ist da!“
Im ersten Stock flog eine Tür auf und Kai erkannte im Dämmerlicht der Diele Leos schlaksige Figur. „Komm hoch“, sagte sie. Erst als er die Zimmertür hinter sich schloss, sah er, dass die Katze ihm gefolgt war. „Komm her, Mieze!“, sagte Leo und das Tier sprang ihr in die Arme. Sie setzte sich mit der Katze im Arm auf ihr Bett und Kai sah sich in dem Raum um. Er war baff. Wenn sein Zimmer mit Büchern vollgestopft war, dann war dieses hier überladen. Nicht nur, dass an jeder freien Wandfläche Regale standen. Bücher stapelten sich auch auf dem Fußboden, auf dem Bett, auf Leos Schreibtisch und auf der Fensterbank.
Sie musste seine Verblüffung bemerkt haben. „Was ist?“, fragte sie. „Hab ich Rotz unter der Nase oder so was?“
Das riss Kai aus seiner Erstarrung. Er lehnte sich an den Türrahmen und sah Leo an. „Du liest?“
Jetzt war es an Leo, verblüfft zu sein. „Ja“, sagte sie gedehnt. „Ist das schlimm?“
„Nein“, beeilte Kai sich zu sagen. „Ich hätte nur niemals gedacht, dass du ...“
Leo grinste jetzt: „Was hast du erwartet? Ein Zimmer wie von einem Jungen, vollgestopft mit Computern und Spielekonsolen, einen zugemüllten Schreibtisch, Fußballposter an den Wänden und den Fußboden knöchelhoch voller dreckiger Unterhosen? Kein Problem, da raus, drei Türen nach rechts und deine Träume werden wahr.“
Kai musste lachen. „Na ja. Irgendwie schon, außer den dreckigen Unterhosen vielleicht. Aber so gefällt’s mir viel besser. Ich bin nämlich nicht wie deine Brüder.“
„So, so!“
Leo streichelte die Katze hinter den Ohren. Das Tier legte den Kopf zurück und schloss die Augen, die bisher misstrauisch den fremden Jungen neben der Tür beobachtet hatten.
Kai ging zum Fenster und durchstöberte den Bücherstapel, der auf der Fensterbank lag. Drei Fantasyromane, die er auch kannte. Ein paar Bücher über Mädchen und Pferde. Na ja, nicht gerade sein Fall. Jungen und Hunde wäre gerade noch gegangen. Obwohl, meistens langweilten ihn solche Schmöker inzwischen. Aber vor einem Jahr hatte er sie noch verschlungen. Und ein Krimiband für Kinder. So was hatte er noch nie gelesen.
„Tintenherz kenne ich auch“, sagte er. „Aber die Pferdebücher sind ja wohl unterirdisch. Oder stehst du auf Pferde?“
Leo wirkte plötzlich etwas verlegen. „Die Pferdebücher les ich immer vorm Einschlafen. Die sind so schön unaufregend.“
Die Katze hatte sich auf die Seite gedreht und Leo streichelte ihren Bauch. Das Tier wuchs regelrecht in die Länge, die Vorderpfoten geradeaus gestreckt. Die Hinterpfoten versuchten dem Katzenschwanz Konkurrenz zu machen. Dazu ertönte ein tiefes Schnurren.
„Und du hast Tintenherz gelesen?“, fragte Leo.
Kai nickte: „Ich hab alle drei gelesen.“
„Und welches gefällt dir am besten?“
„Das erste“, sagte er.
„Mir auch“, bestätigte Leo. Dann nickte sie mit dem Kopf in Richtung der Bücherregale. „Wenn du was Interessantes findest, kannst du’s dir ausleihen. Ist kein Problem.“
„Danke“, antwortete Kai und bemühte sich, nicht zu begeistert zu klingen.
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Leo drückte Mieze an sich, bis die anfing zu zappeln und sie die Katze loslassen musste.
Kai sah aus dem Fenster und verfolgte die Autos, die in einiger Entfernung über eine Brücke fuhren. Schließlich drehte er sich um. „Wo wollen wir Mathe machen?“
Leo stand auf und stapelte die Bücher auf ihrem Schreibtisch zu einem kleinen Turm. „Lass mal, ich mach das“, sagte Kai, als sie den Turm hochheben wollte. Leo grinste nur. „Vorsicht!“, sagte sie warnend und hob die Bücher hoch, als wären sie schwerelos. Sie setzte den Stapel auf den Fußboden und schob dann einen zweiten Stuhl vor ihren Schreibtisch. „Lass uns anfangen.“
Zwei Stunden später waren sie beide so erschöpft wie sonst nach einem langen Training. In ihren Köpfen schwirrten Prozentzahlen und komplizierte Winkelberechnungen durcheinander. Leo schlug mit einer dramatischen Geste das Mathebuch zu, stand auf, reckte sich und öffnete dann die Tür.
„Wo willst du hin?“, fragte Kai.
Sie winkte ihm, er solle ihr folgen. „Küche“, sagte sie.
Sie nahmen sich Saft und Brote mit auf Leos Zimmer und aßen dort. Kai ließ seinen Blick immer wieder über die Buchrücken in den Regalen schweifen. Schließlich schnipste Leo mit den Fingern vor seinen Augen und er schüttelte den Kopf. „Was ist los mit dir?“, fragte sie.
Kai war verlegen, entschied sich dann aber für die Wahrheit. „Ich hätte nie gedacht, dass du auch liest.“
„Wieso ‚auch’?“
„Ähm.“ Scheiße, verplappert!
Kai schwieg.
Leo grinste plötzlich: „Wie viele hast du?“
„Wie viele was?“
„Wie viele Bücher hast du?“
Kai musterte abschätzend Leos Bücherregale. „Wahrscheinlich so viele wie du“, antwortete er. „Ich hab sie nie gezählt. Die meisten sind vom Flohmarkt oder getauscht. Ich krieg nicht so viel Taschengeld, weißt du.“
„Woww“, sagte Leo. „So viele wie ich! Darf ich dich mal besuchen?“
„Klar, nächsten Mittwoch. Mathe.“
Leo stöhnte theatralisch.
„Ich denk, bei dir ist es zu laut?“
Wie war das? Lügen haben kurze Beine.
„Ach, nächste Woche ist es leiser. Das geht schon.“
Leo grinste und sah auf die Uhr: „Dein Bus fährt in einer Viertelstunde.“
Kai kaute auf seiner Unterlippe herum und war froh, dass sie nichts mehr zu diesem Thema sagte. Er sammelte das Mathebuch und seine Stifte ein und steckte sie in die Umhängetasche. „Okay dann bis morgen beim Training.“ Er rieb seine Hände an der Hose.
Schließlich machte Leo einen Schritt auf ihn zu und drückte ihn an sich. „Bis morgen dann. Und Danke.“ Erst wusste er nicht, wohin mit seinen Armen. Aber schließlich legte er sie auf Leos Rücken, wie er es auch auf dem Fußballplatz tat, wenn sie mal wieder eine seiner Flanken ins Tor gehauen hatte.
Sie kam mit ihm an die Haustür. Im Hintergrund redete ihr Vater immer noch. „Telefoniert der den ganzen Tag?“, fragte Kai.
Leo rollte mit den Augen. „Ständig, und wir haben nur eine Leitung. Wenn ich mit meiner Freundin reden will, geht das nur über ICQ. Hast du auch ICQ?“
Kai schüttelte den Kopf.
Sie hielt ihm die Tür auf. „Ich kann’s dir ja mal einrichten und zeigen wie’s geht.“
„Nächsten Mittwoch zum Beispiel?“
Leo lachte leise.
„Kai!“
Er drehte sich zu ihr um. Sie trat verlegen von einem bestrumpften Fuß auf den anderen. „Sollte ich wegen deiner Bücher nicht zu dir kommen?“
Kai nickte und merkte, dass er rot wurde.
Leo knuffte ihn an die Schulter.
„Trottel“, sagte sie und klang plötzlich heiser.
„Ja, wahrscheinlich. Trottel“, sagte Kai und dann lief er schnell los, um bloß nicht irgendetwas Mädchenhaftes zu sagen.
Es war besser an die Leo zu denken, die Fußball spielte und coole Sprüche losließ. Eine Leo, die auf dem Bett lag und las, während ihre Katze neben ihr schnurrte, das war etwas ganz anderes. Da musste er sich erst daran gewöhnen.