Lenchen
Lenchen
Lenchen ist zwei Jahre alt. Lenchen ist der ganze Stolz ihrer Eltern. Die Omas, Tanten und Großtanten machen „Kille kille“ und „Dudu“, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und sagen: „Oh, wie süß“.
Lenchen strahlt. Sie ist ein fröhliches Kind. Und sie hat schon einen Freund: Michael, 6 Jahre alt. Manchmal schiebt Michael sie im Kinderwagen. Das findet Lenchen toll, denn niemand schiebt sie so rasant wie Michael. Neulich ist der Kinderwagen in der Kurve umgekippt, da hat Lenchen geweint, aber nicht lange, denn Michael hat sie getröstet. Wenn Lenchen Michael sieht, fängt sie an zu erzählen, will ihm soviel mitteilen, doch leider kann sie noch nicht sprechen.
Vier Jahre vergehen, und Lenchen ist sechs Jahre alt. In zwei Monaten kommt sie zur Schule. Sie kann es kaum abwarten, denn Michael hat ihr erzählt, wie toll es dort ist. Michael ist in der vierten Klasse und schon so erwachsen. Michael liest ihr manchmal Geschichten vor und paßt auf sie auf. Am liebsten liest er Rittergeschichten, und Lenchen stellt sich vor, wie sie als Prinzessin von ihm vor dem bösen Drachen gerettet wird.
Letzte Woche war Lenchen dabei, als Michael Hockey gespielt hat. Sie hat ihn angefeuert wie eine Große. Nun will sie auch Hockey spielen, aber ihre Eltern erlauben es nicht. Lenchen mault schon die ganze Woche, aber ihre Eltern bleiben trotzdem hart. Das Leben ist schon sehr ungerecht. Warum dürfen kleine Mädchen bloß kein Hockey spielen?
Lenchen ist nun zehn Jahre alt. Lenchen geht bald auf's Gymnasium. Wie Michael. Sie schielt auf die Mädchen in seiner Klasse. Die wiederum schielen auf die Jungs in den oberen Klassen, denn mit einem verpickelten 14jährigen wollen sie nichts anfangen. Das freut Lenchen. Michael ist immer noch ihr Held. Manchmal sitzt sie hinten auf dem Gepäckträger, und er fährt sie von der Schule mit dem Fahrrad nach Hause. Dann ärgern ihn seine Freunde, und Lenchen ist traurig. Wenn es nach ihr ginge, würde sie jeden Tag mit ihm fahren.
Lenchen hat ihren vierzehnten Geburtstag gerade hinter sich gebracht und damit auch die erste Party. Sie hat ihren Eltern verboten, jemals Lenchen zu ihr zu sagen. Sie ist Lena und groß und erwachsen. Sie hat ihren Schulkameraden erzählt, daß zu ihrer Party auch Große kommen, wie der Michael zum Beispiel. Er hat es ihr versprochen. Das hebt ihr Ansehen in der Klasse. Als der Michi endlich da ist, hängen die Mädchen wie Kletten an ihm. Das mag Lenchen gar nicht, und sie leidet stumm. Nach der Party sagen alle: „Was für eine schöne Party!“ Lenchen liegt in ihrem Zimmer auf dem Bett, und ihre Mutter versteht überhaupt nicht, was mit ihr los ist.
Lenchen ist sechzehn Jahre jung. Michael ist schon zwanzig und studiert in einer anderen Stadt Politologie. Sie sieht ihn kaum, aber manchmal hat er am Wochenende Zeit für sie. Er weiß so vieles und kann über viele kluge Dinge reden. Das beeindruckt sie und läßt sie selbst so klein erscheinen. Er lacht über ihre Pickel, aber er meint es nie böse. Sie möchte ihm so vieles sagen und traut sich nicht. Das Leben ist nicht schön für Lenchen.
Lenchen ist gerade 18 geworden. Es war eine schöne Feier, sagen die Großeltern, und trotzdem fühlt sich Lenchen allein. Michi wohnt so weit weg und hat so wenig Zeit. Es täte ihm leid, daß er nicht zu ihrer Party kommen konnte, sagt er und fügt hinzu, daß er an sie denkt. Das läßt Lenchen hoffen. Michi geht auf Demos und läuft sogar auf dem Christopher Street Day mit. Er kämpft gegen die Atombombe. Manchmal bleiben die Passanten stehen, schüttelten die Köpfe und lächeln. Das stört ihn am meisten, sagt er, denn Leute, die lächeln, hält Michi für gefährlich.
Lenchen denkt an ihre Zukunft und hat so gar keinen Plan. Sie fühlt sich viel zu weit weg von ihm.
Lenchen wird bald 20. Sie freut sich. Michi kommt und hat ihr eine Überraschung versprochen. Sie hat ihn so lange nicht gesehen, und sie tanzt und singt durch die Wohnung. Michi hat sie zum Essen eingeladen. Dafür hat sie alle ihre Ersparnisse zusammengekratzt und sich ein sündhaft teures Kleid gekauft. Wow, ist das ein Kleid! Ihre Eltern schlagen die Hände über den Kopf zusammen, als sie den Preis hören. Als Lenchen sich dem Anlaß entsprechend vornehm mit dem Taxi ins Restaurant fahren läßt, leuchtet ihr ganzes Gesicht. Doch Michi ist nicht allein. Das Mädchen an seiner Seite stellt er als seine Verlobte vor. Was für eine Überraschung! Lenchen fühlt sich wie in Trance, während Michi schwärmt. Durch die rosarote Brille sieht er so gar nicht, wie sie leidet. Sie bekommt keinen Bissen herunter. Ihr Magen ist wie zugeschnürt. Als Michi sie nach Hause fährt, steht sie eine Stunde vor dem Haus im strömenden Regen, unfähig die Haustür aufzuschließen. Das Kleid ist ruiniert, hängt naß an ihrem zitternden Körper und ist überhaupt nicht mehr wichtig.
Lena ist nun vierundzwanzig. Sie jobt als Kellnerin in einer Bar und leistet sich eine kleine Wohnung. Ihre Eltern schimpfen mit ihr, weil sie ihr Leben vergeudet. Lena läßt sich treiben und weiß nicht, was sie werden will. Manchmal schläft auch ein Mann in ihrer Wohnung, aber nie sehr lange. Michi ist verheiratet und schon deshalb so weit weg.
Mit sechsundzwanzig Jahren glaubt Lenchen, endlich ihre große Liebe getroffen zu haben. Ein Student wohnt nun in ihrer Wohnung, und sie putzt, kocht und schuftet in der Bar, damit sie sein Studium finanzieren kann. Dafür verläßt er sie und läßt sich nun von der Tochter eines Industriellen aushalten. Jetzt ist ihr Konto leer, und der Student vergnügt sich in der Karibik. Lenchen hat auch von der Karibik geträumt. Sie hat es sich alles ganz anders vorgestellt. Träume, Sehnsüchte – und die Ernüchterung tut so weh.
Lenchen läßt sich treiben und ist nun 30 Jahre alt. Eines nachts findet sie einen Mann vor ihrer Tür. Zusammengesunken, wie ein Häuflein Elend sitzt er da, an ihre Tür gelehnt. Sie erkennt Michi erst auf den zweiten Blick. Ihr Herz klopft, und dann fällt sie ihm um den Hals. Die Scheidungspapiere hält er noch in der Hand, das Urteil des Scheidungsrichters liegt erst 8 Stunden zurück. Michi ist todmüde und schläft auf der Gästeliege. Lenchen liegt wach und denkt und denkt. Das Leben ist wieder schön für Lenchen.
Michael bleibt auch noch die nächsten Wochen, denn erstmal braucht er eine neue Wohnung. Wenn es nach Lenchen ginge, könnte er für immer bleiben. Michi sagt, sie wäre ein guter Kumpel. Einer, mit dem man Pferde stehlen kann. Das trifft sie. Sie will kein guter Kumpel sein. Lenchen leidet still vor sich hin, aber sie sagt nichts. Sie will ihn nicht wieder verlieren.
Mit 32 lernt Lena einen Mann kennen. Er heißt Daniel und verzaubert sie mit seinen haselnußbraunen Augen. Schon längst lebt Michi in einer neuen Wohnung, aber er begutachtet kritisch Lenchens Freund. Fast ist er ein wenig eifersüchtig und redet Lenchen ins Gewissen. Sie fühlt sich geschmeichelt, denn noch nie waren zwei Männer so besorgt um sie. Ein wenig später ertappt Lenchen ihre beste Freundin mit Daniel im Bett. Nun braucht Michi ihr nicht mehr ins Gewissen reden. Eine eisige Hand greift nach ihrem Herzen. Sie fühlt sich nutzlos und allein. Ein stummer Schrei, den Michi nicht hört.
Mit 36 Jahren schafft Lenchen etwas, worüber ihre Eltern endlich stolz sein können: Sie veröffentlicht ein Kinderbuch. Ein Buch über Drachen, Ritter und Prinzessinnen. Leider ist Michi nicht mehr da, denn er hat eine Auslandsstellung in Amerika angenommen. So gerne würde Lenchen Michi’s Stimme hören, wenn er ihr Kinderbuch liest. Es kommen nur noch selten Briefe, denn Michael ist jetzt ein hohes Tier. Manchmal redet sie mit seinem Foto, das er ihr geschickt hat. Unübersehbar pinnt das lachende Gesicht an ihrer Wohnungstür. Prinz Eisenherz ist so weit weg.
Mit 39 kann Lenchen die Leere in ihrem Leben nicht mehr ertragen. Sie plündert ihr Konto und fliegt nach Amerika. Einmal die große, weite Welt – und noch einmal Michael. Sie spielt mit seinen Kindern und ist sogar nett zu seiner Frau. In seiner Position muß man verheiratet sein, sagt er. Aber Michael ist nicht mehr derselbe. Manchmal schaut er sie lange und ernst an. Da ist eine Tiefe in seinem Blick, die sie noch immer fasziniert. Doch es gibt diese Frau und seine Kinder, und eine Sehnsucht, die er nicht zuläßt. Bevor Lenchen zurückfliegt, stehen sie beide stumm auf dem Flughafen. Es gäbe so viel zu sagen – und keiner hat den Mut dazu.
Mit vierzig ist für Lenchen das Leben vorbei. Sie stirbt an einer Überdosis Schlaftabletten. Vierzig Jahre Hoffnung – und immer wieder nichts. Mit Michi fing ihr Leben an. Mit ihm hört es nun auf.
Michael fliegt über den großen Teich und weint lautlos an ihrem Grab. Es tut ihm alles so furchtbar leid.