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Leni und die Karottennase

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10.09.2024
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Anmerkungen zum Text

Die Geschichte wurde bereits in einer Anthologie veröffentlicht, aber ich würde gerne die Meinungen der Wortkrieger dazu hören, bestimmt kann man da noch einiges verbessern.

Leni und die Karottennase

Leni wachte auf. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, warum, doch dann hörte sie es wieder: ein herzerweichendes Schluchzen und Jammern. Doch woher kam es? Wer jammerte denn mitten in der Nacht so laut, dass Leni davon wach wurde? Neugierig und gleichzeitig ein bisschen ängstlich schlug sie die Bettdecke zurück. Der Fußboden war kalt, eisigkalt, doch Leni wollte unbedingt wissen, wer da so großen Kummer hatte. Das Jammern kam eindeutig von draußen. Vorsichtig schlich Leni in ihrem dünnen Nachthemd zum Fenster, wobei sie fröstelnd die Arme um sich schlang.

Eine dicke Schneedecke hatte den Garten verschluckt, die der Vollmond mit blauem Schimmer übergoss, sodass der Schnee bläulich glitzerte. Leni fand, dass es richtig geheimnisvoll aussah, und schön. Doch sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken, außer den Fußspuren, die sie und ihr Papa gestern Nachmittag hinterlassen hatten, als sie zusammen einen Schneemann gebaut hatten. Die Fußspuren rissen dunkle Löcher in die Glitzerdecke um den Schneemann herum, der mitten im Gartenstand mit seinem Kochtopf als Hut und seiner Karotte als-
Halt! Was war das? Wo war denn die Karotte geblieben? Und wer schluchzte immer noch so herzerweichend? Leni kniff die Augen zusammen. Weinte etwa der Schneemann? Sie konnte es kaum glauben, als sie sah, wie der dicke Schneemann sich die Kristalltränen aus den Kohleaugen wischte. Nein, das konnte doch nicht sein! Leni musste hinunter, musste in den Garten und sich vergewissern, dass der Schneemann nicht weinen konnte, weil er eben nur ein Schneemann war. Und Schneemänner weinten nicht.

Schnell schlüpfte Leni samt Nachthemd in ihre Schneehose, die noch von gestern Nachmittag über dem Stuhl hing. Die Hose war eklig feucht und kalt. Hätte Leni sie mal besser über die Heizung gehängt, wie ihre Mutter es gesagt hatte, dann wäre die Hose jetzt trocken und kuschelig warm. Auch der Anorak war feucht und kalt. Leni schüttelte sich und hoffte, dass ihr ganz schnell warm werden würde. Dann schlich sie zur Tür und lauschte. Im Haus war es ruhig, ihre Eltern waren längst zu Bett gegangen.
Leise huschte Leni die Treppe hinunter. Gott sein Dank eine Steintreppe, da konnten keine Stufen knarzen wie bei Oma, dafür wurden ihre kalten Füße noch ein bisschen kälter. Schnell lief Leni zur Haustüre, wo ihre Stiefel standen. Wenigstens die waren trocken und warm. Langsam, damit sie nicht knarzte, öffnete Leni die Haustüre, schob den Holzkeil, der immer hinter der Türe lag, in den Spalt, und schlüpfte hinaus.
Puh, das war aber kalt, so mitten in der Nacht. Der erste Atemzug ließ kleine Eiskristalle in Lenis Nase wachsen, die die feinen Härchen verklebten - jedenfalls fühlte es sich so an. Ihr Atem produzierte ganze Nebelberge, die geheimnisvoll im Mondlicht waberten. Leni sah sich fasziniert um und betrachtete das Glitzern des Schnees, das mit den Sternen am Himmel um die Wette funkelte. Die Sterne sahen aus, als wären sie kleine Glitzerkäferchen, die vor Aufregung hin und her zitterten – oder weil sie froren.

Da hörte Leni plötzlich das Schluchzen wieder. Schnell stapfte sie durch den knirschenden Schnee und stand kurz darauf vor dem Schneemann, der tatsächlich weinte. Leni wollte es immer noch nicht glauben. Doch da schniefte der Schneemann und sah sie an, die eisigen Tränenspuren zu Glas gefroren.
„Huhuhu, es ist so schrecklich, so furchtbar schrecklich ist es, huhuhu.“ Seine Stimme klang, als ob er sich die Nase zuhalten würde. Kein Wunder, er hatte ja auch keine mehr.
„Aber was ist denn so schrecklich, dass du so furchtbar weinen musst?“, fragte Leni immer noch verwundert.
„Meine Nase! Der Weihnachtsmann hat meine Nase mitgenommen“, schniefte der Schneemann.
„Der Weihnachtsmann hat dir die Nase geklaut?“, fragte Leni. „Das glaube ich nicht. Was sollte denn der Weihnachtsmann mit deiner Nase anstellen?“
„Huhuhu, er hat sie nicht geklaut, er hat höflich danach gefragt, aber ich musste sie ihm einfach geben, denn seine Rentiere haben Hunger.“
„Seine Rentiere? Fressen die nicht Heu?“, fragte Leni.
„Ja, huhuhu, normalerweise schon, aber diesen Winter hat der Weihnachtsmann das Heu schon längst aufgebraucht, weil es dieses Jahr besonders kalt ist am Nordpol. Da musste der Weihnachtsmann jedes Fenster und jede Ritze in seiner Weihnachtswerkstatt mit Heu ausstopfen, damit die Weihnachtswichtel bei der Arbeit nicht frieren.“
Das konnte sich Leni allerdings gut vorstellen, wie man frieren konnte, vor allem, wenn man eine feuchte Schneehose anhatte und in einem winterweißen Garten zur nachtschlafenden Zeit herumschlich.
„Und ihre Betten hat der Weihnachtsmann auch doppelt und dreifach mit Heu aufgeschüttet“, schluchzte der Schneemann. „Denn wenn die Weihnachtswichtel frieren, können sie die Geschenke nicht rechtzeitig fertig bekommen und dann gibt es Weihnachten keine Geschenke, huhuhu.“
Oh je, das wollte Leni auf gar keinen Fall!
„Und jetzt hungern seine Rentiere, weil kein Heu mehr da ist. Da hat der Weihnachtsmann alle Karotten von allen Schneemännern eingesammelt, huhuhu. Denn wenn seine Rentiere hungern, kann er Weihnachten die Geschenke nicht verteilen. Und wenn er Weihnachten die Geschenke nicht verteilen kann, muss Weihnachten für alle ausfallen, huhuhu. Jetzt aber fällt Weihnachten nur für mich aus, denn ich kann gar nicht mehr den Schnee riechen und den Tannenduft und den Duft der frischgebackenen Plätzchen und der Zimtstangen und der Bratäpfel und meiner Karotte und überhaupt den Duft von Weihnachten. Huhuhu.“
Leni war froh, dass der Schneemann seine Karotte hergegeben hatte, damit Weihnachten nicht für alle ausfallen musste. Andererseits fand sie es schrecklich, dass er nun all die herrlichen Weihnachtsdüfte nicht mehr riechen konnte. Die gehörten doch genauso dazu wie die Geschenke.
„Oh je, du armer. Das hat der Weihnachtsmann bestimmt nicht gewollt, dass er dir Weihnachten wegnimmt", sagte Leni.
Da hörte der Schneemann auf zu schluchzen und sah Leni mit seinen schwarzen Kohleaugen an. „Kannst du mir nicht eine neue Karotte als Nasegeben, kleine Leni?“, fragte er hoffnungsvoll.
Leni sank in sich zusammen. „Das würde ich sehr gerne tun, lieber Schneemann, aber wir haben keine mehr. Die letzte aus dem Kühlschrank war deine Nase.“
„Oh je, dann muss Weihnachten wirklich für mich ausfallen.“ Der Schneemann begann erneut, laut zu schluchzen. Leni hatte Angst, dass ihre Elternaufwachen würden bei all dem Getöse. Was konnte sie nur tun, wie konnte sie dem armen, traurigen Schneemann sein Weihnachten zurückbringen?
„Hurra, jetzt weiß ich, was ich tue! Warte einen Moment, ich bin gleich wieder da.“

Schnell lief sie zum Haus zurück, das noch immer still und dunkel vor ihr lag. Gott sei Dank waren ihre Eltern durch den Radau im Garten nicht aufgewacht. Vorsorglich zog Leni die Stiefel aus und ließ sie vor der Haustüre stehen. Schnell lief sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte eine grüne Gurke heraus. Dann lief sie zurück, schlüpfte in ihre Stiefel und stand gleich darauf wieder vor dem Schneemann.
„Hier, ich habe eine neue Nase! Das soll mein Weihnachtsgeschenk für dich sein.“
„Oh das ist fein, kleine Leni! Wirklich fein. Das ist aber mal eine schicke Nase. Ich danke dir, kleine Leni, ich danke dir!“ Mit blitzenden Kohleaugennahm der Schneemann die Gurke und steckte sie sich in das Loch, das von seiner ersten Nase übrig geblieben war. Er musste ein bisschen drehen und drücken, denn die Gurke war viel dicker als die Karotte. Dann hielt er still und sog genießerisch die Luft ein. „Oh ja, das ist gut. Nun kann ich den Schnee wieder riechen und den Duft der Tannenzweige – und Gurke. Aber das macht nichts, denn morgen werde ich die Plätzchen riechen können und den Kerzenduft vom Christbaumund all die anderen herrlichen, köstlichen Weihnachtsdüfte. Ich danke dir, kleine Leni, für dein Geschenk, mit dem du mir Weihnachten zurückgebracht hast.“ Seine Stimme klang nun gar nicht mehr so, als ob er sich die Nase zuhalten würde. Denn jetzt hatte er ja wieder eine.
Leni war mächtig stolz auf sich. „Ich hoffe nur, dass die Rentiere vom Weihnachtsmann keine Gurke mögen“, sagte sie.

Doch nun war sie wirklich müde. Sie musste schnell ins Bett, damit sie morgen auch ausgeschlafen war, wenn der Weihnachtsmann die Geschenke bringen würde mit seinen Rentieren, die dank der vielen Karotten von all den Schneemännern bestimmt ganz dicke Bäuche hatten.
„Gute Nacht, lieber Schneemann, und träume schön.“
„Das werde ich, kleine Leni, das werde ich.“

Zufrieden stapfte Leni ins Haus zurück, zog sich leise aus – wobei sie die Schneehose über die Heizung hing – und kuschelte sich unter die Bettdecke. Sie war eingeschlafen, noch bevor sie darüber nachdenken konnte, ob denn alle Kinder, die in der Nacht ein trauriges Schluchzen gehört hatten, ihren Schneemännern im Garten schicke neue Gurkennasen verpasst hatten.

 

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