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Lektionen in Sehnsucht

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07.06.2002
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Lektionen in Sehnsucht

Es gibt Worte die vergehen, verwehen,
plötzlich ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren
und ins ewige Verblassen gerückt werden.

Kathrin ist 21, studiert Germanistik und Geschichte auf Lehramt und ist alles in allem eine ganz normale Studentin. Seit dem sich ihr Alltag um Vorlesungen, Seminare, Referate und das tägliche Mensaessen dreht, plant sie ein Auslandssemester, eigentlich redet sie seit der Zwischenprüfung von nichts anderem mehr. England hier, England da, Auslandsbafög beantragen, einen Platz im Wohnheim besorgen – sie ist regelrecht besessen davon. Als sie dann kurzfristig die Zusage bekommt, gibt es noch eine riesige Kathrin-Abschiedsparty. Alle freuen sich für sie. Auch Marc, ihr Freund, mit dem sie seit eineinhalb Jahren zusammen ist. Du wirst mir fehlen, sagt er ihr, als sie das letzte Mal miteinander schlafen Marc befindet sich mitten in den Examensvorbereitungen und ist, ohne es sich selbst einzugestehen, froh, jetzt ein halbes Jahr Ruhe zu haben um sich nur auf das eine zu konzentrieren, und wenn Kathrin zurückkommt hat er seinen Abschluss in der Tasche. Er bringt sie zum Bahnhof, gibt ihr einen Kuss und wundert sich, warum er sich, in diesem Augenblick des Abschiednehmens, freut. Ich melde mich wenn ich angekommen bin, sagt sie noch, dann rollt der ICE an.

6 Stunden später: Marc hat gerade beschlossen die Bücher ruhen zu lassen um am Strand spazieren zugehen, ein wenig den Kopf freiblasen, als das Telefon zum ersten Mal klingelt.
Hej, bin eben angekommen, klingt es aus dem Hörer. Ihr geht es gut. In Heathrow wurde sie von einem Mitglied des Sturas empfangen, jetzt ist sie in ihrem Zimmer. Stell dir vor, staunt sie, jedes Wohnheim hat einen eigenen Computerpool, es ist toll, okay, ich werde jetzt erst mal auspacken. Ich melde mich. Marc hat den Hörer immer noch in der Hand. Hätte er ihr sagen soll, dass er sie schon vermisst? Das wäre eine Lüge gewesen.

Am nächsten Morgen weckt sie ihn. Na, gut geschlafen? Das Kissen riecht noch nach ihr. Die Telefonverbindung ist so gut, dass er für einen Moment glaubt sie läge neben ihm, in seinem Bett. Weil er nicht weiß was er sagen soll, fragt er einfach wann sie zur Uni muss. Kathrin hat heute ihre ersten Veranstaltungen, gestern Abend hat sie schon ein paar Leute kennen gelernt und sich zum Lunch verabredet. Bevor sie auflegt sagt Marc ihr noch, dass er sie liebt.

hallo mein schatz! die uni ist super, ganz anders als bei uns. die profs sind auch nett. habe jetzt noch creative writing, bis heute abend... Marc schaut vom Handydisplay hoch. Als sei sie noch da, denkt er bei sich.

Abends sitzt er am Computer und bestellt Bücher die er für eine Klausur benötigt. Ein Blinken am unteren Bildschirmrand zeigt an, dass eine ICQ Message eingegangen ist. Bestimmt Thomas. Was machst du gerade fragen die Buchstaben unbekannten Ursprungs. Wer bist du? Marc geht in die Küche und macht die Kaffeemaschine an. Heute nacht will er Analytische Geometrie und Integralrechnung wiederholen.
ÜBERRASCHUNG...
Jetzt können wir jeden Abend chatten!
Er steht vor dem Rechner, macht sich eine Zigarette an, inhaliert den Rauch ganz tief ein.
Kathrin?
Er braucht nicht zu fragen. Sie ist es. Der Computerpool hat rund um die Uhr geöffnet.
Morgens um drei rauscht ein Schnarchen durchs Zimmer, er ist am Ende des ersten Abschnittes eingeschlafen.

Fuck, siehst du Scheiße aus, begrüßt ihn Thomas
Marc gähnt. Eigentlich müsste er sich freuen. Seine Freundin, die Frau die er liebt, vermisst ihn. Trotzdem. Irgendetwas ist komisch. Obwohl sie sich in einer anderen Stadt, einer anderen Zeitzone befindet, hat er das Gefühl, dass sie mit ihm aufsteht, frühstückt und sie sich abends zusammen einen Film anschauen.

Es kommt soweit und ihr zwei werdet euch überhaupt nichts zu erzählen haben. Ich meine, sie macht ein Auslandssemester, lernt ein neues Land, eine neue Mentalität kennen und tut doch alles mögliche um uns gegenwärtig zu bleiben. Als ob sie Angst hat, wir könnten sie hier vergessen. Das ist doch krank. Sie weiß genau was du gerade treibst und du wahrscheinlich auch. Schau dich doch mal an.
Thomas ist richtig in Rage nachdem Marc zum dritten Mal nicht zur Examensvorbereitung gekommen ist.

Kathrin kommt gerade noch rechtzeitig. Mit zwei Freundinnen hatte sie sich „Les Miserables“ am Picadilly Circus angesehen. Jetzt ist es kurz nach 22 Uhr. Heute will sie Marc vorschlagen sich eine Webcam zuzulegen. Dann wären sie sich noch näher. Aber Marc ist diesen Abend nicht online. Auch zuhause ist er nicht. Sie quatscht ihm die Mailbox bis zum Ende voll und schreibt ihm eine lange E-mail. Dann geht sie schlafen. Am nächsten Tag dasselbe. Weder zuhause noch auf dem Handy erreicht sie ihn. Seine Eltern, Freunde und Kommilitonen können ihr auch nicht weiterhelfen.

4 Wochen später klingelt bei Kathrin zum ersten Mal das Telefon. Marc.
Sie ist außer sich, brüllt ihn an, macht ihm Vorwürfe, dass er sie nicht liebt, nie geliebt hat. Wo er überhaupt war, warum er sich nicht gemeldet hat, ob es wegen einer Frau ist?
Marc steht in seinem Zimmer, seine Hand, die, die den Hörer hält, zittert. Neben ihm eine Reisetasche, eben hat er ein Flugticket gekauft.
Ich vermisse dich, flüstert er.
Stille. Dann ein Knistern in der Leitung welches das Schweigen durchbricht.
Ich dich auch.

 

Hallo Newa,
du hast sehr gut die Zweifel des jungen Mannes ge-
schildert. Sie gehören zu jeder Beziehung und ich glaube, daß sich viele Leser angesprochen fühlen.
Außerdem gefällt mir das versöhnliche Ende.
Es kommt sehr gut rüber, daß sich beide lieben.
Schöne Grüße, H.S.

 

Hi Newa,

deine Geschichte gefällt mir, sie ist sehr realitätsnah, so eine Situation kenne ich auch zur genüge. Leider kann so eine übertriebene Kontrolle und so ein starkes Verlangen nach Nähe oft eine Beziehung gefährden und zerstören.
Es gefällt mir, dass er sie am Ende wohl besucht und ihre Liebe nicht unter der Entfernung gelitten hat.

Ciao
Stillsearchin

 

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