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Lektion in Ethik
Lektion in Ethik
Ein kurzes Bühnenstück, basierend auf den 21 Punkten zu Friedrich Dürrenmatts dramatischem Werk
„Die Physiker“ und dessen Thematik.
Abfalleimer
Blatt Papier
Moderator
Arzt
Einige wichtige Personen
Gäste
Der Querschnitt eines Fernsehstudios. Eine tägliche Talkrunde im Fernsehen. Die Gäste - der Abfalleimer und das Blatt Papier - sitzen sich gegenüber. Der Moderator hat einen Platz zwischen den Gästen eingenommen.
Abfalleimer: Sie sind doch das Allerletzte! Ein verdammter Heuchler sind sie!
Blatt Papier: Ich halte diese Anschuldigungen nicht mehr aus.
Moderator: Und ich werde diese polemischen Anfeindungen bald nicht mehr dulden! Bitte nehmen sie sich zusammen und konzentrieren sie sich auf die Fakten. Wir haben uns hier nicht versammelt um einander niederzumachen. Das Thema der Sendung lautet „Der bessere Mensch“ und sie fallen im Moment ganz und gar nicht in diese Kategorie. Genaugenommen fallen sie in gar keine Kategorie: sie sind ein Abfalleimer.
Abfalleimer: Ja aber sehen sie alle denn nicht, dass es genau darum nicht geht? Dort sitzt ein Blatt Papier und ich habe es gerade beschimpft. Das ist eine absolut emotionale Reaktion auf seine Ablehnung gegenüber der Unabhängigkeit bestimmter Umstände in bestimmten Situation. Unabhängig davon, wie wir den guten oder besseren Menschen definieren, es ist doch allein wichtig, was wir aus unseren gottgegeben Möglichkeiten machen. Sehen sie: ich zum Beispiel habe in den letzten Jahren soviel an Erkenntnis gewonnen, dass ich als Abfalleimer ohne Probleme den nahezu perfekten Menschen darstellen könnte; wenn ich es nur wollte. Ich verfüge über das Wissen und die Intelligenz um alle positiven Eigenschaften der Menschen anzunehmen. Doch in meinem Inneren widerstrebt sich alles dagegen, etwas darstellen zu wollen, was ich nicht bin. Also geht es im Prinzip nur um den wahren Kern einer Person. Ich sage, man kann sich zwar anstrengen und versuchen besser zu sein, als man tatsächlich ist und man schafft es eventuell auch andere davon zu überzeugen, aber sich selbst wird man nicht davon überzeugen können. Und ich bin ehrlich gesagt lieber ein schlechter und dafür aber ehrlicher Mensch… Abfalleimer, als ein verlogener Wohltäter.
Blatt Papier: So wie sie das formulieren, klingt das, als ob alle netten Menschen nur nett sind, um anderen Menschen zu imponieren. Das würde bedeuten, dass keine gute Tat um ihrer selbst Willen, sondern ausschließlich zum Selbstzweck getan würde.
Abfalleimer: Genau das will ich damit sagen. Und das ist auch die verdammte Wahrheit. Nur keiner will es wahr haben. Weil es uns als schlecht darstellen würde. Aber mal angenommen alle würden so denken wie ich: müssten wir dann nicht unsere kompletten Wertvorstellungen neu bedenken und die Wörter „gut“ und „schlecht“ anders definieren?
Blatt Papier: Sie lenken vom Thema ab. Hier geht es nicht um Wertvorstellungen, sondern einzig und allein um das Gute im Menschen. Und es gibt, ob sie’s glauben oder nicht, tatsächlich Menschen denen das Gute im Herzen innewohnt und die es gar nicht nötig haben, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie gut sind. Sie denken gar nicht darüber nach und handeln gut, weil ihnen der Sinn danach steht.
Abfalleimer: (zynisch) Das ist ja mal wieder eine herrlich naive Ansicht: Der gute Mensch weis selbst gar nicht, dass er gut ist, weil er vor lauter guter Taten gar keine Zeit hat darüber nachzudenken.
Blatt Papier: Der gute Mensch handelt aus Liebe.
Abfalleimer: Aus Liebe?! Ich erzähl ihnen etwas über die Liebe. Sie ist es doch, die den Menschen immer wieder in die Verdammnis stürzt und einen Narr aus ihm Macht. Denn allein in der Liebe liegt jeglicher Hass tief verborgen. Und allein die Liebe ist es, welche dem Hass letztendlich den Weg ebnet und ihn zu uns ans Tageslicht bringt auf dass er uns alle entzweit.
Blatt Papier: Sehen sie: und aufgrund solcher Ansichten sind sie nur der Abfalleimer und ich immerhin das Blatt Papier. Ich übermittele Kunst und Wissen. Sie sind doch nur der, den alle immer voll stopfen, voll stopfen mit ihren ganzen schlechten Gedanken und Ideen. Wahrscheinlich haben sie sich deswegen eine so kranke Meinung gebildet.
Moderator: Sie sehen sich also als schöpfende und ihn als zerstörende Kraft?
Plötzlich fällt ein gleißendes Licht, gleich einem Schein, von oben auf die Anwesenden.
Stimme: (drohend) Ihr alle werdet letztendlich alle nur Opfer eurer selbst sein! Denn ich bin die einzige wirkende Kraft und ich allein bestimme über Schöpfung und Zerstörung!
Begleitet von orchestraler, pompöser Musik kommt aus dem gleißenden Licht eine langsam deutlicher zu erkennende Person herunter „geschwebt“. Es ist ein älterer Arzt mit langem, weißen Bart. Er ist ganz in weiß gekleidet.
Arzt: Guten Abend meine Herren. Werte Gäste.
Es kommt zu einem Tumult. Überall werden Türen aufgestoßen und viele wichtige Personen, alle in schwarzen Anzügen und Mänteln gekleidet, laufen in das Studio. Sie bewegen sich auf den Arzt zu und bleiben schließlich in einem Halbkreis vor ihm stehen. Nachfolgend machen sie sich dauernd Notizen.
Arzt: (zu den wichtigen Personen) Guten Abend die Herren. Willkommen in meiner Heilanstalt.
Moderator: Heilanstalt?
Arzt: Ganz recht. Sie alle befinden sich momentan, ohne es bisher gewusst oder auch nur geahnt zu haben, in der modernsten Heilanstalt unseres Landes. Dieses Gebäude, das allein einem einzigen Zwecke dienlich ist – den ich ihnen selbstverständlich gleich noch detaillierter erklären werde – stellt die größte Errungenschaft im Bereich der Medizin, im Speziellen der Psychologie, dar.
Getuschel. Nachfolgend stehen immer unterschiedliche Gäste aus dem Publikum auf und stellen Fragen.
Gast: Was soll das bedeuten? Wir alle sind doch eben noch Zeuge einer Talkshow geworden?!
Arzt: Ganz recht, das sind sie. Zumindest scheinbar. Sie sind eigentlich Zeuge eines Forschungsprogramms geworden, das es so in der Form noch nie gegeben hat. Wir haben heute hier eindeutig geisteskranke Menschen versammelt. Sie glauben, sie wären ein Abfalleimer und ein Blatt Papier. Wir schaffen ihnen ein Umfeld, wo sie sich vollkommen frei zu einem sorgfältig gewählten Thema äußern können und zudem im Mittelpunkt stehen. Dabei beobachten wir sie.
Gast: Warum müssen sie im Mittelpunkt stehen? Und was sollte dieser dramatische Auftritt vorhin?
Arzt: Im Mittelpunkt zu stehen, gibt ihnen das Gefühl, dass alles, was sie sagen richtig ist. Der Auftritt war Teil des Versuchs. Es war uns wichtig, die Wissenschaft in dem Augenblick als eine Art über alles erhabenen Deus Ex Machina darzustellen, denn dazu sind wir allemal...
Gast: (fällt ihm ins Wort) Aber ist es unrecht, Menschen ohne ihr Einverständnis und auf diese heimtückische Weise zu beobachten?
Arzt: Nein! Denn wir alle streben doch einzig nach Erkenntnis und auf dem Weg zur Erkenntnis müssen immer wieder ...
Gast: (fällt ihm erregt ins Wort) Was soll diese Metapher vom „Weg der Erkenntnis“? Was ist mit Ethik und Moral? Fühlen sie sich moralische etwa nicht schuldig?
Arzt: Nein! Warum auch? Damit haben wir uns bereits lange genug beschäftigt, ohne jemals zu einem Ergebnis zu kommen.
Gast: Aber wie können sie so etwas behaupten? Es ist doch der Mensch, der irgendwann selbst zu diesem Ergebnis kommt. Darum ging es doch eben in ihrem Versuch: „Der bessere Mensch“.
Arzt: Nein! Darum ging es nicht.
Eine der wichtigen Personen: (nach einer kurzen Pause) Aber worum ging es dann?
Blatt Papier und Abfalleimer: Das werden wir ihnen sagen.
Der Abfalleimer und das Blatt Papier stehen auf. Alle schauen sich verwundert nach ihnen um.
Gast: Was ist denn nun schon wieder los?
Abfalleimer: Sie wurden alle betrogen.
Blatt Papier: Nicht er ist der Arzt, der beobachtet. Wir sind die Ärzte, die beobachten.
Abfalleimer: Wir haben diese absolut gegensätzlichen Figuren erschaffen, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Dabei ging es uns nicht etwa darum, wirklich eine Problemdiskussion dieses Ausmaßes zu starten; schon allein der Versuch dazu würde von vornherein zum scheitern verurteilt sein. Nein, wir wollten sie alle zum eigenen Denken anregen, denken darüber was mit uns passiert, wenn wir die Grenzen zu sehr verschieben. Letztendlich sind wir beide derselben Meinung: nämlich meiner.
Blatt Papier: Genau. Deswegen hatte er nämlich auch die besseren Argumente vorgebracht, falls ihnen das aufgefallen sein sollte.
Gast: Wieso der Einschub mit diesem kranken, offensichtlich inkompetenten und absolut lächerlichem „Arzt“?
Blatt Papier: Ein Ablenkungsmanöver.
Gast: Wofür?
Blatt Papier: Um ihre Reaktion abzuwarten.
Gast: Und zu welcher Erkenntnis sind sie nun gekommen?
Abfalleimer: Das meine Damen und Herren werde ich ihnen sagen: Sie! Sie alle ... sind alle viel zu gutmütig für diese Welt. Sie predigen Ethik in einem nicht mehr zu tolerierendem Maße. Es ist uns leider unmöglich, sie jemals wieder gehen zu lassen.
Gast: Und was gedenken sie zu tun um uns hier zu behalten? Wollen sie uns alle für geisteskrank erklären?
Blatt Papier: Ganz richtig, werter Herr! Wir haben die Befugnis dazu und werden sie nun auf der Stelle alle für geisteskrank erklären. (zu den wichtigen Personen) Weist sie alle ein.
Die wichtigen Personen stürmen die Tribüne. Unter allgemeinem Entsetzen und Schrecken fällt der Vorhang.
Ende.