- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Lena
Endlich ertönt das laute Klingeln der Schulglocke und erlöst Lena von ihren Qualen, die sie jeden Tag immer und immer wieder erlebt. Kaum ist der Lehrer zur Tür hinaus, läuft sie aus der Klasse und sperrt sich in eine der kleinen Kabinen vom Mädchenklo ein. Weinend, wie jeden Tag verbringt sie dort die Mittagspause.
Eigentlich sollte sie es gewöhnt sein von den anderen Schülern und Schülerinnen geärgert zu werden. Denn sie ist schon immer eine Außenseiterin gewesen. Die mit der Brille und der Zahnspange, die Streberin, die keine Freunde hat. Ja, das war eine passende Beschreibung. Dabei wünschte Lena sich nur eines. Sie strebt nach dem Glück endlich auch einmal beliebt zu sein. Einmal wollte sie dazu gehören. Mit der coolsten Clique aus ihrer Klasse befreundet sein und akzeptiert werden, so wie sie war. Doch wie sollte sie sich Respekt verschaffen, wenn jeder sie nur als Außenseiterin sah und sich über sie lustig machte?
Oft stellt sich Lena vor, wie es wäre, wenn sie eine der beliebten Mädchen wäre. Wenn sie keine Zahnspange und keine Brille hätte. Wenn ihre struppigen Haare, genauso glatt und blond wären, wie die von Marie. Wenn sie jeden Tag das perfekte Outfit tragen würde und immer wunderschön geschminkt sein würde. Dann würden die niedermachenden Bemerkungen, die an Lenas Selbstvertrauen, dass sowieso nur von minimaler Größe ist, nagen endlich aufhören und sie könnte ein genauso perfektes und glückliches Leben führen, wie alle anderen auch.
Laute Stimmen und Schritte kündigen an, dass mehrere Mädchen das Klo betreten. An dem Geräusch, was die Absätze der Schuhe von den Mädchen, auf dem kalten, harten Fliesenboden verursachen, erkennt Lena sofort, dass es Marie und ihre drei besten Freundinnen sind.
„Habt ihr Lena heute gesehen? Wie die wieder aussieht. Zum Davonlaufen“, fängt Marie an zu lästern, ohne zu wissen, dass Lena ebenfalls im Klo ist. Die anderen Mädchen lachen und Lena unterdrückt ein trauriges Schluchzen.
„Ja, sieht echt schrecklich aus. Ihre Haare und erst die doofe Brille“, sagt nun eine andere Stimme und wieder ertönt das Lachen, von vier Mädchen.
Lena vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen und versucht verzweifelt die Tränen zu stoppen. Sie ist es leid, den anderen ihren Schmerz offen zu zeigen und wünscht sich, sie wäre stark und könnte sich gegen die Lästerattacken endlich wehren.
Maries drei Freundinnen betrachten sich kurz im Spiegel und stolzieren dann wieder zur Tür.
„Marie, kommst du?“, fragt eine der drei Mädchen, die Marie überall hin begleiteten.
Marie war sozusagen die allwissende und perfekte Anführerin der beliebten Mädchenclique, zu der Lena liebend gerne dazu gehören möchte.
„Ich komm nach“, antwortet Marie. In ihrer selbstsicheren Stimme liegt ein seltsamer Unterton. Einen Moment ist es still. Maries Freundinnen zögern kurz und verlassen dann verwirrt das Klo.
Es kommt nicht oft vor, dass Marie ihre eigenen Wege geht. Lena lauscht gespannt. Die Toilettentür fällt ins Schloss und dann ist alles leise, bis ein Schluchzen zu hören ist. Zuerst glaubt sie, sie hätte dieses Geräusch unbewusst verursacht, doch als es ein zweites Mal erklingt, ist sie sich ganz sicher, dass es Marie sein musste. Ihr fällt kein Grund ein, warum ausgerechnet die selbstbewusste Marie im Mädchenklo weint, genauso wie sie.
Lena linst durchs Schlüsselloch und erkennt im Spiegel ihr verweintes Gesicht und die traurigen Augen, anstatt das spöttische und arrogante Lächeln, was Marie sonst immer aufgesetzt hat. So als könnte Marie sich selbst nicht mehr ansehen, presst sie ihre Hände auf ihr Gesicht und sinkt auf ihre Knie. Wie ein Häufchen Elend hockt sie da und weint traurig vor sich hin. Lena ist es unklar, warum ausgerechnet die beliebte Marie, jetzt hier einsam sitzt und so traurig ist.
Jahrelang ist Lena auf Marie und ihr fehlerloses Leben schon eifersüchtig. Sie ist unglaublich hübsch, jeder Junge starrt ihr nach, so als ob ein Supermodel vorbei gelaufen ist und noch dazu, sind ihre Eltern auch noch stinkreich und sie bekommt alles was sie will. Doch jetzt ist alle Eifersucht verschwunden und Lena sieht den Schmerz in Maries Gesicht, den sie vor allen anderen verbergt, wie ein Geheimnis, das niemand erfahren darf. Mitleid durchströmt ihren Körper und sie kann ihre eigenen Gefühle mit denen von Marie identifizieren.
Ohne nachzudenken verlässt sie das Klo und will Marie trösten. Als Marie bemerkt, dass sie belauscht wurde, ist sie sprachlos und mit ihren, vor Entsetzen geweiteten Augen, starrt sie Lena an.
„Ha-ll-o“, stottert Lena, als ihr bewusst wird, dass sie gerade den Menschen, der sie jahrelang verspottet hat, trösten will.
„Was willst du hier?“, zischt Marie wütend, als sie den ersten Schock überwunden hat.
„Ich…ich wollte fragen, warum du weinst“, antwortet Lena.
„Verschwinde!“, ruft Marie, während eine Träne über ihre Wange rinnt.
Anstatt, das Lena auf den Befehl hört, setzt sie sich neben Marie auf den Fußboden.
„Hast du nicht gehört was ich gesagt habe?“, schreit Marie weiter. Ihre Stimme klingt nicht so hart und selbstsicher wie sonst und diesmal lässt Lena sich nicht einschüchtern.
„Ich komme oft hier her, um zu weinen“, beginnt Lena zu erzählen.
„Was interessiert mich das?“, unterbricht Marie und wirft Lena einen genervten Blick zu.
„Ich kenne mich aus, mit Problemen und wie man sie am besten verarbeitet“, fährt Lena fort ohne auf Marie zu achten, „Anfangs ist es schwer, doch es hilft darüber zu reden. Ich rede oft mit meiner großen Schwester, sie hilft mir sehr. Ohne sie, wäre ich wahrscheinlich nicht einmal stark genug, noch in die Schule zu gehen.“
Marie öffnet den Mund, schließt ihn jedoch gleich wieder und lauscht gespannt.
„Mit meinen Eltern kann ich nicht so gut reden, sie verstehen mich nicht“, erzählt Lena weiter.
„Für meine Eltern bin ich nur Luft“, unterbricht Marie dann wieder, diesmal, jedoch nicht um Lena zu verscheuchen, „Für sie zählt nur Geld. Sie fragen mich nie wie es geht oder wie es in der Schule war, sie geben mir Geld und denken, dann ist alles gut. Die meiste Zeit sind sie nicht zu Hause. Auf Geschäftsreise, um Geld zu verdienen natürlich. Sie lassen den Butler, James, dann auf mich aufpassen, doch wie sollte er mir die Liebe geben, die mir eigentlich meine Eltern geben sollten?“
Die Verzweiflung in Maries Stimme ist kaum zu überhören, als sie Lena, die eigentlich nicht zu ihren Freunden zählt, ihre Probleme gesteht.
„Das tut mir Leid“, flüstert Lena leise.
„Was tut dir Leid? Habe ich es nicht verdient? Ich habe dich jahrelang ohne Grund verspottet und fertiggemacht, nur weil ich mich deshalb gut gefühlt habe. Ich bin eine schreckliche Person“, sagt Marie und sieht Lena entschuldigend an.
„Niemand hat so etwas verdient und falls zu reden willst, ich habe immer ein Ohr offen und auch eine Schulter zum ausweinen“, bietet Lena, ihrer eigentlichen Feindin trostvoll an.
„Danke, dass weiß ich zu schätzen“, bedankt sich Marie und ohne Vorwarnung, schlingt sie ihre Hände um Lena und umarmt die freundschaftlich.