- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 12
Lenka Sobjerajski
Aus dem Nichts heraus erschien sie eines Tages bei uns im Büro, sie war komplett in schwarz gekleidet, ihre Haltung verriet eine Mischung aus Angst und Selbstbewusstsein. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck stellte sie sich vor. Lenka Sobjerajski, sagte sie, ich brauche Arbeit, ich bin seit gestern hier. Ihr Akzent war russisch, das „r“ hart, das „ch“ dafür aber sehr weich und traurig. Ich stellte Fragen zu ihrer Person, ihrer Herkunft und sie antwortete mir mit ruhiger Stimme. Ich habe nur ein Touristenvisum, sagte sie, aber ich werde bald ein richtiges kriegen, ich brauche aber erst einmal Geld und eine Wohnung. Ich nickte und konnte sie gut verstehen, ich gebe mein Bestes, kommen Sie die Tage noch einmal hier vorbei. Bald darauf wurde eine Stelle als Babysitterin frei, ich gab sie ihr ohne zu zögern, obwohl vor ihr noch viele andere auf der Warteliste standen. Ich weiss gar nicht, warum ich das gemacht habe, wahrscheinlich fiel sie mir schon damals auf. Sie kam direkt nach meinem Anruf ins Büro, in ihrer Hand war ein Blumentopf mit einer Pflanze mit roten und gelben Blüten. Ein Geschenk für dich, sagte sie, das sind Zauberglöckchen. Sie blühen den ganzen Sommer über. Ich wusste zunächst nicht, was ich sagen sollte, dann fragte ich sie, ohne nachzudenken, willst du mit mir einen Kaffee trinken? Sofort sagte sie Ja.
Ich lud sie ins La Stanza ein, es war ein warmer, sonniger Nachmittag, überall herrschte Vorfreude auf den Sommer. Lichterketten säumten die grossen, alten Linden über den Holztischen und Klappstühlen. Eine Live-Band spielte gerade, melancholische Gitarrenklänge wehten aus der Luft zu uns herüber. Lenka redete ununterbrochen, von ihrem Leben Zuhause in Russland, ihren Freunden, ihrer Familie. Sie stellte mir auch viele Fragen, ob ich in der Schweiz geboren sei, wie alt ich sei und wo ich wohnte. Sie strahlte eine solche Lebensfreude aus, dass sie von innen heraus zu leuchten schien, ich erinnere mich noch, dass ich auf dem Nachhauseweg das Gefühl hatte, ein Teil des Leuchtens sei auf mich übergegangen. Daraufhin sahen wir uns fast jeden Tag, wir trafen uns in kleinen Cafés, machten Ausflüge zur Werdinsel oder badeten in den Flussbädern entlang der Limmat. Abends sassen wir in meiner kleinen, engen Küche, tranken billigen Rotwein und hörten Musik. Lenka kochte russische Gerichte für uns und dann sassen wir auf dem Balkon, rauchten Zigaretten und redeten über die Zukunft. Irgendwann, sagte sie, werden wir heiraten, dann kann ich für immer hierbleiben. Als ich schwieg, wurde sie wütend, was ist, fragte sie, willst du etwa nicht, dass ich bleibe? Ich widersprach ihr halbherzig.
Einmal gingen wir an der Uferpromenade spazieren, vorbei am Opernhaus, und Lenka zeigte mit den Fingern auf eine Gruppe Anzugsträger. Schau sie dir nur an, lachte sie, sie schauen aus wie Pinguine, gefühllose, kalte Pinguine, sie wissen nicht, was es bedeutet, zu leben, sie kümmern sich nur um ihr Geld, ihre Arbeit, ihre Autos und vergessen dabei alles andere. Sie sind reich, aber in ihrem Reichtum sind sie arm. In Russland sind die Leute ärmer, aber dafür lachen sie öfter, das Leben dort ist wärmer, hier erfriere ich ja beinahe, sieh nur, meine Finger, sie sind schon ganz blau. Sie streckte mir ihre Hände entgegen, und ich nahm sie in meine, um sie zu wärmen. Ein anderes Mal nahm sie meinen Arm, komm mit, ich muss dir etwas zeigen, und blind folgte ich ihr durch das Gewirr von Strassen, rechts, links, rechts, geradeaus. Sie fing an zu rennen, ohne meine Hand loszulassen, führte mich durch enge Gassen, runde und eckige Pflastersteine und dann eine lange, steile Treppe, die nicht zu enden schien. Irgendwann weiteten sich die Wände, wichen einem grossen Platz mit einem Brunnen in der Mitte. Lenka winkte mich zum Rand, hier, sagte sie, der Stolz in ihrer Stimme war kaum überhörbar. Die Stadt breitete sich vor uns aus, die Dächer glitzerten in der Abendsonne und mir kam es vor, als hätte ich noch nie etwas so Schönes gesehen. Lenka setzte sich auf die Brüstung, ihre langen, dünnen Beine baumelten hin und her, ihre Haare waren ganz zerzaust vom Wind. Ich setzte mich neben sie, unter uns befand sich der Abgrund, seine Anwesenheit schien uns zusammenzuschweißen, gemeinsame Verbündete gegen den Tod. Ich war mir nie mehr danach ihrer Herrlichkeit, ihrer Schönheit stärker bewusst als in diesem Moment, ich liebe dich, flüsterte ich, ihre Stimme zitterte als sie sagte, ich dich auch.
Danach verschwand sie, es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Als ich an ihrer Wohnung vorbeikam, war sie geräumt, das Namensschild weg. Als ich bei den Behörden anrief, hiess es, sie sei ausgewiesen worden. Die Tage schienen nahtlos ineinander überzugehen, ohne dass ich etwas von ihr hörte, aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate. Die Nächte wurden kälter, die Blätter an den Bäumen färbten sich langsam, wurden rot und golden und dann braun, bis sie schliesslich tot auf den Boden fielen. Die Zauberglöckchen auf dem Balkon begannen zu welken. Ich konnte es zunächst nicht glauben, als ich sie am Telefon hörte, war das wirklich sie, warum meldete sie sich jetzt, ihre Stimme kam mir vor wie eine Erinnerung aus einer längst vergangenen Zeit, wunderschön und unendlich schmerzvoll zugleich. Was ist, fragte ich, warum rufst du an, und sie schwieg zuerst, schien mit sich zu kämpfen, konnte es nicht aussprechen. Schliesslich räusperte sie sich, ich bin schwanger. Die Stille, die sich daraufhin entstand, schien uns zu Fremden zu machen, zu Feinden, mir war schwindlig, ich musste mich an der Wand abstützen. Was machst du jetzt, fragte ich schliesslich, auch wenn ich die Antwort schon wusste. Ich werde es nicht behalten, sagte sie, was soll ich denn sonst machen, ihre Stimme war distanziert und ausdruckslos, gib es mir, schlug ich vor. Sie wehrte ab, nein, das will ich nicht, du musst nichts damit zu tun haben, ich wollte dir nur Bescheid sagen. Ich bin schon auf dem Weg zur Klinik, es wird nicht lange dauern, Leb wohl.
Ich wurde krank, tagelang lag ich im Bett, meine Nachbarin kam zwei Mal am Tag um mir etwas zu Essen zu bringen. Ich konnte nicht schlafen und hatte hohes Fieber. Eines Nachts öffnete sich die Tür, ein kalter Windstoss fuhr durch das Zimmer, und dort, im Rahmen, stand das ungeborene Kind, reglos, die Hände schützend um den Körper geschlungen. Seine Augen wanderten durch das Zimmer und auf einmal war mir, als würden die Schränke, Tische und Stühle unter seinem Blick zum Leben erwachen, sie bewegten sich, bäumten sich auf, im nächsten Moment war die Luft erfüllt von bedrohlichen Schatten und ich war wie gelähmt, bitte nicht, wollte ich schreien, doch es ist zu spät, der Raum hatte sich gegen mich gewandt, ein Gewirr von geflüsterten Drohungen hallte von den Wänden bis in den letzten Winkel wider.
Nach einer Woche klang das Fieber ab, die Halluzinationen kamen immer seltener, bis sie schliesslich ganz verschwanden. Zurück blieb ein Gefühl der Taubheit, ich nahm die Welt um mich herum nur noch stückhaft, verzerrt wahr, wie einen Spiegel, den man auseinander gebrochen und falsch zusammengesetzt hatte. Ich ging fast nicht mehr aus dem Haus, mied Menschen, laute Geräusche, Gesellschaften. Irgendwann fiel der erste Schnee, lautlos schwebten die weissen Flocken vom Himmel und legten sich wie eine Decke über die Geräuschkulisse der Stadt, jede Art von Lärm wurde verschluckt, draussen war es nun so still wie tief drinnen, in mir selbst. Noch einmal rief sie an, viele Jahre später, ich hätte ihre Stimme fast nicht erkannt, sie war leiser, brüchiger. Wie geht es den Zauberglöckchen fragte sie, und ich antwortete, sie sind nicht mehr da, ich habe sie weggeworfen. Schade, sagte sie, und wir schwiegen beide, ich wurde auf einmal von einer tiefen Traurigkeit erfasst, ich trauerte um sie, um das Kind, um eine gemeinsame Zukunft, die wir nie hatten. Es tut mir Leid, dass ich angerufen habe, sagte sie endlich, ich musste deine Stimme hören, und dann legte sie auf, mir blieb nichts als das Piepsen, mit dem Leitung unterbrochen wurde.
Ich liebte nicht sie selbst, verstehst du? Ich liebte das, wofür sie stand, dieses Gesamtbild, dass sie verkörperte. Sie war so leicht, sie schwebte mühelos durch das Leben, ohne sich selbst Zwang anzutun, ohne zu grosse Erwartungen an sich selbst zu setzen. Sie erwartete nichts vom Leben und bekam aber dennoch alles. Und ich, der mein Leben so anders gelebt hatte, ich wurde von ihr mitgerissen wie von einem riesigen, leuchtenden Strudel, und als sie schliesslich ging, ging auch ein Teil von mir.“