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Lemmy und Sid
„Die Katze heißt jetzt Sid!“, sagt der Mann.
Aha. Mir eigentlich egal, worauf das Tier nicht hört. „Hast du ihm Sitzen auf Kommando beigebracht, oder warum?“, frage ich.
„Sid. Mit d wie Dora!“, sagt der Mann. „So wie Sid Vicious.“
Ach so. Wer war das nochmal? Ich sehe die Katze. Es fällt mir wieder ein. Der eine von den Sex Pistols. Ich starre auf die Katze und frage den Mann: „Warum?“
„Hat sich so ergeben. Ich wollte ein paar verfilzte Stellen aus dem Fell schneiden. Dann wollte ich es wieder grade schneiden. Dann hatte ich die Idee mit dem Bartschneider.“
Lockdown. Der zweite. Der Irokesenschnitt unserer Maine Coon ist oben zweifarbig. Das ist noch vom ersten Lockdown. Da hatte ich beim Aufräumen noch Henna gefunden, und dachte, es könnte der Katze stehen. Jetzt ist es zur Hälfte rausgewachsen. Wie die Zeit vergeht.
Der Mann und ich beschäftigen uns still. Unabhängig vom anderen. Unsere Beziehung steht. Ich beantworte gerade ein paar Kleinanzeigen. Zum Beispiel die von Familie Kessler. Sie verkaufen ein Kaffeeservice-Set für zwölf Personen. Weiß mit blauen Blümchen.
Liebe Familie Kessler! Vielen Dank für ihre Anzeige. So ein Service hatte meine Oma auch. Es war das Geburtstags- und Feiertagsgeschirr. Wenn dieses Kaffeeservice gedeckt wurde, dann wussten wir, es wird Eierlikör geben. Selbstgemachten. Auch als Kind gab es immer ein Probierlöffelchen. Großartig. Sie haben mich mit ihrer Anzeige auf die Idee gebracht, mal wieder Eierlikör zu machen.
Viele Grüße!
Allerdings brauche ich dazu noch Orangen und Puderzucker. Ich setze es auf die Liste. Wir sammeln jetzt ja immer für den Großeinkauf. Die nächste Anzeige ist von Mirco S. Er möchte eine sehr gut erhaltene Wohnwand verkaufen. Eiche rustikal teilmassiv. Mit schmiedeeisernen Beschlägen. Der deutsche Klassiker.
Lieber Mirco!
Hundert Euro für dieses Prachtstück ist wirklich kein Geld. Man sollte es dir aus den Händen reißen. Es ist ein Jammer und eine Schande, dass solche Möbel heute nicht mehr nachgefragt werden. Zu deinem Anzeigenjubiläum (heute vor einem Jahr) wünsche ich dir jedenfalls alles Gute und deinem Schrank ein baldiges neues Zuhause. Liebe Grüße.
P.S: Ist nur so eine Idee, aber vielleicht ist es gemeinsam leichter, diesen Einrichtungsstil wieder unter die Leute zu bringen. Hier jedenfalls mal eine Liste mit Kontaktnummern von Möbeln, die mit deiner Wohnwand gut zu kombinieren sind.
Viele Grüße!
Auf die beigefügte Liste setzte ich als erstes den Wohnzimmertisch Eiche/gefliest von Karin.
Der Mann nennt diese Art Tisch Rittertafel. Das hab ich ewig nicht verstanden. Bis ich auf YouTube mal eine alte Stern-TV-Reportage über die Familie Ritter aus Köthen gesehen habe.
Auf jeden Fall muss auch der beige Fernsehsessel Polster/dezente Musterung dazu. Zum Klappen. Funktioniert tadellos. Zu verschenken. Am Rest der Liste arbeite ich noch. Sollte der Lockdown bis in den Februar reichen, werde ich ebay Kleinanzeigen komplett umgebaut haben. In eine Sozial-Media-Plattform, sortiert nach Einrichtungsstilen. Oder Interessen. Oder Selbsthilfegruppen.
Der Mann kommt ins Zimmer. Diesmal hatte er den Bartschneider offensichtlich gegen sich selbst gerichtet.
„Der Mann heißt jetzt Lemmy“, sagt der Mann. Er hat sich so einen Finster-Bart rasiert. So wie der Typ von Motörhead. Er nennt es einen Motör-Beard.
„Soll ich gucken, ob noch Henna da ist?“, frage ich.
„Unsinn. Wenn der gefärbt wird, dann mit Altöl!“
Die Katze schleicht dem Mann um die Füße. Sie sind jetzt ein Team.
„Lemmy wurde damals engagiert, um Sid Vicious das Bassspielen beizubringen. Hat nicht so gut funktioniert. Live haben sie bei den Sex Pistols den Bass immer sehr leise gemacht. Dann gings.“
„Aha.“, sage ich. Bombenstory. „Ich nehme mal an, du wirst es bei unserem Sid auch nochmal probieren? Mit dem Bass mein ich.“
Mann und Katze verschwinden Richtung Musikkeller.
Auf meiner Merkliste bei ebay Kleinanzeigen wird immer deutlicher, dass Vernetzung hier alles ist. Und es fehlt. Die Anzeigen schreien danach. Ich beginne damit, Kleingruppen aufzubauen. Sehr gut. Der Tag bekommt doch noch seinen Sinn. Dabei fing es gar nicht gut an.
Der Käse-Produzent hat mir per Mail mitgeteilt, dass meine Jahresration kalorienarmer Proteinkäse an der Grenze festhängt. Kommt aus England nicht raus. Wegen Covid. Weil Grenze dicht. Später erst recht nicht mehr. Wegen Brexit. Der hat nur 173 Kalorien pro hundert Gramm. Der Käse. Brexit wird wohl fetter.
Dann hatte ich eine Diskussion mit dem Mann, was im Fall einer Quarantäneanordnung zu tun wäre. Er stellt sich das so vor, dass er den Musikkeller nicht verlassen darf. Nur Netflix und Playstation und alte CD`s. Und ich ihn mit gekühlten Getränken und allerlei Mahlzeiten versorge. Nur die Katze darf zu ihm.
Ich stelle mir das so vor, dass der Mann mir die amtliche Anordnung vorlegt. Und ein Echtheitszertifikat der Anordnung. Von der Polizeibehörde. Sowie eine notarielle Beglaubigung des kompletten Vorgangs. Das alles werd ich dann erstmal von Anwalt.de anfechten lassen. Und solange das läuft, nimmt er bitte an der Aufrechterhaltung unseres Haushalts teil. Auch gerne mehr als bisher.
So. Nun aber zu der anstehenden Arbeit. Ich sortiere die Kleinanzeigen aus fünf Kilometern Umkreis nach Preis. Bis zwanzig Euro ist ok. Dann schreibe ich die Leute auf dieser Liste an, die die Anzeigen aufgegeben haben.
Liebe Inserierenden!
Ich freue mich, Sie zu unserem diesjährigen Kleinanzeigen-Wichteln einladen zu dürfen. Die Teilnahme ist ganz einfach. Packen Sie Ihren Artikel hübsch weihnachtlich ein und schreiben Sie mir, dass Sie mitmachen. Dann gebe ich Ihre Adresse einem anderen Inserenten und der bringt Ihnen seinen Artikel als Weihnachtsgeschenk an die Haustür. Das gleiche müssen Sie natürlich mit ihrem Artikel machen.
Das macht Spaß und bringt ein wenig Freude in diese traurige Zeit.
Viele Grüße!
Die Mail verschicke ich an alle aus der Liste. 232 Mal. Auch an den, der die Erotische Designer Tänzerin Rot auf Sockel für 700 Euro anbietet. Er wird sie doch sonst nicht los.
Ich bin soweit zufrieden und gehe in die Küche. Es ist Kartoffelsalat von gestern da. Ich mache dem Mann und mir ein Schüsselchen und schnappe mir noch ein Stückchen Weißbrot und zwei Gabeln. Im Flur mache ich am Spiegel automatisch immer langsamer. Ich werfe einen kurzen Blick hinein und bringe das Brot dann wieder zurück in die Küche. Der Spiegel muss raus aus dem Flur.
Im Keller finde ich Sid und Lemmy. Ein E-Bass liegt auf dem Boden. Die Katze halb darauf. Der Mann liegt auch auf dem Bauch, aber zwei Meter weiter weg. Per Laserpointer gibt er die Melodie vor. Die Katze haut nervös nach dem roten Punkt und trifft immer irgendeine Saite. Der Bass ist schlimm verzerrt und recht laut. Also für mich klingt das schon ziemlich nach Sex Pistols. Der Mann filmt die Szene für YouTube, da gibt es jetzt eine Katzen-spielen-Rocksongs-Challenge. Sagt er.
„Auch Kartoffelsalat?“, frage ich den Mann.
„Eher was rockstarmäßiges!“
Aha. Das rockstarmäßigste, was wir im Haus haben, werden wahrscheinlich die drei Bifi Roll hot sein. Die muss er sich aber schon selber holen.
Ich stecke mir eine Gabel Kartoffelsalat in den Mund.
In unserem Musikkeller hat der Mann über Jahre alles untergebracht, was laut kann und ebay Kleinanzeigen loswerden wollte. Ich werde gleich noch ein paar Musikeranzeigen beantworten. Ich werde Ihnen schreiben, dass wir keinen Platz mehr haben und sie ihr Zeug zukünftig woanders unterbringen müssen. Und ich werde sie loben. Weil sie sich von ihrem Zeug ja trennen. Das ist gut. Sonst endet man irgendwann mit einer Sex-Pistols-Bass-Katze im eigenen Keller. Das tut nicht jedem gut.
„Die Katze heißt jetzt Lobo“, sagt der Mann. „Weil der Vicious gar keinen Iro hatte!“
Von mir aus. Wer auch immer der Lobo jetzt schon wieder ist.